Meinung | Holodomor-Resolution des Bundestags: Geschichte wird passend gemacht

Nicht allein die Ukraine, sondern auch Russland und Kasachstan litten unter der Hungersnot von 1932/33. Niemand kann auf einen exklusiven Opferstatus pochen. Alle sind Opfer der damaligen Politik Josef Stalins

Es ist seit jeher umstritten, ob es sich mit der furchtbaren Hungernot von 1932/33 in der Sowjetunion um einen von Josef Stalin vorsätzlich geplanten Völkermord an Ukrainern handelt. Expertisen von US-amerikanischen und westeuropäischen Historikern bezweifeln das. Sie verweisen u. a. darauf, dass durch die Kollektivierung der Landwirtschaft in der damaligen UdSSR und wegen schlechter Ernten auch im Süden Russlands und in Kasachstan gehungert wurde und Menschen starben.

Zum anderen lebte in weiten Teilen der Ukraine, vor allem in deren Osten, eine aus Russen und Ukrainern gemischte Bevölkerung. Also hätte sich das gezielte Handeln der damaligen sowjetischen Führung nicht nur gegen das ukrainische, sondern auch das russische Volk gerichtet. Der grassierende Hunger suchte sich seine Opfer nicht aus, sondern traf viele Völkerschaften – daraus im Nachhinein einen gegen die Ukraine und die Ukrainer gezielt verübten Massenmord zu machen, ist schlichtweg ahistorisch und der Arbeitsweise eines Parlaments, das dazu eine einseitige Resolution verabschiedet, nicht würdig. Es sollte seine Entscheidungen auf der Basis seriöser Expertisen treffen, nicht getrieben von Ressentiments.

Schweres Geschütz

Die Mehrheit des Bundestages betrachtet die Holodomor-Resolution als Zeichen der Solidarität mit der im Krieg gegen Russland stehenden Ukraine. Die drei Regierungsparteien sowie CDU/CSU sind damit vor allem auf eine Analogie bedacht: Wir stempeln Josef Stalin zum ruchlosen Massenmörder, der sich an der Ukraine verging, und wir sehen in Wladimir Putin das Gleiche, weil er sich heute an der Ukraine vergeht. Um Tagespolitik betreiben zu können, wird Geschichte mit Beschlag belegt, nur leider versäumt, ihr gerecht zu werden.

Wer mit dem Vorwurf des Völkermords das ganz schwere Geschütz auffährt, muss sich fragen lassen, ob mit diesem Label nicht dann auch Ereignisse mit einem vergleichbaren parlamentarischen Votum bedacht werden sollten, die als aufgeklärt gelten. Das ist so, weil sich die historische Forschung darüber ziemlich einig ist. Zum Beispiel den Massenmord an 80.000 bis 100.000 polnischen Zivilisten, nicht zuletzt Frauen und Kindern, in Wolhynien und Ostgalizien. Dieser mörderische Wahn begann am 9. Februar 1943 und erreichte seinen Höhepunkt am 11. und 12. Juli 1943 in 167 Dörfern Wolhyniens. Verübt hat diese Massaker die Ukrainische Aufständische Armee (UPA). Es besteht Klarheit über Täter, Opfer und Motive. Die UPA mordete quasi unter Aufsicht der Wehrmacht, um die polnische Bevölkerung in einem Gebiet zu liquidieren, das nach dem Krieg nicht wieder Polen, sondern einem ukrainischen Staat von Gnaden Nazideutschlands zufallen sollte.

Russische Propaganda

Es waren im Juli 2016 ukrainischen Spitzenpolitiker wie die ehemaligen Präsidenten Leonid Krawtschuk und Viktor Juschtschenko, die das in einem Brief als schwere geschichtliche Hypothek bezeichneten und den 11. Juli als gemeinsamen Gedenktag von Polen und Ukrainern ins Gespräch brachten. Was natürlich an Hardlinern in Warschau und Kiew scheiterte. Für die regierende PiS-Partei hatten die Täter nicht das Recht zu einem solchen Vorschlag. Sie störte sich – nicht zu Unrecht – an einer von der Ukraine verbreiteten offiziellen Deutung der Geschehnisse 1943. Durch Staat und Politik wurde die UPA inzwischen derart vergötzt, dass es unter Strafe stand und steht, „das Andenken dieser Unabhängigkeitskämpfer zu verunglimpfen“. Und das tut, wer auf die von ihnen oder in ihrem Namen verübten Verbrechen verweist. Es wird zur russischen Propaganda erklärt, an den Massenmord in Wolhynien zu erinnern.

In einer Erklärung des Ukrainischen Instituts für das Nationale Gedächtnis heißt es: „Wir müssen am Ende verstehen, es wird Leute geben, die für uns Ukrainer Helden sind und in Polen als Verbrecher behandelt werden, und umgekehrt …“ – Wie verblendet muss man als deutscher Politiker oder Parlamentarier sein, sich mit Leuten einzulassen, die ein solches Geschichtsbild verbreiten?

Und das seit Jahren. Was würde es für die EU bedeuten, wenn sich dort dank ukrainischer Mitgliedschaft ein fanatischer Nationalismus Geltung verschafft, der monströse Verbrechen zu Ruhmestaten von nationaler Größe verklärt? Wird man auch Kollaboration zwischen der UPA und den deutschen Besatzern gutheißen, die es zwischen 1941 und 1944 ermöglichte, ukrainische Juden zu verfolgen und zu ermorden?

Protagonist und Chefideologe dieser Milizen war übrigens Stepan Bandera, der zwar während der Verbrechen in Polen deutscher Schutzhäftling war, aber in ideologischer Hinsicht den Boden bereitet hatte für derlei Untaten. Der bis vor kurzem in Deutschland das große Wort führende ukrainische Botschafter Andrij Melnyk nannte sich einen Bewunderer Banderas. Die sonst urteilsbeflissenen Talkshow-Moderatoren des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wagten es nicht, ihn dafür zu rügen. Im Gegenteil, sie luden Melnyk weiter ein.

Was allein zählt

Um zur Holodomor-Resolution des Bundestages zurückzukommen. Sie leistet einem Geschichtsverständnis Vorschub, das Tatsachen verfälscht oder höchst tendenziös darstellt. Offenbar ist allein die geistige Kriegsführung gegen Russland das, was zählt.

Nur ist noch nicht einmal der Vorwurf zutreffend, dass sich mit dem Hungertod von Millionen Menschen 1932/33 großrussischer Chauvinismus an der Ukraine vergangen habe. Stalin war bekanntlich Georgier, zu seinem damaligen zehnköpfigen Politbüro gehörten mit Lesar Kaganowitsch, Andrej Schdanow, Kliment Woroschilow und Nikita Chruschtschow vier Ukrainer.

Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft geriet zur unmenschlichen Heimsuchung für nahezu alle Völker der Sowjetunion. Sie verschaffte der Ukraine keinen exklusiven Opferstatus.

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