Liebe Freunde,
ich komme aus Mitteleuropa zu Ihnen, genauer: aus Wien, der Hauptstadt Österreichs. Wien ist die fünftgrößte und am schnellsten wachsende Stadt der EU, und zwar wegen der Einwanderung aus Osteuropa: aus Ex-Jugoslawien, aus Ungarn, aus der Ukraine. Die Demographen schätzen, dass Wien nächstes Jahr Paris an Zahl der Einwohner:innen überholen wird. Bratislava, die Hauptstadt der Slowakei, liegt eine Autostunde entfernt, und Budapest, die Hauptstadt Ungarns – das Reich Orbans – etwas mehr als zwei Stunden. Es sind zwei der EU-Staaten, die bereits in die Hände von rechtsradikalen Regierungen gefallen sind, vielleicht haben Sie davon gehört.
Vor drei Tagen hatte ich eine Debatte hier in der Nähe, in Amsterdam, gemeinsam mit dem von seiner Kulturministerin entlassenen Generaldirektor des slowakischen Nationaltheaters, Matej Drlicka. Die Begründung der Kulturministerin – einer ehemaligen Fernsehmoderatorin, die wegen genderfeindlichen Äußerungen von ihrem Sender entlassen worden war – war: das Programm seines Theaters sei zu „aktivistisch“ und zu wenig „national“ – sprich: zu aktuell und zu global. Die slowakische Kunstbranche hat seither einen Warnstreik ausgerufen, und bis jetzt haben sich Hunderttausende von Bürger:innen und an die 300 Institutionen angeschlossen. Als ich – das war Mitte August – von seiner Entlassung erfuhr, habe ich Matej angerufen. Er bat mich, einen offenen Brief zu schreiben an den slowakischen Premierminister Fico, was wir – ich und 2.000 Kulturschaffende aus ganz Europa – auch getan haben. Darin schrieben wir: „Wo man beginnt, die Arbeit von Expert:innen mit der Messlatte politischer Willfährigkeit zu messen – und wo diese fehlt, von ‚Aktivismus‘ zu sprechen – endet die demokratische Gesellschaft und mit ihr die Kunstfreiheit.“
Was Österreich angeht: Hier steht der Wahlsieg der rechtsradikalen FPÖ bevor, der Wahltermin ist der 29. September. Bei der zu erwartenden Koalition mit der ÖVP, der konservativen Volkspartei, wird eine absolute Mehrheit von 60 Prozent erwartet. Zusammen mit Elfriede Jelinek – wir arbeiten gerade an einem gemeinsamen Theater-Projekt – habe ich deshalb vor zwei Wochen einen Appell gegen diese Partei veröffentlicht, die – das sagt wohl alles – unter dem Goebbels-Zitat „Festung Österreich“ Wahlkampf betreibt. Die „zwei Geschlechter“ sollen per Verfassung festgeschrieben werden, „Remigration“ radikal durchgeführt und überhaupt eine Zweiklassengesellschaft hergestellt werden. Im Falle eines Wahlsiegs will sich die FPÖ „die volle Verfügungsgewalt über die drei wesentlichen Elemente – Regierung, Raum und Volk – verschaffen.“ Im Bereich der Kulturpolitik will die FPÖ verfahren wie ihre Vorbilder Ungarn und Slowakei: eine Kürzung der Subventionen für „woke Events“, konkret den European Song Contest und die Wiener Festwochen.
Die einfache Frage, die sich stellt, ist: Wie können wir widerstehen? Vielleicht haben einige meine Bücher gelesen – zuletzt zum Beispiel Theatre is Democracy in Small oder Die Rückeroberung der Zukunft. Dort fragte ich danach, wie man als Künstler eine Kunst des Widerstands erschaffen kann, was ihre Formen sind, was ihre Schönheit und was ihr Schrecken. Heute will ich fragen, was wir gemeinsam, als Feld tun können, als großer Verbund der Theatermacher: strukturell. Ich werde deshalb über Geld, Politik, generationelle Verschiebungen und Geschichte sprechen, und fast ausschließlich aus meiner, also der europäischen Perspektive. Ich entschuldige mich, falls es etwas theoretisch werden sollte.
Die Zweite Wiederkunft. Oder: Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.
