Migrationspolitik: Sollen wir Flüchtlinge nachher Ruanda schicken?

DIE ZEIT: Herr Knaus, Sie waren kürzlich für eine Woche in Ruanda unterwegs, zeitweise mit einer CDU-Delegation um Jens Spahn. Nun fordern Sie, dass europäische Regierungen ein Migrationsabkommen mit dem afrikanischen Land schließen sollten. Warum?

Gerald Knaus: 2023 sind jede Woche 120 Menschen im zentralen Mittelmeer auf dem Weg nach Europa ertrunken. Seit 2017 kooperiert die EU mit Libyen, das Migranten vom Meer in schreckliche Lager zurückbringt. Eine Kooperation mit einem wirklich sicheren Drittstaat wäre eine humane Alternative zu diesem tödlichen Modell.

Marcus Engler: Ich sehe das vollkommen anders. Auch ich setze mich dafür ein, das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Nur teile ich ganz und gar nicht die Einschätzung, dass Deals mit Staaten wie Ruanda wirklich etwas verbessern würden.

ZEIT: Warum nicht?

Engler: Weil es bessere Lösungsansätze gibt. Wenn es uns wirklich darum geht, die Todesfälle im Mittelmeer schnell zu reduzieren, dann wäre mehr Seenotrettung ein Anfang.

Knaus: Sie haben recht: Seenotrettung zu behindern, ist ein moralischer Skandal. Wir brauchen Seenotrettung. Aber 2016, als diese noch nicht behindert wurde und noch europäische Schiffe eine Rekordzahl von Menschen retteten, gab es trotzdem fast 4.600 Tote im zentralen Mittelmeer, ebenfalls eine Rekordzahl. Wenn viele in Boote steigen, sterben auch viele – selbst wenn wir viele retten. Dieser Status quo ist tödlich.

Engler: Das kommt von Ihnen immer, Herr Knaus, dass Sie sagen: Der Status quo sei verheerend, deshalb gebe es keine Alternative zu solchen Abkommen. Dabei sind diese auch nur eine andere Form von Gewalt. Die Menschen werden ja nicht freiwillig nach Ruanda gehen. Sie kommen nach Europa, weil sie Schutz suchen, bei ihren Familienangehörigen sein wollen oder Arbeit suchen. Und die wollen Sie dann in ein Land wie Ruanda schicken, wohin sie niemals wollten? Das ist für mich nicht nur eine grausame Politik, sondern eine Politik, die scheitern wird, weil sie Aspirationen und Handlungsmöglichkeiten von Menschen ignoriert. Es gibt null Evidenz, dass das funktioniert.

Knaus: Doch, die gibt es. Im März 2016 einigte sich die EU mit der Türkei, ab einem Stichtag jene, die danach kommen würden, zurück in die Türkei bringen zu dürfen, dafür syrische Flüchtlinge aus der Türkei legal aufzunehmen und zudem Milliarden Euro Hilfe für syrische Flüchtlinge in der Türkei bereitzustellen. Die Zahl der Toten in der Ägäis ist sofort drastisch gefallen.

Engler: Herr Knaus, Sie sind stets gut darin, das EU-Türkei-Abkommen in gutem Licht erscheinen zu lassen. Aber Sie gehen mit den Fakten sehr selektiv um. Das Bild ist viel komplexer.

Knaus: Diese Fakten sind doch nicht umstritten. Die Zahl der Überfahrten und Toten ist im April 2016 drastisch gefallen.

Engler: Die Zusammenhänge sind komplexer. Die Zahlen der Überquerungen über die Ägäis sind schon vorher deutlich gesunken.

Knaus: In den drei Monaten vor der Einigung kamen 150.000 über die Ägäis. In den drei Monaten danach 7.000. Statt 1.152 Tote in den zwölf Monaten vor dem Abkommen waren es 81 Tote in den zwölf Monaten danach.

Engler: Studien zeigen: Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge wollte zum Zeitpunkt des Abkommens in der Türkei bleiben.

Knaus: Entschuldigung, aber das ist Unsinn. Das ist doch keine seriöse Migrationsforschung.

Engler: Herr Knaus, Sie sind kein Forscher. Sie interessieren sich überhaupt nicht für komplexere Zusammenhänge, wie sie die Wissenschaft analysiert. Sie sind Politikberater und verkaufen Lösungen, die einfach klingen, aber in der Praxis nicht funktionieren.

Knaus: Wir verkaufen keine Leistungen. Ich bin auch kein Berater von Regierungen. Wenn Sie finden, dass meine Bücher über Migration und Flucht oder die Studien, die wir publizieren, keine gute Forschung sind, kann ich es nicht ändern. Aber auf grundlegende Fakten sollten wir uns einigen. Wie kann man aus ideologischen Gründen behaupten, im April 2016 sei in der Ägäis nichts passiert? Und man könne davon nichts für heute lernen?

ZEIT: Herr Engler, Sie sagen, die Zahlen seien gar nicht wegen des Abkommens so drastisch gesunken?

Engler: Ich sage nicht, dass es keinen Effekt hatte, aber es als Allheilmittel zu verkaufen, wie Herr Knaus das tut, wird der Situation nicht gerecht. Seit dem Abschluss des Deals mit der Türkei hatten wir in Europa etwa 1,5 Millionen Asylanträge von Afghanen, Irakern und Syrern. Und die kamen sehr wahrscheinlich größtenteils über die Türkei.

DIE ZEIT: Herr Knaus, Sie waren kürzlich für eine Woche in Ruanda unterwegs, zeitweise mit einer CDU-Delegation um Jens Spahn. Nun fordern Sie, dass europäische Regierungen ein Migrationsabkommen mit dem afrikanischen Land schließen sollten. Warum?

Gerald Knaus: 2023 sind jede Woche 120 Menschen im zentralen Mittelmeer auf dem Weg nach Europa ertrunken. Seit 2017 kooperiert die EU mit Libyen, das Migranten vom Meer in schreckliche Lager zurückbringt. Eine Kooperation mit einem wirklich sicheren Drittstaat wäre eine humane Alternative zu diesem tödlichen Modell.

ArbeitCDUDeutschlandEUEuroEuropaFlüchtlingeForschungGeraldGewaltJensLernenLibyenMANMigrantenMigrationMigrationspolitikMittelmeerPolitikRechtRuandaSchiffeSelbstSpahnStudienToteTürkeiWeilWissenschaftZeit