Mehr Wachstum: Wie Deutschlands Wirtschaft wieder aufholen kann

Nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft muss sich wandeln

Die gegenwärtige Malaise wird häufig als Politik- und Managementversagen geschildert. Das ist nicht falsch. Eine historische Betrachtung identifiziert noch weitaus mächtigere Kräfte. Daher bedarf es zur Meisterung der Herausforderungen mehr als einer Neuausrichtung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, so unbedingt notwendig sie ist. Es bedarf vor allem einer Mobilisierung einer blockierten Gesellschaft.

Auf die Spur einer mächtigen Kraft des Wandels führt ein Zahlenvergleich. An der Börse wird Apple, ein führendes amerikanisches Unternehmen des Digitalzeitalters, derzeit mit weit über 3 Billionen Euro bewertet. Der Börsenwert von Mercedes, eines führenden deutschen Unternehmens des Industriezeitalters, beläuft sich auf rund 55 Milliarden Euro. Damit übertrifft der Börsenwert von Apple den Börsenwert von Mercedes um mehr als das Sechzigfache. Die beiden Unternehmen befinden sich in verschiedenen Welten.

Die „deutsche Obsession“

Warum? Hier lohnt der Blick in die Geschichte. Die stärkste veränderliche Kraft in der Geschichte der Menschheit ist der technische Fortschritt, und nichts hat das Leben bisher stärker verändert als die industrielle Revolution. Nach ihrem Beginn um 1760 in England breitete sie sich langsam aus, und im späten 19. Jahrhundert übernahm Deutschland die Rolle der führenden Industriemacht, zuerst im Weltmaßstab und später, nach dem Aufstieg der Vereinigten Staaten, zumindest noch in Europa. Mit der mächtigen Entwicklung seiner Industrie wurde Deutschland über alle historischen Brüche der vergangenen 150 Jahre hinweg zu einem bedeutenden Exporteur.

Der Wirtschaftshistoriker Jan-Otmar Hesse hat diese „Geschichte einer deutschen Obsession“ als ein Zusammenwirken einer wirtschaftlichen Exzellenz von Unternehmen und einer politischen Ambition beschrieben. Der Export von Industriegütern durch Großkonzerne und spezialisierte Mittelständler, die berühmten „Hidden Champions“ (Hermann Simon), wurde zum Markenzeichen und zum Objekt von Bewunderung und Neid im Ausland.

Erfolg der deutschen Industrie wurde als selbstverständlich angenommen

Über Generationen trug die deutsche Industrie so zum wachsenden Wohlstand des Landes bei, auch wenn ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) nur noch gut ein Fünftel beträgt und auch in Deutschland die Dienstleistungen längst überwiegend zur Wirtschaftsleistung beitragen. Im internationalen Vergleich der reichen Nationen bleibt der Anteil der Industrie in Deutschland jedoch immer noch hoch; rund ein Viertel der Arbeitsplätze hängt weiterhin vom Export ab. Doch erwies sich das kollektive Glücksgefühl über den langjährigen „Exportweltmeister“ als trügerisch: Der unbestreitbare Erfolg der Industrie wurde in Deutschland gerade zu einer Zeit als selbstverständlich angenommen, in der seine Grundlagen erodierten.

Technischer Fortschritt breitet sich in der Wirtschaft nicht mit Lichtgeschwindigkeit aus. Die indus­trielle Revolution benötigte von ihrem Ausbruch fast ein Jahrhundert, ehe sie sich in vollem Schwung befand. Die digitale Revolution, die eine neue Generation von Technologieunternehmen ermöglicht, nahm ihren Ursprung vor mehreren Jahrzehnten.