Diese Rede ist Teil einer Debatten-Tour, die Resistance Now!-Tour heißt. Nach der Veröffentlichung der beiden Offenen Briefe, von denen ich Ihnen erzählte – einer für das Slowakische Nationaltheater, der andere gegen die FPÖ – spürte ich das Bedürfnis, mich mit anderen Künstler:innen zu verbinden. Also konkret zu erfahren, mit welchen Angriffen sie zu kämpfen haben. Denn die Hilflosigkeit von uns allen hat mit genau einer Sache zu tun: dass wir unsere Kämpfe nicht verbinden, dass wir sie jeder für uns kämpfen, in heroischer Einsamkeit gewissermaßen. Wir brauchen aber, simpel gesagt, eine Internationale der Kämpfe. Das Thema dieses Weltkongresses lautet Embrace and Connect, und das ist genau das, wozu ich hier aufrufe: Wir brauchen, um den nationalen Realismus zu bekämpfen, einen internationalen Realismus.
Wie wir alle wissen, heißt über Kunst sprechen, über Geld zu sprechen. Ich erinnere mich, dass wir 2019 – das war, bevor ich nach Wien wechselte und noch Künstlerischer Leiter des NTGent war, etwa eine Autostunde von hier, so nah wie Bratislava von Wien – demonstrierten gegen die Budget-Kürzungen der flämischen Regierung, die damals (und übrigens immer noch) von der ebenfalls konservativen NVA bestimmt wurde. Der Streik, begleitet von zahlreichen Appellen, zeigte keine Wirkung. Als wir während Covid unser künstlerisches Programm für die nächsten fünf Jahre schrieben, taten wir das im Rahmen eines bereits gekürzten Kulturbudgets. Der Prozess der Subventionsvergabe glich, metaphorisch gesprochen, einer Essensverteilung nach einer Naturkatastrophe: Jede Institution, jede freie Company wurde in eine Gruppe eingeteilt, der wiederum ein viel zu kleiner Betrag zur Verfügung stand.
Standesgemäß im Fiaker. Die Freie Republik Wien in der österreichischen Hauptstadt
Foto: Franzi Kreis
First come, first serve: In altbekannter neoliberaler Manier wurde das eigentliche Problem – nämlich eine viel zu geringe Fördermenge – in einen Konkurrenzkonflikt übersetzt. Während wir sprechen, findet in den Niederlanden ein ähnlicher Prozess statt. Wie Sie alle wissen, sind Kürzungen in der Kultur nichts anderes als der Beginn ihrer Zensur. Ich erinnere mich an die 80er Jahre, als die neoliberale Doktrin aufkam: Damals schien die Zusammenlegung von kulturellen Akteuren eine gute Idee. In Deutschland zum Beispiel wurden Mehrspartenhäuser gegründet, ein Prozess, der sich nach der Wende beschleunigte. Nach einiger Zeit jedoch zeigte sich eine Grenze: Weitere Verschlankung der künstlerischen Institutionen führte zu einer Zerstörung der Kunst selbst – ihrer grundsätzlichen Möglichkeit zum Experimentieren und zum Scheitern.
Ab den Nullerjahren wurden deshalb viele globale Strukturen aufgebaut oder wieder aufgebaut. Ein internationales Touring-Netzwerk entstand, eine lebendige freie Szene, das, was der leider verstorbene Hans-This Lehmann das „Postdramatische Theater“ nannte: ein Theater, das dem Experiment verpflichtet war, dem internationalen Austausch, der Suche nach einer globalen Form – eine Art Zweite Moderne, dessen Kind ich selbst und mein sogenannter „globaler Realismus“ sind. Als der Neoliberalismus gegen Ende der 10er Jahre, kurz vor Covid, erneut sein Haupt erhob, dachte ich: Warum? Es hat doch schon einmal nicht funktioniert? Bei den flämischen Budgetkürzungen, von denen ich sprach, wurde eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben, die in allen Sektoren das Verhältnis von Investition und Ertrag untersuchte – der Kultursektor stand mit acht Euro Gewinn bei einem Euro Investition an der Spitze. Und ich muss Ihnen wohl nicht sagen, was mit einem Euro geschieht, den man in die Armee investiert.
Als also die Budgetkürzungen wiederkamen, verstand ich: Diesmal ging es nicht um Geld, sondern um Politik. Es ging um die Verwandlung der Gesellschaft, um das Zerbrechen von Beziehungen – zwischen der unabhängigen Szene und den großen Häusern, zwischen den Genres, den Kontinenten, den Milieus – die wir gerade mühsam aufgebaut hatten. Letzte Woche machte die Resistance Now!-Tour Halt in Stockholm, der Hauptstadt Schwedens: Gerade war der wichtigsten unabhängigen Kompanie des Landes, „Konträr“, die Förderung entzogen worden. Wie in Flandern vor ein paar Jahren oder aktuell in den Niederlanden verschwendete niemand auch nur einen Gedanken daran, es könne dabei tatsächlich um Budgeteinsparungen gehen. „Die wollen, dass wir verschwinden“, sagte mir Freja Hallberg, die Leiterin. Denn wie gesagt ist die Kultur in Europa der produktivste Sektor überhaupt.
Kurz gesagt, wir befinden uns in einem Zeitalter, das mit gewissen liberalen Illusionen abschließt – oder in dem sie einfach, wie das unabhängige Theater, verschwinden. Im Osten Europas ist der sogenannte Kahlschlag fast vollendet, hier im Westen herrscht die übliche atlantische Verspätung, aber bis zum Ende des Jahrzehnts wird auch hier die Arbeit getan sein von der NVA in Belgien, der „Partei der Freiheit“ in den Niederlanden und wie sie alle heißen. Mein ungarischer Freund Kornel Mundruzco hat im vergangenen Frühjahr das letzte Stück seiner Theater-Kompanie – Parallax – in Wien inszeniert, weil es in Budapest nicht mehr möglich war. Präsident Orban hat seine Arbeit nicht verboten wie in den Tagen des Kommunismus – es wurden ihr einfach alle finanziellen Unterstützungen entzogen. Wir leben in einer Zeit, in der wir eine Idee nicht bekämpfen, indem wir sie kritisieren, sondern indem wir ihr finanziell den Boden entziehen.
Lua Casella und ich sind, wenn ich mich nicht irre, im gleichen Jahr geboren, und ich denke, die meisten hier Anwesenden gehören auch zu unserer, der sogenannten mittleren Generation, die man in der Soziologie die Generation X nennt: die „goldene Generation“ des Neoliberalismus. Um bei Europa zu bleiben: Die oft verspottete Generation der Boomer, die uns vorausging, brachte im Osten den Kommunismus zu Fall und erkämpfte im Westen die Bürgerrechte. Meine Mutter, 1950 geboren und damit ein typischer Boomer, konnte drei Jahre ihres Lebens nicht wählen, da das Frauenstimmrecht in meinem Heimatland, der Schweiz, erst 1971 eingeführt wurde. Die Legalisierung der Homosexualität, der Abtreibung usw. fand in den selben Jahren statt. Ich spreche hier also über sehr junge Ereignisse, die aber trotzdem für mich, der 1977 geboren wurde, quasi zur Naturgeschichte der liberalen Demokratie gehören.
Als ich in den späten 90er Jahren, mit Anfang 20 begann, in Deutschland, dann in Europa und später in der ganzen Welt Theater zu machen, schien sich Fukuyamas Theorie vom Ende der Geschichte zu bestätigen. Die liberale Demokratie, die soziale Marktwirtschaft und gewisse damit verknüpfte Ideale – etwa die Idee der transnationalen Zusammenarbeit, des freien Personenverkehrs, der Dekolonialisierung, überhaupt die Idee eines vielstimmigen Welttheaters, institutionalisiert auf großen Festivals und in eigens eingerichteten Studiengängen – triumphierten. Es war die Zeit, als wir alle damit begannen, in „Projekten“ zu denken: die Zukunft war offen, formbar. Form war alles, alles Politische war erledigt. Denn Politik roch nach Vergangenheit, kurz: Politik roch nach der Boomer-Generation, der Generation unserer Eltern. Ich würde sogar sagen: Politik roch damals in Europa im schlimmsten Fall nach Unfreiheit, im besten Fall nach Schule.
Etwas philosophischer könnte man sagen: Europa war in jenen Jahren, in denen die Revolutionen von 1989 noch nah waren, stolz darauf, die universelle Utopie der Aufklärung, die Idee Europas als des Kontinents der Demokratie und der Beteiligung aller endlich zu realisieren. Und was wirklich beeindruckend war: Europas Schuld als doppelter Täterkontinent – nämlich des Kolonialismus und des Holocaust – wurde in jenen Jahren ernsthaft bearbeitet, sowohl gesellschaftlich wie künstlerisch. Es waren, um Hegel zu zitieren, dialektische Jahre: Was man tat, kritisierte man zugleich auch – vor allem die Institutionen – und man machte nicht Theater, sondern Metatheater. Es wurden einige europäische idées fixes zu Grabe getragen: die Idee der Heiligkeit des Kanons, die Idee des künstlerischen Genies, die Idee des Exzesses, die Idee der Verbesserung der Welt durch die Kunst undsofort. Alles wurde dekonstruiert, der Text, der Autor, das Tragische, die Sprache, die Genres, die Dramatik. Es war ein herrlicher Prozess der Befreiung.
