Mein Buch extra meine Mutter: Ein Schrank voller Dinge

Meine Mutter verstarb vor mehr als einem Jahr. Seit ihrem Tod sucht mich ein Traum heim, der mich wiederholt entsetzt aus dem Schlaf aufschrecken lässt: Im Traum lebt meine Mutter. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ein Buch über das Aufräumen nach ihrem Tod geschrieben habe. Mein Buch, so fürchte ich im Traum, sei eine Lüge, ich muss meinen Lesern von der Lüge erzählen: Alles ein Irrtum, Mutter lebt.

Sigmund Freud hielte diesen Traum für einen typischen Fall der Wunscherfüllung: Die Mutter ist lebendig, wenn auch um den Preis, dass das Buch, das sich ihrem Leben und Ableben widmet, eingestampft werden muss. Der slowenische Philosoph und Lacanianer Slavoj Žižek sieht es anders: Der Traum konfrontiere mit dem wahren Trauma. Das Aufwachen stelle in diesem Sinne einen Versuch dar, dem Trauma zu entkommen. „Die Wirklichkeit ist etwas für diejenigen, die den Traum nicht aushalten können.“

Zu diesem Trauma gehört eine Sprachlosigkeit im Leben und Sterben meiner Mutter. Auch im Traum ist sie da, aber stets nur als Wissen, nicht als sprechende oder handelnde Person. Ihr Leben lang schwieg meine Mutter über die von ihr erlittenen Traumata: die Brutalität und Gewalt in ihrem Elternhaus, die Lieblosigkeit der eigenen Mutter, sexuelle Übergriffe, materielle Armut bis hin zum Hunger. Meine Mutter hatte ein Päckchen zu tragen, doch von außen betrachtet – so gut, wie man eine, die sich stets und ständig von anderen zurückzog, eben betrachten konnte – wirkte ihr Leben trotzdem stabil und im weitesten Sinne normal. Ein Mann, drei Kinder. Ein recht typisches DDR-Frauenleben und dann ein ganz typisches Frauenleben in der wiedervereinigten Republik. Daran änderte auch die Scheidung nichts – geschieht ja in den besten Familien. Die Verschuldung nicht unbedingt.

Gleich nach der Wende hatte meine Mutter nämlich einen Weg gefunden, all die Verluste und Traumata zu überdecken und zu begraben: Sie kaufte und kaufte. Bestellte Waren, zunächst in den telefonbuchdicken Versandkatalogen, danach bei den Teleshoppingkanälen. Abgesehen von ihren Kindern und Enkelkindern, die sie liebte, an die sie sich klammerte, wie eine Ertrinkende, die ihre Retter mit sich in die Tiefe des Wassers zu ziehen droht, hatte sie nur die leblosen Objekte, die sich in ihrer Wohnung auftürmten. Immerhin aber oblagen diese Objekte ihrer Kontrolle. Nichts konnte gegen ihren Willen aussortiert und weggeworfen werden.

Das Gegenteil von Trauerarbeit

Sie kaufte und hortete, was nützlich und sinnvoll ist, in der schieren Masse jedoch zum Ballast wird: Putztücher und Vitamintabletten und Aufbewahrungsdosen und Lotions. Und, und, und. Ganze Schränke voll mit Dingen. Wenn ich sage, sie habe ganze Schränke mit ihrem Hort gefüllt, klingt das für viele Menschen wie eine Übertreibung. Ein ganzer Schrank voll mit Cremes und Lotions? Ein ganzer Schrank voll mit Tablettendosen? Aber es ist die Wahrheit, die unverständliche, irrsinnige, absurde Wahrheit. Nach ihrem Tod fand ich Unmengen ungeöffneter Versandkartons: Sie hatte die Dinge nicht einmal mehr auspacken müssen; dass sie da waren, ankamen, in ihren Besitz gelangt waren, das genügte ihr.

Sie kaufte und hortete, und die Dinge waren ihr Schatz. All die Objekte, die gleichermaßen überteuert und billig, schäbig und hässlich waren, stapelten sich in ihrer kleinen Welt, einer Zweieinhalbraumwohnung, die sie nur zum Arbeiten verließ. Und sie arbeitete auch lange nach ihrer Pensionierung, um kaufen zu können. Manchmal denke ich, dass meine Mutter die geborene Konsumentin des Kapitalismus war: In ihrem Drang zu kaufen und zu konsumieren schuftete sie sich halb zu Tode, weswegen sie die Objekte, die sie ansammelte, nicht genießen konnte. Wie ein Konsumzombie, der kauft, um des Kaufens willen. Die Objekte überlebten sie, werden sie um Jahrhunderte überleben: All die Plastikbüchsen und Microfaserläppchen, die noch in Jahrhunderten Mikroplastik ins Grundwasser abgeben werden. Dass vom Leben meiner Mutter nur der Konsummüll bleibt, das macht mich unendlich traurig. Pathetisch klingt das, doch weiß ich kein besseres Wort: Es ist eine beinahe kindliche Traurigkeit über die Sinnlosigkeit des Ansammelns, die brutale Antithese zu Nachhaltigkeit.

