#MeToo | Ob Twitch oder Gamescom: Der krasse Sexismus der Gaming-Szene

So beginnt für Rebecca Raschun das Business-Meeting beim Geschäftsführer einer großen Berliner Streaming-Agentur: „Sei das cute, liebe und sexy Gamer-Girl. Verrate niemandem im Stream, dass du in einer Beziehung bist, das verkauft sich nicht.“ Raschun, alias JustBecci, hat fast 40.000 Follower*innen auf Twitch und steht für führende Unternehmen der Branche vor Kamera und Mikro. Zum damaligen Zeitpunkt hat sie schon ein paar Jahre Negativ-Erfahrungen im Streaming-Business hinter sich.

Was dann aber folgt, lässt selbst die hart gesottene Streaming-Veteranin sprachlos zurück: „Schau, dass du beim Just-Dance-Tanzen nicht aussiehst wie eine polnische Nutte“, sagt der Agentur-Chef zu ihr. Raschun steht, einmal mehr, vor einem Problem, das ihr in ihrer Streaming-Karriere schon oft begegnet ist: „Wenn ich jetzt was sage, dann arbeiten die nicht mit mir. Ich muss aber mit denen arbeiten. Jeder arbeitet mit dieser Agentur.“ Gedanken, die ihr durch den Kopf schießen, während sie da sitzt und um Haltung ringt. Heute kommt sie zu einem traurigen Fazit: „Dieses Dilemma zieht sich durch meine gesamte Karriere.“ Gleich mehrmals muss sie die Erfahrung machen, dass es karriereschädigende Folgen haben kann, Männern im Business Grenzen aufzuzeigen.

Alles beginnt mit einem Traum. „So richtig geklickt hat es bei mir, als ich 2011 auf der Gamescom war“, erzählt Raschun. Die weltweit größte Spielemesse, die jährlich in Köln stattfindet, ist Schmelztiegel der internationalen Gaming-Szene. Und Haifischbecken zugleich. Innerhalb der Games-Szene gibt es Whisper Networks, also Flüsternetzwerke, die vor potenziell gefährlichen Branchen-Partys und -Personen warnen. Frauen und als Frauen gelesene Personen aus der Industrie berichten von sexuellen Übergriffen. Erst im vergangenen Jahr wurde auf der Devcom, der dortigen Entwickler*innen-Konferenz, eine Person wegen sexueller Belästigung vom Gelände entfernt. Raschun bekommt 2011 von alldem noch wenig mit. Die Gamescom vermittelt ein überzeugendes Bild der 1.001 Möglichkeiten in der von ihr seit der Kindheit geliebten Games-Welt. Eines, das blendet. Sie beschließt, Games-Moderatorin zu werden. Der beste Weg dahin: über das Spiele-Streaming. Der Platzhirsch unter den Games-Streamingportalen: Twitch.

Nur drei Frauen in den Top 100

Das 2011 erstellte Portal, das als Schwesterplattform aus dem 2007 von Justin Kan gegründeten Streamingportal Justin.tv hervorgeht, legt einen beispiellosen Steilstart hin. Bereits 2013 verzeichnet Twitch monatlich mehr als 45 Millionen Zuschauer*innen weltweit. 2014 übernimmt Amazon das Unternehmen für 970 Millionen US-Dollar. Das Durchschnittsalter der Twitch-Nutzer*innen beträgt 21 Jahre.

Während der weltweiten Corona-Pandemie steigt der Umsatz des Portals von 2020 bis 2021 noch mal um 41 Prozent, erreicht im Jahr 2021 einen Umsatz von rund 2,7 Milliarden Dollar. Etwa neun Millionen Streamer*innen gibt es. Da herauszustechen, ist nicht einfach. Noch weniger als Frau. Ein Leak im Jahr 2021 enthüllt: Unter den 100 bestverdienenden Streamer*innen sind nur drei Frauen. Weiter unten sieht es nicht viel besser aus. Eine Bryter-Studie von 2020 stellt fest: Gerade einmal 27 Prozent der Top-3.000-Game-Streamer*innen auf Twitch, YouTube sowie Facebook Gaming sind weiblich. Das hat Folgen: Laut der Studie ist sexistischer oder misogyner Streaming-Content an der Tagesordnung, Toxizität und Diskriminierung ebenso. Da wundert es kaum, dass 58 Prozent der weiblichen Spielerinnen angeben, im Online-Gaming Missbrauch erfahren zu haben. Das traurige Fazit: Auch im Bereich Games-Streaming gilt, wie fast überall in der Spiele-Branche: Das Cis-Männliche dominiert.