Europa ist abgehängt

Ihre umwälzenden Folgen zeigen sich nicht nur in exorbitanten Börsenwerten für Unternehmen wie Apple. Die Weltmarktführer der 40 wichtigsten Zweigen der neuen Technologien finden sich in den Vereinigten Staaten oder in Asien. Europa, und damit auch Deutschland, sind abgehängt und zunehmend abhängig von Riesen aus anderen Kontinenten. So werden digitale Finanzgeschäfte fast ausschließlich über Plattformen amerikanischer Unternehmen abgewickelt. Die Resultate der verpassten Chancen zeigen sich im Verlust der Wettbewerbsfähigkeit. Ein für die Europäische Union erstellter Bericht des früheren italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi erklärt das niedrigere Wachstum der Produktivität in Europa überwiegend mit dem deutlichen größeren Gewicht von Digital- und Technologieunternehmen in den USA. Wo technischer Fortschritt stattfindet, sind Produktivitätssprünge möglich, während die in Europa gepflegte beständige Weiterentwicklung von Produkten in traditionellen Industrien längst nur mehr inkrementelle Produktivitätszuwächse gestattet. Draghi spricht von einer „Innovationslücke“ und konstatiert: „Europa steckt in einer statischen Industriestruktur fest, in der nur wenige Unternehmen in bestehenden Industrien disruptiv wirken oder sich zu neuen Maschinen des Wachstums entwickeln.“ Diese Abwesenheit von Dynamik sei selbsterfüllend.

Die deutsche Industrie hat in den vergangenen Jahrzehnten unter Stichworten wie „Industrie 4.0“ oder „vierte industrielle Revolution“ digitalen Fortschritt vor allem zur Modernisierung und Optimierung ihrer Produktionsabläufe genutzt. So erlaubt die Einführung von neuen Modulen in Produktionsstraßen eine willkommene Flexibilisierung in der Herstellung von Gütern. Die Ergebnisse zeigen sich in nicht selten beeindruckenden Weiterentwicklungen bestehender Produkte durch qualifizierte Arbeitskräfte und eine wachsende Zahl von Industrierobotern in hocheffizienten Fabriken.

Aber am Ende bleibt ein auch mit Blick auf Verbrauchswerte, Sicherheit, Komfort und Umweltverträglichkeit optimierter Verbrenner ein Verbrenner. Nicht zufällig tut sich die deutsche Industrie gleichzeitig schwer, wettbewerbsfähige Elektroautos in großer Zahl auf die Straße zu bringen. Ein mit der Verwendung von Technologie leistungsgesteigertes Industrieunternehmen verwandelt sich nicht automatisch in einen erfolgreichen Anbieter von Technologie.

Deutschland hat Potential

Wer in Deutschland nach einem großen und erfolgreichen, auch international bedeutenden Technologiekonzern fragt, erhält meist als Antwort: SAP. Das Walldorfer Unternehmen, mittlerweile auch schon gut 50 Jahre alt, hat sich in seinem Markt für Unternehmenssoftware eine ansehnliche Position aufgebaut und zu bewahren verstanden. Sein Börsenwert von 243 Milliarden Euro ist für Deutschland mehr als stattlich, für globale Technologieunternehmen eher durchschnittlich.

An Talenten fehlt es in Deutschland keineswegs, auch nicht an der Zusammenarbeit zwischen sehr guten Hochschulen und Unternehmen, wie das Beispiel der Technischen Universität München mit ihrem Campus in Garching belegt. In Heilbronn, schon heute ein Zentrum für die digitale Zukunft in Deutschland, wird ein Innovationspark Künstliche Intelligenz entstehen. Das und vieles andere ist mehr als respektabel; Deutschland besitzt bei genauerem Hinsehen mehr Potentiale, als es der düstere Zeitgeist vermuten lässt. Aber das Silicon Valley ist und bleibt eine andere Hausnummer.

8 Prozent der Weltbevölkerung und 60 Prozent der weltweiten Sozialausgaben

Eine Spurensuche nach den Ursachen der heutigen Schwierigkeiten führt zurück in die Zeit des vermeintlich größten Glücks: in die Jahre nach der Wiedervereinigung. Nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus traten viele weitgehend abgeschottete Länder in die globale Arbeitsteilung ein. Zum für die Weltwirtschaft wichtigsten Land wurde die Volksrepublik China.

Nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) vertiefte sich die weltwirtschaftliche Zusammenarbeit, von der die deutsche Industrie sehr stark profitierte. Sie exportierte Maschinen und andere Ausrüstungsgüter in Länder, die möglichst rasch die Industrialisierung nachholen wollten. Für die sich dort rasch bildende Mittel- und Oberschicht stellten die deutschen Autohersteller repräsentative Fahrzeuge zu hohen Preisen bereit. Währenddessen vereinnahmten die westlichen Regierungen die „Friedensdividende“ und kürzten ihre Militärausgaben zusammen. Das eingesparte Geld verwendeten sie, keineswegs im Widerspruch zur Mehrheit der Wähler, überwiegend nicht für produktive Investitionen, sondern für den Ausbau der Sozialstaaten.

Das Ergebnis für die Europäische Union zeigt eine Unwucht: Sie vereinigt 8 Prozent der Weltbevölkerung, auf sie entfallen rund 15 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung – und sie zeichnet für mehr als 60 Prozent der Sozialausgaben in der Welt verantwortlich. Ein sehr gut ausgebauter Wohlfahrtsstaat mag für viele Menschen erstrebenswert sein. Aber man muss ihn sich auch leisten können.

Dreifaches „Outsourcing“ war für Deutschland folgenreich

Die deutsche Situation besitzt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern zusätzlich drei Spezifika; daher wird Deutschland zunehmend als Solitär wahrgenommen. Das erste Spezifikum erklärt sich aus einer gefühlten europäischen Mittellage nach dem Umzug der Regierung nach Berlin. Die Bundesrepu­blik blieb in den wichtigsten westlichen Institutionen, der Europäischen Union und der NATO. Aber aus der geographischen Mitte Europas heraus sah man sich, wie schon mehrfach in der Geschichte, als eine Macht zwischen Ost und West. Das war schon früher schiefgegangen, und so war es auch dieses Mal.

Die politische Wahrnehmung, von „Freunden umzingelt zu sein“ (Volker Rühe), und der Wunsch der Wirtschaft nach günstigen Handelsbedingungen mit möglichst vielen Ländern unabhängig von ihrer politischen Verfasstheit führten zu folgenreichen Orientierungen, die von der Politologin Constanze Stelzenmüller als dreifache Auslagerung („Outsourcing“) bezeichnet worden sind. Deutschland lagerte seine äußere Sicherheit an die Vereinigten Staaten und ihre Militärmacht aus, seinen wirtschaftlichen Erfolg an China und seinen Hunger nach deutschen Einfuhren und seine Energiesicherheit an Russland und sein Gas.

Mehr Wette als Strategie

Warnungen, die es damals gab, wurden hochmütig ignoriert, doch im Nachhinein bleibt unbestreitbar: Die Idee, von Kernkraft und Kohle Abschied zu nehmen und die Energiesicherheit in Zeiten eines zunehmenden, aber kurzfristig schwankenden Anteils von Erneuerbaren auf russisches Gas zu gründen, glich eher einer Wette als einer Strategie. Die Wette ging verloren, und die Kosten sind für Deutschland mit im internationalen Vergleich hohen Energiekosten bitter und wirtschaftlich folgenreich.

Mit allen drei Orientierungen hat man sich geirrt. Die Vereinigten Staaten verlangen von ihren europäischen Partnern zu Recht höhere Ausgaben für Militär, die Abhängigkeit von russischem Gas hat sich als verheerend erwiesen, und China, das sich wirtschaftlich zunehmend unter Druck sieht, versucht seine binnenwirtschaftlichen Schwierigkeiten durch erbitterte Konkurrenz auf den Weltmärkten zu kompensieren. Deutschland muss in einer Welt wachsenden Protektionismus um den Freihandel als eine Quelle des Erfolgs auf den Weltmärkten fürchten.