It ain’t hoarding if your shit is cool. Niemand würde Umberto Eco als Buchmessie beschreiben, weil er weit über zehntausend Bücher besaß, als er starb. Niemand würde einen Kunstsammler als Hortenden beschreiben, sein shit ist cool. Ganz anders der Plastikschrott, den ich beseitigen musste. Es ist der Schatz einer Hausfrau, obwohl meine Mutter nie eine Hausfrau im traditionellen Sinne war. Die Putztücher und Reinigerkonzentrate, die praktischen Plastikdosen und Küchengadgets stehen symbolisch für die Qualitäten der guten Haushälterin, die ihre Dinge reinlich und sauber hält. Allerdings wissen wir, dass „die gute schwäbische Hausfrau“ nicht über ihre Verhältnisse lebt. Nun, Schwäbin war meine Mutter nicht. Für sie waren die Verhältnisse von einem tiefgreifenden Mangel geprägt. Wen wundert es da, dass es für sie kein Genug geben konnte, nur immer mehr und mehr?

Als ich begann, ihren Hort zu beseitigen, um die Wohnung an ihren Vermieter übergeben zu können, betrachtete ich den Akt des Aufräumens als Trauerarbeit. Ist das aktive Beräumen nicht der beste Weg, mit dem Schmerz und der Trauer umzugehen? Erstaunt war ich schon, dass ich beim Räumen eher wütend als traurig war. Die Wut betraf die Irrationalität ihres Verhaltens, ein tiefgreifendes Unverständnis über Sinn und Unsinn ihres Handelns. So rätselhaft schien mir ihr Tun, dass ich ein ganzes Buch darüber schrieb. Es ist der Versuch, die Mutter zu enträtseln. Die Dinge als Chiffren zu lesen, ihrem symbolischen Gehalt zu folgen, die Tiefenschichten des Unbewussten meiner Mutter zu entbergen, um sie wirklich kennenzulernen.

Kennen wir unsere Eltern jemals richtig? Erkennen wir sie?

Es ist das zweite Buch, das ich über meine Mutter geschrieben habe. Ist das schon Wiederholungszwang? Ich kann es mir nur so erklären: All die Traumata und verpassten Chancen des Lebens meiner Mutter, die Wunden und die Symptome der missglückten Heilung wurden zum Teil meines Lebens. Sie formten mich, und so ist jede Befragung meiner Mutter eine Befragung meiner selbst. Da fällt mir ein: „What’s a Freudian slip? When you mean one thing, and say ,your mother‘, uhm, another!“

Die Suche nach der Mutter, die unter der Masse der Dinge begraben liegt, gerät zu einer Art Psychoanalyse zweiter Ordnung. Nicht sie kann sprechen, aber das, was sie hinterlassen hat. Ich kann die Dinge lesen und dechiffrieren, im Anschluss darüber schreiben.

Das Schreiben, wie das Aufräumen, ein Versuch, den Verlust meiner Mutter zu bewältigen. Eine offenkundig viel zu enge und in einigen Lebensphasen beinahe symbiotische Beziehung zu lösen, mich dabei selbst mit meinen Ängsten und Abgründen zu konfrontieren. Warum konnte ich der Mutter nicht helfen? Trage ich die Schuld daran, dass sie vom Kaufen und Horten nicht lassen konnte? Hätte ich ihr nicht zu Lebzeiten beim Aufräumen helfen müssen?

Doch schließlich verstand ich, dass das Schreiben, wie zuvor das Beräumen des Hortes, das Gegenteil von Trauerarbeit war: Es war der verzweifelte Versuch einer Tochter, an der Mutter festzuhalten. All die Umständlichkeit, mit der ich die Dinge beräumte, statt sie kurzerhand in einen großen Container zu werfen oder einen Entrümpelungsservice zu beauftragen; all die Hartnäckigkeit, mit der ich wieder und wieder ein Warum formulierte, für das es ohnehin keine endgültige Antwort geben konnte: Das waren keine Zeichen von Trauerarbeit und Bewältigung. Das war der verzweifelte Versuch, die Mutter am Leben zu erhalten, symbolisch jedenfalls. Eine lebenserhaltende Maßnahme.

Daher der wiederkehrende Traum, in dem die Mutter tatsächlich lebt. Wenn sie lebt, muss ich mir keine Gedanken machen über Sinn und Unsinn ihres Handelns oder die Sinnlosigkeit ihres verfrühten Todes. Ich könnte mich selbst heilen. Doch der Traum ist ein Traum. Der Tod, ihr Tod, bleibt real. So bleiben die Fragen, und mit ihnen das Buch.

Marlen Hobrack, geboren 1986 in Bautzen, hat Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftenstudiert, anschließend war sie für eine Unternehmensberatung tätig. Seit 2016 arbeitet Hobrack für diverse Zeitungen und Magazine, u.a. als Kolumnistin des Freitag. In Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (Hanser 2022) schreibt sie entlang der Biografie ihrer Mutter über Herkunft, Arbeit, Klasse. Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt ist soeben bei Harper Collins erschienen

Marlen Hobrack, geboren 1986 in Bautzen, hat Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftenstudiert, anschließend war sie für eine Unternehmensberatung tätig. Seit 2016 arbeitet Hobrack für diverse Zeitungen und Magazine, u.a. als Kolumnistin des Freitag. In Klassenbeste. Wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet (Hanser 2022) schreibt sie entlang der Biografie ihrer Mutter über Herkunft, Arbeit, Klasse. Erbgut. Was von meiner Mutter bleibt ist soeben bei Harper Collins erschienen

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