Meinung | Russland gewinnt den Wirtschaftskrieg

Statt Wladimir Putin zum Umdenken zu bringen, führen die Sanktionen gegen Russland zum Anstieg der Treibstoff- und Lebensmittelpreise. Die Angst vor einer humanitären Katastrophe wächst. Früher oder später muss eine Einigung her

Es ist jetzt drei Monate her, seit der Westen seinen Wirtschaftskrieg gegen Russland begonnen hat. Aber die Sache läuft nicht nach Plan – eigentlich sogar ziemlich schlecht.

Die Sanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin wurden nicht verhängt, weil man sie für das Beste hielt, sondern für besser als die beiden anderen verfügbaren Handlungsoptionen: nichts zu tun oder sich militärisch einzumischen.

Das erste Bündel Wirtschaftsmaßnahmen wurde direkt nach der russischen Invasion verabschiedet, als man davon ausging, dass die Ukraine innerhalb von Tagen kapitulieren würde. Das geschah nicht und führte dazu, dass die Sanktionen – die noch nicht vollständig sind – immer weiter verstärkt wurden.

Es gibt allerdings derzeit kein Anzeichen dafür, dass sich Russland aus der Ukraine zurückzieht. Das ist kaum überraschend, weil die Sanktionen den perversen Effekt haben, die Kosten für Russlands Öl- und Gasexporte in die Höhe zu treiben, seine Handelsbilanz massiv zu stützen und seine Kriegsanstrengungen zu finanzieren. In den ersten vier Monaten dieses Jahres konnte Putin einen Leistungsbilanzüberschuss von 96 Milliarden Dollar (90,7 Milliarden Euro) verbuchen – mehr als das Dreifache im gleichen Zeitraum 2021.

Die Preise für Öl steigen – der Kreml profitiert

Als die EU Ende Mai ihr Embargo auf Teile der russischen Ölexporte verkündete, stieg der Rohölpreis auf den globalen Märkten, was dem Kreml einen weiteren finanziellen Vorteil bringt. Derweil hat Russland keine Schwierigkeiten, alternative Märkte für seine Energie zu finden. Die Öl- und Gas-Exporte nach China im April etwa erhöhen sich jährlich um mehr als 50 Prozent.

Das heißt aber nicht, dass die Sanktionen schmerzlos an Russland vorbeigehen. Nach Schätzung des Internationalen Währungsfonds schrumpft die Wirtschaft des Landes dieses Jahr um 8,5 Prozent, da die Importe aus dem Westen eingebrochen sind. Russland besitzt einen Lagerbestand an essenziellen Gütern, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, aber irgendwann werden sie aufgebraucht sein.

Da sich Europa nur allmählich aus seiner Abhängigkeit von russischer Energie befreit, bleibt Putin eine unmittelbare Finanzkrise erspart. Dank Kapitalverkehrskontrollen und einem soliden Handelsüberschuss ist der Rubel sogar stark. Moskau hat daher Zeit, alternative Bezugsquellen für Ersatz- und Bestandteile aus Ländern zu finden, die bereit sind, die westlichen Sanktionen zu umgehen.

Als die globalen Entscheidungsträger kürzlich in Davos zusammenkamen, war die öffentliche Botschaft eine Verurteilung der russischen Aggression und die erneute Versicherung, fest hinter der Ukraine zu stehen. Nicht öffentlich dagegen zeigte man sich besorgt über die ökonomischen Kosten eines anhaltenden Krieges.

Diese Besorgnis ist vollkommen gerechtfertigt. Russlands Invasion der Ukraine hat den bereits bestehenden starken Preisdruck weiter erhöht. Die jährliche Inflationsrate in Großbritannien liegt bei 9 Prozent und ist damit die höchste seit 40 Jahren. In Deutschland erwartet die Bundesbank für 2022 eine Teuerungsrate von 7,1 Prozent. Die Treibstoffpreise haben ein Rekordhoch erreicht.