Das zweite Spezifikum war die Erfahrung, dass Deutschland durch die diversen Krisen der jüngeren Vergangenheit (Finanzkrise, Eurokrise, Covid) wirtschaftlich besser gekommen ist als andere Länder. Zusammen mit der unbestreitbar guten Entwicklung in den Zehnerjahren, die ein Wirtschaftswachstum bei niedriger Inflation und steigender Beschäftigung bescherte, entstand der Eindruck einer Unverwundbarkeit des deutschen Wirtschaftsmodells, aber auch einer Fähigkeit des Staates, sogar unversehens auftauchende Großkrisen mit großen Mengen Geldes erfolgreich bekämpfen zu können.

Ignoranz gegenüber dem Verfall des Landes

Das dritte Spezifikum ist eine lange währende, gleichzeitig erschütternde Ignoranz vieler Menschen gegenüber einem allmählichen Verfall des Landes. Ein Blick ins Archiv zeigt für die Wortkombination „marode“ und „Brücken“ in den Produkten des Hauses Frankfurter Allgemeine seit Jahresbeginn 2010 sage und schreibe 526 Einträge. Die Infrastruktur lässt schon seit vielen Jahren nach, ebenso die Qualität der Bahn, die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems und der bauliche Zustand von Schulgebäuden. Die Bundeswehr wurde in einem beispiellosen Maß entwaffnet. Nicht nur im öffentlichen Dienst sind im Vergleich mit anderen Ländern erhebliche Defizite in der Digitalisierung offenkundig.

Die Ursachen für die lange Ignoranz gegenüber dem allmählichen Niedergang mögen mannigfaltig sein. Mehr Geld für zusätzliche öffentliche Investitionen hätte in den Zehnerjahren trotz der Schuldenbremse zur Verfügung gestanden, sofern die Regierungen auf den weiteren Ausbau des Sozialstaats verzichtet hätten. Dem standen jedoch Erkenntnisse der politischen Ökonomie entgegen: In einer alternden Gesellschaft äußert der Medianwähler eine größere Präferenz für Statuserhalt und den Empfang zusätzlicher Transfers als für Investitionen in eine (ferne) Zukunft. Veränderung gilt zuerst als Bedrohung, nicht als Chance. Für viele Menschen gehört Angst zum ständigen Lebensbegleiter.

Randparteien tragen zur Lösungsverweigerung bei

Die daraus sich ableitende Veränderungsverweigerung wird vornehmlich mit Bezug auf die Menschen in Ostdeutschland diskutiert. Analysen des Meinungsforschungsinstituts Allensbach belegen jedoch, dass sich die Haltungen der Deutschen in West und Ost nicht fundamental unterscheiden. Historisch betrachtet handelt es sich um Weinerlichkeit auf hohem Niveau: Deutsche, die von 1900 bis 1975 lebten, hatten ganz andere und weitaus existenziellere Veränderungen erlebt. Randparteien, die Wählern eine Rückkehr zu einer Vergangenheit versprechen, die es so nie gegeben hat und die auch nicht herstellbar wäre, binden nicht wenige der Veränderungsunwilligen und tragen damit zur Lösungsverweigerung bei.

Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich derweil erheblich zulasten Deutschlands (und Europas) verändert. „Dekarbonisierung, Digitalisierung, demographischer Wandel und wohl auch der stärkere Wettbewerb mit Unternehmen aus China haben strukturelle Anpassungsprozesse ausgelöst, die die Wachstumsperspektiven der deutschen Wirtschaft dämpfen“, heißt es in der jüngsten Gemeinschaftsdiagnose führender Wirtschaftsforschungsinstitute. Ein Teil des Veränderungszwangs wie die digitale Revolution kommt von außen, und für die Fehlurteile und verpassten Chancen Deutschlands in der Vergangenheit gilt der Spruch: Alte Sünden werfen lange Schatten.