„Was mich persönlich angeht, hielt ich die ersten Anzeichen des neuen Nationalismus zuerst für Rückzugsgefechte einer ohnehin zum Tode verurteilten Vergangenheit: etwa so, wie ein betrunkener Gast, der aus dem Nachtklub geworfen wird, laut herumschreit und sich beklagt.“
Ich weiß nicht genau, wann all dies zu bröckeln begann. Aus Postdramatik wurde wieder Dramatik, die globale Kultur verwandelte sich unmerklich wieder in nationale Kulturen, angereichert mit einigen Prisen Exotismus. Sicherlich kennen Sie die Geschichte des Frosches, der in einem Kochtopf voller Wasser sitzt: Er merkt nicht, wie es heißer wird, weil die Temperatur ja immer nur Grad für Grad ansteigt. Was mich persönlich angeht, hielt ich die ersten Anzeichen des neuen Nationalismus zuerst für Rückzugsgefechte einer ohnehin zum Tode verurteilten Vergangenheit: etwa so, wie ein betrunkener Gast, der aus dem Nachtklub geworfen wird, laut herumschreit und sich beklagt.
Zudem war ich, wie ich gestehen muss, unterdessen einigermaßen erfolgreich, und deshalb geschützt in dem, was man „Bubble“ nennt: einem Netzwerk von Festivals und Produktionshäusern, in dem die aufklärerischen Werte, von denen ich gerade sprach, nicht nur bewahrt, sondern umso aggressiver verteidigt wurden, je mehr sie rund herum vernichtet wurden. Während die Rechte Homosexueller dekonstruiert und das Recht auf Abtreibung aus verschiedenen Verfassungen verschwand, während Tausende von Menschen an den Grenzen der „Festung Europa“ starben, machte ich aktivistisches Theater und dozierte in allen möglichen akademischen Safe Spaces über eine grenzenlose, diverse und herrschaftsfreie Kunst. Ich brauchte fast zehn Jahre, um zu verstehen, dass die Geschichte tatsächlich rückwärts lief. Und dass wir diesen Kampf vermutlich verlieren würden.
„Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“: Als Dante, geleitet von Vergil, zu Beginn der Divina Commedia die Unterwelt betritt, prangt über dem Tor dieser berühmte Leitspruch. Dante hatte, wie Sie wissen, diesen Horror-Trip zu den Zombies der Unterwelt nicht gebucht. Er hatte sich im Wald verirrt – und deshalb war jeder Weg ins Freie der richtige, auch wenn er ins Reich der Toten führte. Und so bitte ich auch Sie: Lassen Sie alle Hoffnungen fahren. Denn dieser Kampf, den wir führen, ist politisch, wie er politischer nicht sein könnte. Die Gläubigen hier wissen, was die Zweite Wiederkunft des Messias bedeutet: die Apokalypse, das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Und das Gleiche bedeutet die Zweite Wiederkunft des Neoliberalismus für die Kultur: Es geht nicht um ein Projekt mehr oder weniger, es geht um die Art und Weise, wie wir leben wollen.
König Ödipus. Oder: Wer die Vergangenheit erinnert, ist verdammt, sie zu wiederholen.
Da wir schon über Wälder sprechen: Sicher kennen Sie das Sprichwort, gemäß dem man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Gemeint damit ist die Tatsache, dass man, je besser und konkreter man ein Problem kennt, umso weniger zu seiner Lösung beitragen kann. Bei der erwähnten Debatte in Amsterdam vor ein paar Tagen war auch eine Politikwissenschaftlerin anwesend. Sie wies mich auf die Tatsache hin, dass ein Bündnis der rechten Parteien Europas, würde sie sich über die Frage zur Haltung zu Putin einig, über eine absolute Mehrheit im Europäischen Parlament verfügen würde. Aber aus der Geschichte und der geografischen Lage jedes einzelnen Landes sieht die russische Bedrohung anders aus. Für die deutsche, die österreichische oder die französische Rechte beispielsweise ist Russland ein Partner für die Verteidigung einer nationalistischen Politik gegen die EU. Für die baltischen Staaten oder die Ukraine hinwiederum, was man nicht weiter erklären muss, ist Russland der logische Feind ihrer nationalen Unabhängigkeit.
Wenn die Uneinigkeit der Feinde der Demokratie gut ist, ist die Uneinigkeit ihrer Freunde ein Problem. Ich muss Sie wohl nicht an die abertausend Fraktionskämpfe erinnern, die jede Debatte liberaler Künstler:innen beherrschen, etwa zwischen der identitären Linken, die aus der Bürgerrechtsbewegung kommt, und der klassisch marxistischen Linken, die sich der Verteilungsgerechtigkeit verschrieben hat – und Sprach- und Institutionskritik, wie wir sie hier betreiben, bloß für eine elitäre Spielerei hält. Aber es ist ein anderer Konflikt, der aktuell die europäische liberale Linke spaltet: der Konflikt zwischen zwei konkurrierenden Tätertraumata, dem Holocaust und den kolonialen Verbrechen.
Ich fahre ständig zwischen Belgien, den Niederlanden und Frankreich auf der einen Seite, Deutschland und Österreich auf der anderen Seite hin und her. Deutschland und Österreich – die Länder, die den Genozid an den Juden durchgeführt haben – sind zu Recht tief von ihrer Schuld geprägt bis in jede künstlerische Debatte hinein. Sobald ich aber nach Frankreich, Belgien oder die Niederlande komme, drängt sich das Trauma der kolonialen Vergangenheit in den Vordergrund, die Millionen Toten etwa im ehemaligen Belgisch-Kongo, in Indonesien oder in Französisch-Nordafrika.
Daher wird der Israel-Palästina-Krieg in Westeuropa vor allem als Besatzungskonflikt gelesen, als finales, genozidäres Kapitel einer jahrzehntelangen Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung und überhaupt der indigenen Völker in der ganzen Welt.
„Wer die Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
Vor einigen Tagen war ich auf der Gala der Niederländischen Theaterpreise, und in jeder zweiten Rede wurde der Krieg in Gaza als das verurteilt, was er gemäß der Meinung der UNO ist: ein Genozid. In Österreich und Deutschland dagegen ist der Begriff „Genozid“ dem Holocaust vorbehalten und gilt im Hinblick auf Gaza als antisemitische Propaganda, ja: das Wort ist gesetzlich verboten. Als ich die Französin Annie Ernaux und den Griechen Yanis Varoufakis, beides Kritiker der Politik Israels, in den Rat der Republik einlud, ein intellektuelles Beratungsgremium des Vienna Festival, wurden beide und auch ich in deutschsprachigen Medien als Antisemiten bezeichnet. Die Gala der niederländischen Theaterpreise wäre in Deutschland von der Polizei geschlossen worden.
Und damit komme ich zu dem Motto dieses Abschnitts meiner Keynote, die offensichtlich die Umkehrung jenes Zitats des Philosophen Santayana ist, die wir alle in der Schule lernen: „Wer die Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Ich glaube, das Gegenteil ist wahr: Indem jede Familie auf ihre eigene Vergangenheit, auf ihre eigenen Verbrechen (oder ihr eigenes Leid) starrt, wird sie nicht nur, wie Tolstoi in Anna Karenina so schön gesagt hat, auf ihre eigene Weise unglücklich. Wie in der griechischen Tragödie, etwa der Ödipus-Geschichte, verhindert die Fixierung auf vergangenes Unrecht, die Gegenwart als das zu sehen, was sie ist: eine Tragödie eigenen Ausmaßes.
So wie König Ödipus die Pest in Theben dadurch auslöst, dass er die Deutungshoheit über seine Vergangenheit nicht abgeben will, decken die deutschsprachigen Länder die militärischen Gräuel im Gaza-Streifen tragischerweise gerade aufgrund ihrer Verantwortung für vergangene Schuld. Auf der anderen Seite wird die nötige Solidarität mit den demokratischen Kräften in Israel durch die manichäische Sicht auf den Konflikt als rein kolonialer Krieg verhindert, in der die palästinensische Seite – und im Extremfall sogar die Massenmörder der Hamas – immer recht haben.
Doch es gibt, neben dem zyklischen Modell in der klassischen Tragödie, bei dem sich Gewalt immer neu wiederholt, auch eine andere Ursprungserzählung, die aus dem Theater kommt. Es ist die von Aischylos‘ Persern, die eine Ästhetik des fragilen Mitleids mit den Feinden entwickelt. Die Perser spielt am Persischen Königshof, direkt nach dem Untergang der Flotte des Großkönigs Xerxes in Salamis. Ein Dichter, der selbst gegen die Perser gekämpft hat – die den klaren Plan verfolgten, die griechischen Städte auszulöschen – schreibt ein Stück aus deren Sicht: Sind wir heute zu einer solchen Dialektik noch fähig? Vermutlich nicht, aber wir haben keine andere Wahl.
Denn wo die Politik versagt, wo sie hinter nationalen Diskursgewinnen herjagt, kann nur die Kunst Abhilfe schaffen: ein Ort sein, an dem Einfühlung in den Anderen, aber auch in die eigenen blinden Stellen möglich wird. Ein Ort, an dem eine neue, tragische Dichtung mit all ihren Widersprüchen und moralischen Fallgruben entstehen kann. Ein Ort, an dem wir, trotz der vielen Bäume, versuchen, den Wald zu sehen. Ein Ort der internationalen Zusammenarbeit, des Austausches, ein Ort, an dem aus der neoliberalen Konkurrenz der Opfer- und Tätererzählungen so etwas wie eine globale Erzählung der Solidarität wird. Denn allein können wir unsere jeweils spezifische Blindheit nicht überwinden – nur gemeinsam.
„Kürzungen in der Kultur sind nichts anderes als der Beginn ihrer Zensur“, sagt Regisseur Milo Rau
Foto: Michela Di Savino
Kritik der Reinheit. Oder: Schlimmer als der sozialistische Realismus ist nur der sozialdemokratische Realismus
Das ist ein Satz, den ich jeweils sage, wenn die Stimmung zu gut wird in Meetings wie diesem: Schlimmer als der sozialistische Realismus ist nur der sozialdemokratische Realismus. Was ich damit meine, ist natürlich nicht die Sozialdemokratie als Partei, sondern jener Diskurs – den auch ich hier führe – der den Ungeist des Systems überall hinnimmt, außer in die Kunst. Oder konkreter: Der safe space des Theaters, in dem Toleranz und Selbstbefreiung herrscht, ist nur die Kehrseite (oder die Wahrheit) eines globalen Systems der Unterwerfung und der Ausbeutung. Und wo der sozialistische Realismus, so ästhetisch flach er war, immerhin noch an der Utopie einer anderen Welt arbeitete, gibt sich der sozialdemokratische mit dem zufrieden, was üblicherweise „Engagement“ genannt wird: dem ästhetischen oder diskursiven Placebo realer Praxis, realer Veränderung. Mit der Revolution als Studienfach oder performativem Genre.
Damit Sie mich richtig verstehen: Ich halte den sozialdemokratisch upgedateten Liberalismus politisch für einen völlig vertretbaren Weg, mit der Gier, der Geschichtsvergessenheit und der seelischen Beschränktheit des Menschen fertig zu werden. Aber in der Kunst, im Theater sind es eben gerade der Antagonismus, die Hilflosigkeit, die Sanftheit, aber auch Boshaftigkeit des Menschen, der menschlichen Beziehungen, die jeden Anflug moralischer Selbstsicherheit immer wieder zerstören müssen. Im Theater, das ich meine, darf es keine „Brandmauer“ der Demokratie geben, im Theater muss auch der Faschismus, die Verworfenheit, die Dummheit – alles muss seinen Platz bekommen. Oder mit anderen Worten: Das Grenzenlose, das Globale in unserer Arbeit suchend, sollten wir keinen Hehl aus den Grenzen machen, die uns der geschichtliche Moment, unsere Herkunft, unser Wesen und schließlich unser Körper setzen.
Denn warum würden wir hier zusammensitzen, wären wir nicht alle, für uns allein, unvollständig und schutzlos. Und wenn wir ehrlich sind: einige der aufklärerischen Mythen der moralischen Reinheit und der Treue zu erlittenem Unrecht sind den rechten Mythen, die ich nationalistisch genannt habe, nicht ganz ungleich. Ich will hier deshalb jedem Purismus, jedem Engagement, das Kontrolle meint, den Kampf ansagen. Denn damit Sie meinen Begriff des Nationalen richtig verstehen, die negative Definion des Kanons, mit der meine Generation nunmal aufgewachsen ist: Ich habe nichts gegen Volkskultur und Hochkultur, nichts gegen Blasmusik oder Mozart. Nächstes Jahr werde ich die Wiener Festwochen unter anderem gemeinsam mit einer Blasmusik und den Wiener Sängerknaben eröffnen – nur werden sie zusammen mit kongolesischen Opernsängern, Gianna Nanini, Pussy Riot und Laurie Anderson auftreten. Einige hundert Meter von hier, an der Flämischen Oper, habe ich vergangene Saison „La Clemenza di Tito“ von Mozart inszeniert – gemeinsam mit wunderbaren Sänger:innen, aber auch mit Menschen, die wir aus der Stadt gecastet haben: Flamen, Südamerikaner, Afrikaner, Menschen aus dem Nahen Osten. Denn Antwerpen mag rechts regiert sein, in Wirklichkeit ist es eine diverse Stadt.
„Das ist die politische Kunst, die ich meine: Verlassen wir uns nicht auf unsere Moral, auf unser Engagement, auf unsere Perspektive, unsere eigene Geschichte – bleiben wir misstrauisch.“
Ich freue mich deshalb, dass meine Freundin Lua vor mir gesprochen hat, dass sie ein Lob der Unreinheit angestimmt hat. Es gibt keinen Redner, keine Rednerposition, auf die man sich verlassen kann, auf die man sich verlassen sollte. Ich erinnere mich, wie ich die erste Show von Lua sah: Short of Lying – und mir war sofort klar, dass diese Künstlerin am NTGent arbeiten musste. Fast gleichzeitig, das war im Jahr 2017, veranstaltete ich in Berlin an der Schaubühne einen sogenannten Weltkongress: ähnlich wie hier verhandelten wir, gemeinsam mit 100 Abgeordneten aus der ganzen Welt, über die möglichen Themen und Grenzen einer Welt-Demokratie, also über die Überwindung der nationalen und damit neo-kolonialen Machtapparate. Als ein Abgeordneter aus der Türkei sich weigerte, den Genozid an den Armeniern als „Genozid“ anzuerkennen, wollten ihn die europäischen Abgeordneten aus dem Parlament werfen. Da erhob sich aber der Präsident unseres Weltparlaments, ein Politiker aus Namibia, und sagte: „Die Türkei ist die einzige Nation, die den deutschen Genozid an den Herero anerkennt. Wenn er gehen muss, gehe ich auch.“
Ich weiß nicht, wie Sie mit jener Situation umgegangen wären, sicherlich geschickter als ich. Aber genau das ist die politische Kunst, die ich meine: Verlassen wir uns nicht auf unsere Moral, auf unser Engagement, auf unsere Perspektive, unsere eigene Geschichte – bleiben wir misstrauisch. Wenn Sie mir also eine Korrektur von Dante erlauben: Ich denke, wir sollten nicht unsere Hoffnungen fahren lassen im Kampf gegen die Zombies aus der neo-nationalistischen Unterwelt, sondern bloß unsere Illusionen. Wie James Baldwin einmal sagte: „In unserer Zeit, wie in jeder Zeit, ist das Unmögliche das Mindeste, was man verlangen kann.“ Aber vergessen wir dabei nicht, dass wir alle unfertig sind, dass uns das Unmögliche genauso verführt wie ängstigt, dass wir alle einen Teil der Wahrheit haben, und niemand die ganze Wahrheit. Und wir deshalb, ich wiederhole es noch einmal, aufeinander angewiesen sind.
Lob der Schönheit. Oder: Widerstand hat keine Form, Widerstand ist die Form.
Jede klassische Tragödie hat vier Akte, auch wenn die meisten glauben, sie hätte fünf. Womit wir also zum letzten, vielleicht wichtigsten Punkt kommen, zum Deus ex Machina: zum Lob der Schönheit. Ich habe mich gerade über den sozialdemokratischen Realismus lustig gemacht. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Das ist kein Aufruf für den sozialistischen Realismus, für die Propaganda, für Agitprop und irgendeine gleichgeschaltete Volksfrontpolitik. Ich denke nämlich, wie ich ab und zu wiederhole, dass die Schönheit und der Skandal zwei Schwestern sind, die bei der Geburt getrennt wurden. Vor allem denke ich aber, anders als alle sozialistischen oder faschistischen Realisten, dass Widerstand keine Form hat, sondern eine Form ist. Lassen Sie mich erklären.
Wie Sie vielleicht wissen, werden meine Stücke regelmäßig gerichtlich oder per Kampagne verfolgt – und das in ganz unterschiedlichen Ländern wie der Schweiz, Deutschland, Taiwan, den USA, Brasilien, Russland oder Belgien. Die Argumente sind immer politisch: die Gefühle dieser oder jener Bevölkerungsanteile würden verletzt, seien es die orthodoxen Gläubigen in Russland oder die Katholiken in Frankreich oder Brasilien – wobei diese weder involviert oder auch nur informiert werden. In Paris etwa lancierte ein rechts-katholischer Minister eine Petition gegen eine meiner Aufführungen, ein poetisches Kinderstück zum Thema Missbrauch, Five Easy Pieces. 10.000 „beunruhigte Katholik:innen“ unterschrieben den Brief, der in einigen Medien erschien. Am Abend der Premiere gab es einen Aufmarsch vor dem Theater, es wurden Farbbeutel geschmissen, das Publikum kam kaum in den Saal.
Die Aufführung entkräftete jedoch alle Vorwürfe: die Poesie, der Humor, die Freiheit der Kinderdarsteller:innen ließ alle Projektionen zerfließen, so wie Schnee in der Sonne zerfließt. Ähnlich erging es den orthodoxen Putin-treuen Kosaken, die die Moskauer Prozesse in Moskau stürmten: Sie wollten uns verprügeln, setzten sich dann aber verwirrt in die Zuschauer:innen-Reihen, als sie auf der Bühne ihre Lieblings-Priester und ihren Lieblings-TV-Moderator mit Dissident:innen debattieren sahen. „Es war“, sagte mir der Leiter des Sacharow-Zentrums später, das unterdessen geschlossen wurde, „wie in einem surrealen Wachtraum. Nur dass es real war.“
Was ich damit sagen will: Theater „muss“ nicht politisch sein, politisch ist es sowieso. Theater muss surreal, verrückt, halluzinatorisch, unerträglich widersprüchlich sein. Manchmal – wie aktuell in der Slowakei – muss Kunst zur Waffe werden, die die eigene Freiheit verteidigt. Der Appell von Elfriede Jelinek und mir, der sich gegen das nationalistische, kunstfeindliche Wahlprogramm der FPÖ richtet, ist ein zivilgesellschaftlicher Hilfeschrei. Denn die Kunst muss frei, sprich: komplex bleiben – divers und unangenehm, strahlend und verwirrend wie die Wirklichkeit selbst. Blasmusik und queere Performances, Tschechow und Storytelling, Rituale, AI, das alles ist Theater. Denn Theater hat, wie alle Kunst, nie eine klare „Aussage“, es ist immer vieldeutig. Theater ist deshalb immer unzuverlässig: es ist eine Institution, die gegen alle anderen Institutionen errichtet wurde – gegen die Idee einer Institution selbst – und zugleich beabsichtigt, die ideale, die demokratischste Institution zu werden.
Weshalb das politische Theater, das ich meine, gerade dadurch klare Kante zeigt, indem es sich zwischen alle Fronten begibt und grundlegende Fragen zu unserem Zusammenleben, unseren Glaubenssätzen, zur Darstellung der Welt stellt. Es ist ein Statement, im heutigen Moskau zu inszenieren – ein anderes ist es, das in Israel oder Palästina, in Italien, Brasilien, Ungarn, der Demokratischen Republik Kongo oder in Österreich zu tun. Es ist zutiefst politisch, als Mensch auf eine Bühne zu treten. Denn es gibt immer eine politische oder gesellschaftliche Situation, auf die man reagiert, allein schon durch die Zuschauer:innen, die ihre eigenen Ansichten, Hoffnungen, Traumata auf die Bühne projizieren. Ich erinnere mich an eine Podiumsdiskussion vor einigen Jahren in Paris: Ich kritisierte das öde europäische Klassiker-Karaoke, das ewige, kunstgewerblich aktualisierte Abspielen des immer gleichen Kanons.
Eine Künstlerin aus dem Iran unterbrach mich und sagte: „Tschechow in Teheran zu spielen ist eine Revolution, es bedeutet Freiheit! Nichts gegen Tschechow, bitte!“ Und sie hatte recht. Denn wie wir, jeder in der eigenen Blindheit gefangen, immer wieder vergessen: Widerstand hat keine Form, Widerstand ist die Form – und die sieht überall anders aus. Als wir vor ein paar Tagen in Amsterdam über den Aufstieg der radikalen Rechten sprachen, hob einer der Zuschauer die Hand auf. Er stellte sich als Slowake vor, und stellte an Matej Drlicka – den entlassenen Direktor des slowakischen Nationaltheaters, Sie erinnern sich – eine Frage: „Waren wir zu sanft? Haben wir deshalb den Kampf verloren gegen die radikale Rechte?“ Matej dachte einen Moment nach und sagte schließlich: „Es ist nichts Schlechtes, sanft zu sein. Wir müssen unsere Sanftheit verteidigen. Und am Ende werden wir die Rechten besiegen – mit der Kraft der Liebe.“
Ich danke Ihnen für die Arbeit, die Sie alle hier tun. Ich danke Ihnen für Ihre Großzügigkeit, mich hier sprechen lassen und für die Geduld, mit der Sie meine Rede ertragen haben. Und ich gratuliere Ihnen zum großartigen Thema des diesjährigen Kongresses, das mir wichtiger als je scheint: „Embrace and connect.“