Und das ist oft von sexistischen Stereotypen und Machtselbstverständnissen geprägt. Das ist relevant, bedenkt man die enorme Wirkmacht des Mediums: Männliche Entscheidungsträger bestimmen, was in den Stream kommt. Also letztlich, was die große Masse an mehrheitlich jungen Zuschauer*innen zu sehen bekommt.

Dadurch wird mittelbar beeinflusst, was geht und was nicht. So werden problematische Inhalte reproduziert und am Leben gehalten. Immerhin: Es tut sich etwas. „Als ich angefangen habe mit dem Streamen, 2012, war es noch extremer“, erinnert sich Rebecca Raschun. „Es gab keine großen weiblichen Spielerinnen, die mir als Vorbild hätten dienen können und die mir hätten zeigen können, wie man sich in dieser Welt bewegt.“ Männer beherrschen das Bild, im wahrsten Sinne des Wortes. Raschun alias JustBecci arbeitet sich hoch, bleibt am Ball. Und bekommt bald lukrative Aufträge von Großkonzernen und bekannten Agenturen der Branche. Deren Namen will sie hier nicht lesen, um sich zu schützen. Weil es auch diese großen Häuser sind, in denen sie die schlimmsten Erfahrungen ihrer Karriere macht. „Ich habe für eine Agentur gearbeitet, die für einen großen Produzenten ein Streaming-Team zusammengestellt hat. Mir wurde gesagt, dass es meine Aufgabe sei, einen guten Eindruck zu machen, dass ich schön und sexy und lieb sein soll.“

Schlafzimmer oder Kündigung

Raschun ist zu diesem Zeitpunkt Anfang 20, also im Durchschnittsalter der Twitch-Nutzer*innen. Viele der weiblichen Streamerinnen steigen jung ins Business ein. Und sind umso verwundbarer. „Ich wurde teilweise extrem manipuliert“, so Raschun. Sie erzählt von einem Live-Stream bei einem Event, bei dem Alkohol ausgeschenkt wird. Es sind ihrer Erinnerung nach außer ihr nur Männer am Stream. Raschun wird dazu angehalten, weiterzustreamen – obwohl sie offensichtlich angetrunken ist. „Die haben mich weiterstreamen lassen – weil das ‚tipsy girl‘ gute Unterhaltung ist. Aber mir ist es schlecht gegangen und ich hätte jemanden gebraucht, der mir geholfen hätte.“ Niemand greift ein.

Bei einem anderen großen Produzenten wird der Entscheidungsträger übergriffig. „Auf der Gamescom wollte der mir vorschreiben, mit wem ich auf Partys gehe, und kontrollierte, wo ich wann war, auch wenn es meine private Zeit war – weil er, so sagte er mir, erwartet hatte, dass er und ich mehr Zeit miteinander verbrächten.“

Raschun meidet ihn dann, wo immer sie kann. Eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen. „Das hat damit geendet, dass er meine Arbeit vor seinem Chef als vernichtend schlecht dargestellt hat. Ich habe mich dann beschwert, dass hier nicht meine Professionalität kritisiert wird, sondern die Tatsache, dass ich nicht mit ins Schlafzimmer wollte.“ Gebracht hat es nichts. „Die haben mir nicht geglaubt.“

Für den übergriffigen Entscheidungsträger gibt es, soweit sie weiß, keinerlei Konsequenzen. Für sie schon. Und zwar potenziell karriereschädigende und finanziell schmerzhafte: „Das Ende vom Lied war, dass ich mit dem Produzenten nie wieder zusammengearbeitet habe.“

Druck durch Machtasymmetrie

Übergriffiges Verhalten ist kein Einzelfall in der Streaming-Branche, weiß Raschun. Der Produktmanager eines führenden Games-Hardware-Produzenten schickt ihr Selfies im halb offenen Bademantel, schreibt anzügliche Nachrichten. Alles ungefragt, ungewollt und unerwünscht. Der Handlungsspielraum der Betroffenen ist dennoch klaustrophobisch eng. Denn die Machtasymmetrie ist Druckmittel Nummer eins.