Warnung vor „verschärften Verteilungskonflikten“

Deutschland muss mit einer alternden Gesellschaft eine tiefgreifende Modernisierung bewältigen, wenn es seinen wirtschaftlichen Wohlstand zumindest bewahren möchte. Das ist keine Aufgabe, die von Politikern allein bewältigt werden könnte, weil so viel Zeit verloren wurde und sich Mentalitäten ändern müssten. „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“, hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog 1997 gesagt. „Wir müssen Abschied nehmen von lieb gewordenen Besitzständen, vor allen Dingen von den geistigen, von den Schubladen und Kästchen, in die wir gleich alles legen.“ An die verlorene Zeit und eine nachlassende Erkenntnisfähigkeit erinnerte Ingo Wortmann, der Präsident des Verbands der Deutschen Verkehrsbetriebe, auf dem Mobilitätsgipfel der F.A.Z. „Vor 30 Jahren waren wir weiter“, sagte Wortmann zur Diskussionen zur Erneuerung der Infrastruktur.

Die wichtigste Bedrohung für den wirtschaft­lichen Wohlstand Deutschlands befindet sich, durch die Demographie bedingt, auf dem Arbeitsmarkt. Internationale Statistiken legen nahe, dass in Deutschland mehr gearbeitet werden müsste. Dem steht die Demographie entgegen, da nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft in den kommenden zwölf Jahren 19,5 Millionen ältere Menschen aus dem Arbeitsleben in den Ruhestand wechseln werden. Im selben Zeitraum dürften nur 12,5 Millionen jüngere Menschen in den Arbeitsmarkt eintreten. Das Institut warnt vor „verschärften Verteilungskonflikten“ zwischen Jung und Alt.

Eine Geschichte aus dem Frankfurter Allgemeine Quarterly, dem Zukunftsmagazin der F.A.Z.

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Die Demographie zeigt sich wie die digitale Revolution als eine sehr mächtige Kraft, aber sie steht dem erforderlichen Wandel entgegen, denn die Menge der geleisteten Arbeit bleibt für die Wirtschaftsleistung eine wichtige Größe. Wie knapp Arbeit geworden ist, demonstrieren viele Unternehmen, die in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit händeringend Beschäftigte suchen.

Der aus der Demographie entstehende Rückgang an geleisteter Arbeit ließe sich zum Teil durch eine stärkere Mobilisierung von in Deutschland lebenden Personen erreichen. Heute nicht arbeitende Menschen könnten eine Arbeit suchen, und Menschen, die Teilzeit arbeiten, könnten ihre Arbeitszeit aufstocken. Die Debatte um das Bürgergeld verdeutlicht die Verrückung von Maßstäben: Auch früher galt es als selbstverständlich, in Not befindlichen Menschen zu helfen. Aber es galt auch als selbstverständlich, dass sich Arbeit gegenüber Nichtbeschäftigung lohnen muss. Die aktuelle Debatte zeigt, wie sehr gerade die alte Arbeiterpartei SPD im Werben um die Wählerstimmen von Transferempfängern diese simple Erkenntnis verdrängt hat – mit dem Ergebnis einer Abwanderung zahlreicher Arbeiter zu AfD.

Migration in den Arbeitsmarkt ist notwendig

Eine heimische Mobilisierung wird nicht reichen, um das Arbeitskräftedefizit zu schließen. Es bedarf einer kontrollierten Migration in den Arbeitsmarkt. Dieses heikle Thema kann im aktuellen politischen Klima nicht allein der Politik anvertraut werden; notwendig ist ein zivilisierter öffentlicher Diskurs in einer bürgerlichen Gesellschaft. Anders als gelegentlich behauptet, steht kontrollierte Migration in den Arbeitsmarkt der deutschen Tradition nicht fern. Die Anwerbung der sogenannten Gastarbeiter in den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts war nichts anderes.

Arbeitsmigranten müssen sich willkommen fühlen. Dazu bedarf es der Fähigkeit, streng zwischen einer notwendigen gesteuerten Arbeitsmigration und einer aus der Sicht einer wachsenden Zahl von Bürgern zunehmend unkontrollierten, die innere Sicherheit des Landes gefährdenden Migration aus anderen Ursachen zu unterscheiden. Ein nicht zu verhindernder Rückgang des Arbeitsvolumens könnte durch eine Steigerung der Produktivität des Wirtschaftens kompensiert werden. Die schlechte Nachricht lautet: Der europäische Rückstand in der für die Produktivität wichtigen Technologie­branche gegenüber den Vereinigten Staaten lässt sich auf absehbare Zeit kaum aufholen; möglicherweise wird dies in Bereichen wie dem Cloud Computing nicht mehr gelingen.

Ineffiziente Förderpolitik und Bürokratie hemmen Wachstum

Eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik kann die Voraussetzungen für ein Wachstum der Produktivität auf andere Weise verbessern. In Europa gelingt beispielsweise die wirtschaftliche Nutzung von Wissen, das hier geschaffen wird, häufig nicht gut. Eine ineffiziente Förderpolitik der Staaten trägt hierzu ebenso bei wie eine von Risikoaversion geprägte Mentalität vieler Kapitalanleger. Junge und innovative europäische Unternehmen finden heute leichter Finanzierungen in den Vereinigten Staaten. Die seit Jahren geplante, durch nationalen Hader blockierte europäische Kapitalmarktunion könnte wenigstens die schädliche Segmentierung des europäischen Kapitalmarkts überwinden.

Steigerungen der Produktivität sind auch durch eine größere Effizienz des Gemeinwesens möglich. Dies betrifft das Selbstverständnis des Staates ebenso wie jenes der Bürger. Die von zahlreichen Unternehmen beklagte Überbürokratisierung ist Ausdruck eines übertriebenen Lenkungswillens des Staates wie eines Selbstverständnisses einer Verwaltung, die sich nicht als Dienstleister versteht und in der es an Anreizen fehlt, nach Effizienzkriterien zu handeln. Im liberalen Modell agiert der Staat in erster Linie als Regelsetzer und Regelbewahrer.

In der Realität versagt er zunehmend in der Wahrnehmung von Kernaufgaben; stattdessen versucht er mit dem Ordnungsrecht die Wahlfreiheiten seiner Bürger zu beschränken. Eine Klimapolitik, die den Einsatz marktwirtschaftlicher Elemente scheute, dann aber mit Interventionen in die Freiheit der Menschen scheiterte, unterstreicht dieses Versagen. Doch es liegt nicht nur an Regierungen. Infrastrukturprojekte stoßen an den Widerstand von Bürgern, die nur so lange den Ausbau des Streckennetzes der Bahn befürworten, wie er nicht vor ihrer Haustür stattfindet.

Die Deutschen müssen mehr Wandel zulassen

Zu den Rahmenbedingungen des Wirtschaftens zählt auch eine durch geopolitische Spannungen und Populismus bedrohte liberale Weltwirtschaftsordnung, von der die deutschen Unternehmen erheblich pro­fitiert haben. „Die Zeiten, in denen die Globalisierung Handel und Wachstum beflügelte, könnten vorbei sein“, warnt Isabel Schnabel vom Direktorium der Europäischen Zentralbank in einem Gastbeitrag in der F.A.Z. „Da europäische Unternehmen stärker in globale Wertschöpfungsketten eingebunden sind als viele ihrer Wettbewerber, dürfte die Fragmentierung den Euroraum mehr beeinträchtigen als andere.“ Für die deutsche Politik bleibt es vordringlich, für Freihandel und gegen Protektionismus einzutreten.

Es kann kein Zweifel bestehen: Die Deutschen müssen bereit sein, mehr Wandel zuzulassen. Die deutsche Industrie ist nicht am Ende, aber einzelne Zweige produzieren für den internationalen Wettbewerb zu teuer. Eine Reduzierung der Produktion ist hier unausweichlich, doch kosteninduzierten Wandel gab es schon früher. Es hat für Regierungen keinen Sinn, auf Veränderungen unsystematisch mit Subventionen für Unternehmen aus alten Industrien (Kreuzfahrtschiffe) und neuen Industrien (Chips, Wasserstoffwirtschaft) zu reagieren, weil der Staat die künftigen Gewinner nicht kennt.

Mehr privates Kapital statt Staatsgelder

Stattdessen bedarf es besserer politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für eine freie Entfaltung wirtschaftlicher Tätigkeit. