Meine Tochter ist ein wunderbarer Mensch. Und eine Totengräberin unserer Kultur

Meine Tochter ist ein wunderbarer Mensch. Okay, ich bin da vielleicht voreingenommen, aber sie – 18 Jahre alt – ist empathisch, neugierig, sozial engagiert, sie interessiert sich für andere, für Kunst und Theater und das Seelenleben von Kindern. Wahrscheinlich will sie diese Welt sogar zu einem besseren Ort machen.

Leider ist sie auch eine Totengräberin der Welt, wie wir sie kennen. Denn sie vollzieht – wie Millionen andere ihrer Generation – die Abkehr von der Schrift im Zeichen des Digitalen.

Was würden wohl die Sumerer die sich vor 5.000 Jahren ins Zeug gelegt haben, um die Keilschrift zu erfinden, davon halten, dass hier und heute die Schriftlichkeit, ja die Gründung von Kultur auf geschriebene Sprache überhaupt, im Smartphone einer 18-Jährigen begraben wird?

Was wohl die Sumerer dazu sagen?

Denn meine Tochter liest nicht, sie schreibt nicht, sie lebt in keiner Welt mehr, in der Schriftlichkeit überhaupt eine Rolle spielt. Sie guckt sich Bilder an, bewegte und unbewegte, aber stets digitale Bilder, sie macht Bilder, von sich und anderen, und schickt sie hin und her, und wenn sie etwa genauer ausbuchstabieren möchte, nimmt sie eine Sprachnachricht auf. Als Antwort kriegt sie einen Audio-Monolog zurück, den sie dann mit eineinhalbfacher Geschwindigkeit anhört, sodass alle ihre Freundinnen klingen wie Mickey Mouse.

Die Sumerer würden sich wohl bedanken, wenn sie das mitkriegten. Es waren schöne 5.000 Jahre, die Zeit seit der Erfindung der Schrift, dann der Buchstaben und des Alphabets, des Papiers und des Lesens, des Buchdrucks und des Zeitungswesens. Eigentlich eine ziemlich kurze Zeit, wenn man es bedenkt, 5.000 oder höchstens 6.000 Jahre, auch eine schreckliche, klar, weil Schrift sich ja nicht nur dafür eignet, Liebesgedichte festzuhalten, Kriminalromane und Einkaufslisten, sondern auch Kriegserklärungen, Folterbefehle und Mein Kampf. Auch damit ist es wohl vorbei: Künftige Diktatoren werden Tiktok-Propaganda machen müssen, Instagram-Agitation, um überhaupt noch jemand zu erreichen; für Kriegserklärungen verfolgen Sie bitte unseren Livestream.

Meine Tochter hat die Welt der Schriftlichkeit also verlassen, sie lebt in einer Welt der Bilder. An sich ist das nicht neu, Legastheniker machen das schon länger so, dass sie in Bildern denken und sich mit dem Geschriebenen abmühen. Aber meine Tochter ist, soweit ich das beurteilen kann, keine Legasthenikerin. Sie ist nur ein Kind ihrer Zeit.

Als sie 2005 auf Welt kam, hatten alle um sie herum schon Handys, zwar noch keine Smartphones, aber schon als sie in die Kita kam, war auch das gesetzt. Heute ist ihr Alltag perfekt durchdigitalisiert: Sport macht sie dank Youtube, mit Freunden bleibt sie über Instagram in Kontakt, und wenn sie wirklich mal wissen will, wie der Erste Weltkrieg ausgegangen ist, hört sie einen Podcast.

Wer nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel

Ist das schlecht? Ist das vielleicht sogar gut? Es ist jedenfalls anders als alles, was unsere Kultur in den letzten 5.000 Jahren im Kern ausgemacht hat. Dabei soll das hier nicht darauf hinauslaufen, dass die Welt untergeht, weil die Kids nicht mehr lesen. Die Eltern sind ja genauso drauf! Am eigenen Leib habe ich das erfahren müssen, als Corona durch die Schulen zog. Alle waren betroffen, und alle waren betroffen gemacht: Man musste doch was tun, für die Kids, für die Schule! So dachten wir alle. Doch das Einzige, was uns Eltern einfiel: mehr Digitalisierung. Da wurde mobilisiert und diskutiert, es wurde gefundraist und Geld aufgestellt, am Ende wurden Tablets und iPads und WLAN-Router angeschafft, und alle dachten: Wir schaffen das!

Aber oh weh. Nachdem sich alle wieder beruhigten und die postpandemische Normalität Einzug hielt, stellte sich heraus: Die Schule hatte viele Probleme, aber mangelnde Digitalisierung gehörte nicht dazu. Zu wenig Lehrer gab’s, zu wenig Erzieher, zu wenig Sportunterricht, Zeit in der Natur und zu wenig Nachmittagsangebote, ja, da hätte man was machen können und sollen. Uns Eltern aber war nur mehr Digital eingefallen. In England sagt man: Wer nur einen Hammer hat, hält alle Probleme für einen Nagel.

Und meine Tochter? Neulich hab ich sie erwischt, mit Stift und Buch in der Hand. Was sie da macht? Sie „journalt“ jetzt. Mit Journalismus hat das nichts zu tun, sie spricht das Wort aus, wie man auf Englisch „Tagebuch“ sagt: Dschörnal. Und darum geht es auch: Sie führt ein Tagebuch, ein Büchlein, dessen Seiten aufs Engste mit kleinen Buchstaben gefüllt werden, über ihre Erlebnisse, ihre Begegnungen mit anderen Menschen, ihre Wünsche für eine bessere Welt. Jeder Sumerer würde sich freuen.

Ich sag’s ja, sie ist ein wunderbarer Mensch. Vielleicht lässt sie die Schrift sogar noch ein Weilchen weiterleben.

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