Finanzexperten loben den Vorschlag von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), eingefrorenes russisches Vermögen zur Finanzierung der Militärhilfe der Ukraine zu nutzen, ohne es zu enteignen. Sie sagen aber auch: 140 Milliarden Euro reichen nicht.
Gunter Deuber, Chefvolkswirt der Raiffeisenbank International, der größten, in der Ukraine tätigen ausländischen Bank, nannte es gegenüber der F.A.Z. „gut, dass de facto und de jure keine Enteignung der russischen Devisenreserven stattfindet.“ Denn das könnte das gerade gewachsene internationale Vertrauen in den Euro schwächen. Die in Rede stehenden Mittel würden aber nicht ausreichen, „um der Ukraine einen substanziellen finanziellen Sprung zu erlauben“.
Merz hatte in der „Financial Times“ vorgeschlagen, der Ukraine einen zinslosen Kredit in Höhe von „fast 140 Milliarden Euro“ zur Verfügung zu stellen, „ohne in die Eigentumsverhältnisse einzugreifen“. Das Darlehen werde zurückgezahlt, „wenn Russland die Ukraine für die verursachten Schäden entschädigt hat“. Bis dahin blieben die russischen Devisenreserven blockiert. Bisher hatte die Bundesregierung solche Überlegungen skeptisch kommentiert.
Ukraine bleibe auf jährlich zweistellige Milliardentransfers angewiesen
Für das Geld, das für Rüstungskäufe im Westen genutzt werden solle, bedürfe es Garantien der Mitgliedstaaten, erklärte Merz. Die EU-Staats- und Regierungschefs könnten bei ihrem Treffen Ende Oktober beschließen, das Instrument rechtssicher auszuarbeiten. Zuvor hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen, das russische Geld für Ukraine-Anleihen zu nutzen.
Fachleute weisen darauf hin, dass die Ukraine dennoch auf jährlich zweistellige Milliardentransfers zur Staatsfinanzierung angewiesen bleibe. Im derzeit vom Parlament beratenen Haushaltsentwurf für 2026 kalkuliert die Regierung mit Auslandshilfen von 50 Milliarden Dollar. Da die Steuereinnahmen für das Militär eingesetzt werden, ist der restliche Haushalt auf Kreditfinanzierung angewiesen.
Da die USA sich aus der Finanzierung zurückziehen, steigt entsprechend die Last der Europäer. Das soll durch den neuen Plan abgemildert werden. Entsprechend will Merz Staaten außerhalb der EU einladen, sich daran zu beteiligen. Die Konstruktion verhindert, dass russlandfreundliche EU-Staaten wie Ungarn den Plan stoppen könnten.
Dennis Shen, leitender Volkswirt der Ratingagentur Scope, sagte der F.A.Z., angesichts der Kriegsdauer und der Ermüdungserscheinungen im Westen gebe es außer dem Einsatz der russischen Gelder „keine wirkliche Lösung, um die riesige Finanzierungslücke zu schließen“. Sie seien die einzige Ressource in einer Größe, die die Ukraine mehrere Jahre finanzieren könnte. Da es allerdings unwahrscheinlich sei, dass Russland der Ukraine jemals die Schäden des von Russland initiierten Krieges ersetzen werde, „würden die Nullcouponkredite an die Ukraine effektiv als Zuschüsse wirken“. Sie würden der Ukraine helfen, ihre wachsende Staatsverschuldung zu tragen.
Ukraine wird nicht auf Vorkriegsniveau zurückkehren
Kritisch sieht Shen den Plan, die Mittel nur für die Rüstung zu verwenden. Das könnte „zu eng gefasst sein“. Denn die Ukraine habe einen hohen Finanzbedarf bei nichtmilitärischen Ausgaben wie den Kosten für Renten, Löhne im öffentlichen Dienst und humanitäre Hilfe.
Das gesamtstaatliche Defizit der Ukraine dürfte nach diversen Berechnungen 2026 die Höhe des Bruttoinlandproduktes (BIP) erreichen. Nächstes Jahr plant die Regierung ein Defizit von 18 Prozent des BIP. Da Ökonomen ihre Wachstumsschätzungen wegen des fortdauernden Kriegs senken, könnte der Fehlbetrag mangels Steuereinnahmen steigen.
Aktuell wird nur noch ein Wachstum zwischen zwei und 2,7 Prozent erwartet. Konsum und Investitionen leiden unter dem russischen Dauerbombardement. Schlechte Wetterbedingungen hemmen den für die Ukraine wichtigen Agrarsektor. Arbeitskräftemangel und kriegsbedingte Schäden behindern die Wirtschaft. Waffen- und Energieimporte lassen das Leistungsbilanzdefizit wachsen. Die Inflation beträgt 13,2 Prozent.
Mittelfristig werde das Land nicht auf das vor dem Überfall 2022 erwirtschaftete Niveau zurückfinden, schreibt das German Economic Team in Kiew. Hausgemachte Hemmnisse kommen dazu. So forderte der Internationale Währungsfonds, der das Land mit Milliardenkrediten unterstützt, Kiew dazu auf, mehr gegen die Schattenwirtschaft zu tun. Sie umfasst laut Regierung etwa ein Drittel der Wirtschaftsleistung, was die Finanzierungsbasis des Staates schwächt.
Source: faz.net