Stagflation und Hunger sind die Folgen

Als Ergebnis des Krieges sehen sich die westlichen Ökonomien mit niedrigem oder negativem Wachstum und steigender Inflation konfrontiert – eine Rückkehr zur Stagflation der 1970er. Derweil spüren die Zentralbanken – darunter auch die Bank of England – den Druck, auf eine fast zweistellige Inflation reagieren zu müssen, indem sie den Zinssatz erhöhen. Dadurch droht ein Anstieg der Arbeitslosigkeit. Andere europäische Länder stehen vor den gleichen Problemen, vielleicht sogar noch mehr als Großbritannien, da die meisten im Vergleich abhängiger von russischem Gas sind.

Unterdessen stehen die ärmeren Länder der Welt vor Problemen von weitaus größerem Ausmaß. Für manche von ihnen geht es nicht um Stagflation, sondern ums Verhungern – eine Folge der russischen Blockade von Weizenlieferungen aus den ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer.

Wie der Direktor des Welternährungsprogramms David Beasley es formulierte: „Die Getreidesilos der Ukraine sind voll. Gleichzeitig bewegen sich 44 Millionen Menschen weltweit auf den Hungertod zu.“

In allen multilateralen Organisationen – seien es der Internationale Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation oder die Vereinten Nationen – wächst die Befürchtung, dass eine humanitäre Katastrophe ansteht. Die Rechnung ist einfach: Wenn Entwicklungsländer nicht selbst Energie-Exporteure sind, stehen sie vor einem dreifachen Problem, bei dem Brennstoff- und Nahrungsmittelkrisen Finanzkrisen auslösen. Wenn Regierungen sich entscheiden müssen, ob sie ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln versorgen oder ihre Schulden gegenüber internationalen Gläubigern bedienen, werden sie Ersteres tun. Sri Lanka war das erste Land seit der russischen Invasion, das seine Schulden nicht begleichen konnte, aber es wird vermutlich nicht das letzte sein. Seit den 1990ern war die Welt nicht mehr so nah an einer ausgewachsenen Schuldenkrise.

Wladimir Putin hat von Anfang an auf lange Hand gespielt

Putin ist zu Recht dafür kritisiert worden, Nahrungsmittel „zu einer Waffe zu machen“. Allerdings sollte seine Bereitschaft dazu kaum überraschen. Von Anfang spielte der russische Präsident auf lange Hand und wartete darauf, dass sich die internationale Koalition gegen ihn aufspaltet. Der Kreml ist überzeugt, dass Russlands wirtschaftliche Schmerzgrenze höher liegt als die des Westens. Und wahrscheinlich ist das richtig.

Braucht man einen Beweis dafür, dass die Sanktionen nicht funktionieren, dann liefert ihn US-Präsident Joe Bidens Entscheidung, die Ukraine mit modernen Raketensystemen auszustatten. Die Hoffnung ist, dass moderne Militärtechnologie aus den USA erreicht, was Energie-Embargos und das Einfrieren russischer Vermögenswerte nicht geschafft haben: Putin zu zwingen, seine Truppen zurückzuziehen.

Eine Möglichkeit, wie der Krieg enden könnte, ist ein umfassender militärischer Sieg der Ukraine über Russland. Das ist allerdings angesichts des Stands der Dinge nicht sehr wahrscheinlich. Denkbar ist auch, dass die Wirtschaftsblockade letztlich funktioniert, indem immer stärkere Sanktionen Russland zum Nachgeben zwingen. Eine weitere Lösung ist eine verhandelte Einigung.

Putin wird nicht bedingungslos aufgeben und das Potenzial für schwere Kollateralschäden durch den Wirtschaftskrieg sind offensichtlich: sinkende Lebensstandards in den Industrieländern; Hunger, Lebensmittelaufstände und eine Schuldenkrise in der sich entwickelnden Welt.

Die von den russischen Truppen verübten Gräueltaten machen Kompromisse mit dem Kreml derzeit zu einer schwer zu schluckenden Pille, aber die wirtschaftliche Realität legt nur eins nahe: Früher oder später wird es eine Verhandlungslösung geben.

Larry Elliott ist der Wirtschaftsredakteur des Guardian

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