Milan Babić im Gespräch: „Der Neoliberalismus wird ohne Rest durch zwei teilbar durch irgendetwas Neues ersetzt“

Zwar kommen die Regierungschefs der sieben großen Industrienationen dieser Tage zum G7-Gipfel in Kanada zusammen, doch die Erwartungen sind niedrig: Eine Einigung im Zollstreit wird es beispielsweise wohl nicht geben. Noch vor wenigen Tagen hatte US-Präsident Donald Trump im Weißen Haus angekündigt, seine Zölle „in naher Zukunft“ möglicherweise sogar zu erhöhen.

Kollabiert gerade vor unseren Augen die neoliberale Weltordnung? Der Politologe Milan Babić sagt: ja. Er sieht eine neue Ära heraufziehen, die er in seinem gleichnamigen Buch als Geoökonomie bezeichnet. In dieser werde die Wirtschaft wieder zur Waffe. Heute werde nicht mehr mit Panzern, sondern mit Handelsverboten und Sanktionen gekämpft. Was heißt das für unsere Zukunft?

der Freitag: Herr Babić, Zölle werden erlassen, Grenzübertritte erschwert, die Nation und ihr Wille zur Wehrhaftigkeit kehren zurück. Was geht hier gerade zu Ende?

Milan Babić: Die neoliberale Globalisierung, die nach dem Kalten Krieg begann. Während dieser Periode ist die Welt zusammengewachsen, nicht in allen Belangen, aber die Beziehungen zu anderen Ländern wurden unmittelbarer als zuvor, soziale Medien und Billigflüge haben die Welt vernetzt. Lieferketten wurden globalisiert, Wirtschaftspolitik international verrechtlicht und zunehmend in die Hände von Experten gelegt – was sie dem demokratischen Prozess der jeweiligen Länder entzog.

Viele trauern dieser Dekade freier Märkte und friedlicher Kooperation nach. War die Globalisierung wirklich so frei und friedlich für alle?

Die Realität war viel unfreier und konfliktreicher als die Erzählung verspricht. Die entdemokratisierte und deregulierten Weltwirtschaft unter US-Dominanz hat schließlich auch beträchtliche Probleme hervorgebracht. Etwa Menschenrechtsverstöße durch die USA im „Krieg gegen den Terrorismus“ und Irakkrieg, die globale Finanzkrise und der rechtspopulistische Backlash seit den 2010ern. Deshalb finde ich die gängige Beschreibung als „liberale Ordnung“ auch unpassend. Denn: Für wen war diese Zeit liberal, also freiheitlich? Vor allem für die westliche Welt.

Sie schreiben, dass die Gegenwart bereits postneoliberal ist. Allerdings sparen die deutsche und US-amerikanische Regierung weiterhin fleißig am Staat, insbesondere beim Sozialen. Unternehmenssteuern hingegen werden gesenkt. Ist das nicht Neoliberalismus pur?

Das stimmt. Allerdings möchte ich den Blick darauf wenden, was sich gerade verändert, und das ist der Untergang der neoliberalen Globalisierung. Damit ist nicht von heute auf morgen alles anders, die Veränderung ist schrittweise und das Neue baut auf das Alte auf. Auch im Neoliberalismus gab es trotz des Imperativs freier Märkte noch keynesianische, also staatlich gesteuerte Wirtschaftspolitik und Tech-Oligopolisten wie Apple. Heute ist es wieder so: Trotz einiger Ungleichzeitigkeiten sehen wir deutliche Verschiebungen in der internationalen Politik, und die führen weg von der neoliberalen Globalisierung.

Wohin geht die Reise?

Während der neoliberalen Globalisierung galt: Tiefere globale Integration ist die Zukunft, die EU hat hier immer von einem „global level playing field“ gesprochen, also: Die Welt soll ein offener Raum mit gleichen Regeln für alle werden. Man ging davon aus, dass alle gleichermaßen profitieren würden. Seit einigen Jahren ändert sich das. Politikerinnen und Politiker sehen die Welt zunehmend als Bedrohung, globale Rivalitäten nehmen zu. In diesem Sinne ist auch zu verstehen, dass wieder ernsthaft zur Debatte steht, ob NATO-Mitglieder fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben sollten. Globale Integration weicht strategischer Selektivität. Diese neue Ordnung nenne ich Geoökonomie.

Die globale Wirtschaftsverflechtung stellt den handelnden Parteien heute ganz andere Machthebel zur Verfügung als den Akteuren des Kalten Krieges

Manche meinen nun, wir erleben einfach eine Rückkehr zum deglobalisierten Nationalstaat. Und mit ihm kehren auch zwischenstaatliche Konflikte und imperiale Gelüste zurück, sprich: Wir gehen zurück zur Geopolitik des Kalten Krieges. Wieso finden sie die Geopolitik-These nicht überzeugend? Was ist das Ökonomische der neuen Ordnung?

Es ist unmöglich, zum isolierten Nationalstaat zurückzukehren und alle Verbindungen zu kappen. Das ist auch nicht, was gerade passiert. Zwar werden einige Verbindungen gekappt, andere jedoch sogar verstärkt. Wir sehen eine selektive Vernetzung. Anders als in klassisch geopolitischen Zeiten werden Konflikte heute nicht zwangsläufig kriegerisch ausgetragen. Natürlich gibt es das auch, siehe Russland. Aber wenn wir uns die Spannungen zwischen China und den USA ansehen oder die Art und Weise, wie die EU gegen Russland vorgeht, dann sehen wir weniger Armeen und Kampfflugzeuge, sondern ökonomische Instrumente. Wenn Russland von der internationalen Zahlungsinfrastruktur SWIFT ausgeschlossen wird oder die EU durch staatliche Prüfungen chinesische Investitionen verhindern will, dann wird die globale Vernetzung aktiv als Konfliktinstrument genutzt. Kurzum: Die globale Wirtschaftsverflechtung stellt den handelnden Parteien heute ganz andere Machthebel zur Verfügung als den geopolitischen Akteuren des Kalten Krieges. Das macht die Geoökonomie aus.