Raschun erzählt, dass sie in all den Fällen immer Angst hatte, sich zu wehren und dass sie dann ihren Job und den Kunden verlieren würde. Am Ende zieht sie aber auch hier die Grenze. Wieder zu ihrem Nachteil: „Ich habe geschrieben, dass das jetzt ein Schritt zu weit für mich war. Und plötzlich wurde der Kontakt weniger und irgendwann gab es keine Aufträge mehr.“ Ob das nun an ihrer Grenzziehung liegt oder nicht, lässt sich kaum beweisen. Sicher ist: „Für mich fühlte es sich so an. Ich habe wieder was gesagt und wieder bekomme ich deswegen die Aufträge nicht.“ Raschuns Fazit: In einem solchen System ist es, zumindest für diejenigen, die ein finanzielles Auskommen oder Erfolg in ihm haben wollen, offensichtlich lukrativer, den Mund zu halten.

Rebecca Raschun

Foto: Rebecca Raschun

Der Preis dafür ist hoch. Manchmal bis hin zur körperlichen Unversehrtheit. Rebecca Raschun erzählt von einem Mann aus der Branche, der sie gleich zu Beginn ihrer Karriere kontaktiert, sich als Mentor und finanzieller Unterstützer anbietet – auf rein professioneller Ebene. Er macht ihr Visitenkarten, ein Logo. Aber die Grenzüberschreitung lässt nicht lange auf sich warten. Er schreibt ihr ständig – wo sie sei, was sie mache. Auf der Gamescom zahlt er die Unterkunft. Raschun, damals Anfang 20, glaubt ihm zunächst, als er sein rein professionelles Interesse an ihrer Streaming-Karriere beteuert.

Bis sie dann in der Unterkunft ankommen und da, anders als angekündigt, nur ein einziges Bett steht. Einen Ausweg sieht sie nicht. „Wo sollte ich hin? Ich war wirklich broke as fuck damals, hatte überhaupt kein Geld.“ In der Nacht fängt er an, sie anzufassen. Am nächsten Tag erzählt sie einem Freund, was passiert ist. Der bringt sie in seinem Hotelzimmer unter. Nicht alle haben diese Unterstützung. Und längst nicht alle Geschichten kommen an die Öffentlichkeit.

Eine Initiative will alles ändern

Raschun erzählt von einem Streamer eines bekannten Outlets, der mehrere Frauen erpresst hat. Sie würden nur dann wieder zur Streaming-Show eingeladen, wenn sie ihm hörig seien. Eine der Frauen belästigt er in ihrem Hotel. Karriereversprechen als Werkzeug der Mächtigen. Was wie aus der Zeit gefallen klingt, gehört zur Struktur einer Branche, in der die Machtasymmetrie zwischen den Geschlechtern längst zum Naturgesetz wurde. „Wir sind an einem Punkt, an dem so ziemlich jede Frau in der Videospielbranche ihr eigene Horror-Story erzählen kann“, sagt Nathalie Lawhead, mehrfach ausgezeichnete Netzkünstlerin und US-Game-Designerin, die selbst Zielscheibe von Belästigung und Bedrohungen wurde und 2019 Schlagzeilen machte, als sie den bekannten Games-Musik-Komponisten Jeremy Soule der Vergewaltigung bezichtigte. Die Streaming-Welt ist keine Ausnahme, im Gegenteil.

Das toxische Fundament reicht tief. Und den Opfern wird selten geglaubt. Raschun erzählt von einem Fall, in dem sie sich über einen übergriffigen Streamer-Kollegen beschwert und ihr erst geglaubt wird, als er mehrere weitere Frauen belästigt. Um es gar nicht so weit kommen zu lassen, passen sich einige an, dulden und erdulden. Bei Rebecca Raschun passiert das Gegenteil. Über die Jahre und mit den Erfahrungen wird sie vor allem eines: wütend. „Ich habe so lange immer geglaubt, dass ich die Schuldige bin.“ Dann habe sie sich gefragt: Warum kommt denn überhaupt jemand so weit über die Grenze? Das Problem liegt für sie auf der Hand: „Meistens gehören die Agenturen Männern, und Männer sitzen an den entscheidenden Stellen.“ Genau hier müsste angesetzt werden, so Raschun: „Die Monopolstellungen, die sich Männer vor Jahren aufgebaut haben, müssen aufgebrochen werden.“ Für sie ist klar: „Ich bin davon überzeugt, dass meine Erfahrungen anders gewesen wären, wenn mehr Frauen in den entscheidenden Positionen gewesen wären.“

Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Auch wenn es Lichtblicke gibt. Wie die Initiative GAME:IN, die sich gegen Sexismus in der deutschen Games-Branche einsetzt. Eine der Gründerinnen: Lena Nießen. Die hat in Köln auch ihre eigene Agentur gegründet – und will es anders machen.

Nora Beyer ist Autorin und Journalistin, sie schreibt vorzugsweise über die Games-Industrie

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