Meinung | Der Raketeneinschlag in Polen sollte das Bewusstsein für die Falle „Bündnisfall“ schärfen

Der Zwischenfall an der polnisch-ukrainischen Grenze verdeutlicht einmal mehr, welche Eskalationsdynamik der Ukraine-Krieg an jedem Tag mit sich bringt. Eine Rhetorik der Mäßigung wird immer sicherheitsrelevanter

Die Zurückhaltung fiel schon auf. Die Nachricht vom Raketeneinschlag im polnischen Grenzort Przewodów und den beiden Todesopfern war kaum verbreitet, als erste Reaktionen westlicher Politiker eher zur Vorsicht mahnten, statt auf adäquate Reaktionen zu drängen, sollte Russland der Verursacher sein.

Das Ganze erschien einfach höchst komplex, nicht nur wegen der lokalen Umstände. Gesetzt den Fall, man hätte Russland unumwunden zum Täter erklärt – was sich inzwischen anders darstellt –, wären die NATO und alle ihre Mitgliedsstaaten erheblich unter Zugzwang geraten. Es wäre fast unausweichlich gewesen, den Vorgang als Angriff Russlands auf das NATO-Land Polen einzustufen und die Ausrufung des „Bündnisfalls“ in Betracht zu ziehen. Wenn nicht zu vollziehen.

Bündnisfall nach 9/11

„Die Vertragsparteien“, heißt es in Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrages vom 4. April 1949, „stimmen darin überein, dass ein bewaffneter Angriff auf einen oder mehrere von ihnen (…) als Angriff auf alle von ihnen angesehen wird (…).“

Zur Erinnerung: Die USA hatten nach den Anschlägen von 9/11 für sich in Anspruch genommen, in eine solche Situation geraten zu sein und den Beistand des Bündnisses über die Erklärung des „Bündnisfalls“ verlangt. Seinerzeit hatte es damit sein Bewenden, denn ein Fortschreiten zum „Verteidigungsfall“ und zu einem kollektiven Militäreinsatz der NATO unterblieb. Allerdings wurde der durch die Besatzung in Afghanistan, deren strategisches Rückgrat die westliche Allianz neben den USA war, nachgeholt.

Nur handelte die NATO hier nicht mehr aus Beistandspflicht gegenüber den USA nach Artikel 5, sondern war von 2001 bis 2014 durch die Vereinten Nationen und deren Auftrag für die Stabilisierungsmission ISAF (International Security Assistance Force) mandatiert. Kein unmittelbarer Kriegs-, aber allemal ein Kampfeinsatz, allein wegen des robusten Mandats und der militärischen Gegenwehr des einheimischen Widerstandes.

Begonnen freilich hatte die Abhängigkeit der NATO von den USA in Afghanistan eindeutig mit den Beistandsbeschlüssen vom 12. September 2001 unter Bezug auf Artikel 5 des NATO-Vertrags.

Kommt der im Ukraine-Krieg irgendwann zum Tragen, in den die NATO auf vielen Ebenen, nicht allein durch Waffenlieferungen, schwer involviert ist und das knapp unter der Schwelle einer direkten Kriegspartei, sind einer Eskalation kaum mehr Grenzen gesetzt. Dass womöglich eine fehlgeleitete ukrainische Rakete die Lage entschärft, ist da kein Trost. Wer sich unter dem Druck der Ereignisse oder einzelner Mitglieder auf die Erklärung des Bündnisfalls einlässt, kann in diesem Megakonflikt kaum mehr zurück. Dann dürfte es als Frage der Glaubwürdigkeit und des inneren Zusammenhalts angesehen werden, die Konsequenzen zu ziehen und Angriffe auf Russland zu wagen.

Viel Semantik im Spiel

Dies dürfte Biden, Macron und Scholz genauso klar sein wie Präsident Selenskyj und Polens Premier Morawiecki. Erstere haben in den letzten zwölf Stunden durchaus zu erkennen gegeben, dass in einem Augenblick wie diesem viel Semantik im Spiel ist und die Dimension der Rhetorik nie die Dimension dadurch ausgelöster Vorgänge aus dem Auge verlieren darf. So stark sich die NATO auch wähnen mag, da ist sie am verwundbarsten. Im direkten Schlagabtausch mit Russland kann sie gewinnen, aber wird nicht ungeschoren bleiben.

Für Deutschland sollte im Übrigen ein Handlungs- bzw. Verfassungskonflikt beachtet werden. Der transatlantische Bündnisfall ist nicht automatisch der deutsche Verteidigungsfall. Der ist nach Artikel 115a des Grundgesetzes erst dann gegeben, wenn „das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff droht“. Mit dem Raketeneinschlag in Przewodów sind beide Kriterien nicht erfüllt.

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