Haben Sie ein Beispiel für selektive Vernetzung?

Russlands Krieg und Trumps Unberechenbarkeit führen dazu, dass die EU sich unabhängiger machen will – von russischem Gas ebenso wie von den USA. Deshalb wird nach alternativen Gasquellen oder Partnern gesucht. War der europäische Blick auf China in den 2010ern noch sehr kritisch, da erleben wir gerade ein wiederaufkeimendes Interesse, denn: im Kontrast mit den USA wirkt China wie ein Stabilitätsanker. Vor zehn Jahren wäre das undenkbar gewesen. Manche Verbindungen werden gelockert, andere dafür gestärkt.

Wie kommt es zu dieser Veränderung des internationalen Verhaltens?

Die Neoliberalisierung war seit Beginn fragil: Schließlich bedeuten die Öffnung heimischer Märkte für den globalen Wettbewerb und eine entdemokratisierte Wirtschaftspolitik für die Mehrheit der Menschen sinkende Löhne und Mitbestimmung, auch die verstärkte Arbeitsmigration lehnen viele ab. Das führte mit der Zeit zu einem kritischeren Blick auf globale Vernetzung. Der Rechtspopulismus hat diese Ablehnung aufgegriffen und wurde durch sie stark. Rechte Wahlerfolge und Politiken, wie Trumps Angriffe auf die WHO haben die Skepsis verstärkt. Es gibt nicht den einen Grund, sondern eher eine sich verstärkende geoökonomische Dynamik der internationalen Politik.

Bedeutet Geoökonomie, dass allen globalen Konflikten ökonomische Rivalitäten zugrunde liegen?

Ich denke nicht, dass man alles über die Ökonomie erklären kann. Wenn Putin sich die Ukraine und Trump sich Grönland einverleiben will, sind das neo-imperialistische Fantasien, die nicht allein wirtschaftlich zu erklären sind. Allerdings sind diese Fälle eher die Ausnahmen als die Regel. Investitionsprüfungen und Exportkontrollen sind viel gängigere Mittel gegenwärtiger globaler Politik.

Wir werfen langsam den neoliberalen Ballast ab. Aber eine linke und ökologische Vision fehlt mir gerade noch

Viele meinen, der Staat sei zurück. Sie argumentieren hingegen: Der Staat war nie weg, schließlich hat er in den letzten Jahrzehnten aktiv die globalisierten und deregulierten Märkte erschaffen. Was jedoch ihrer Meinung zurück ist, ist die Politik. Was heißt das?

In der internationalen Politik ist viel mehr Bewegung als noch vor ein paar Jahren. Die BRICS-Staaten unterlaufen das globale Regelwerk des Neoliberalismus und versuchen zumindest eine De-Dollarisierung einzuleiten, um alternative Zahlungssysteme zu etablieren. Jahrzehntelang waren die US-Vormachtstellung und der Dollar als Leitwährung fraglos. Oder die Schuldenbremse in Deutschland. All das steht nun wieder zur Debatte.

Im Neoliberalismus wurde Politik verdrängt, indem Wirtschaftsexperten statt der Bevölkerung entschieden, wo es lang geht. Man könnte nun argumentieren: Wo gestern noch die Märkte politische Notwendigkeiten diktierten, tut es heute die Idee der Wehrhaftigkeit. Ist die Politik also wirklich zurück, sprich: Hat die Bevölkerung wieder mehr Handlungsmacht, sodass auch andere Arten zusammenzuleben und zu wirtschaften möglich werden?

Politische Eliten versuchen gerade vehement, die Notwendigkeit von Aufrüstung und Resilienz durchzusetzen. Aber zeitgleich erstarken auch die Alternativen. 30.000 Leute sind unlängst zu einer Veranstaltung in Denver, Colorado aufgetaucht, um Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez Kritik am oligarchischen Autoritarismus zu hören. Ich sehe also durchaus eine Sehnsucht nach politischer Veränderung und politischen Figuren, die Möglichkeitsräume eröffnen, statt nur den Niedergang zu verwalten. Offen ist aber, wohin dieser Veränderungswille steuert.

Wo sehen Sie Ansatzpunkte, die globalen Verhältnisse zu demokratisieren?

Gegenwärtig sind wir mit vielen Krisen konfrontiert: Neben den geoökonomischen Spannungen spitzen sich die Klimakrise und der Rechtsruck zu. Das Gute ist: Wir werfen langsam den neoliberalen Ballast ab. Das eröffnet Denkhorizonte, um neue Antworten auf die Krise zu suchen. Aber eine linke und ökologische Vision fehlt mir gerade noch. Die faschistische Antwort ist klar: „Die Fremden sollen draußen bleiben, die inneren Feinde müssen weg. Wir gucken nur noch auf uns.“ Die Linke muss eine Alternative bieten. Etwa indem sie Reiche für die Klimaanpassung zur Kasse bittet und eine global solidarische Antwort auf Klimamigration findet.

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Milan Babic (geboren 1990) lebt und lehrt als Associate Professor für politische Ökonomie an der Universität Amsterdam zu internationaler Politik, der Macht globaler Konzerne und Dekabonisierung. Zuletzt ist von ihm Geoökonomie. Anatomie einer neuen Weltordnung (Suhrkamp 2025, 237 S., 20 €) erschienen, davor The Rise of State Capital. Transforming Markets and Internationale Politics (Columbia Unversity Press 2023, 173 S., 40 €).

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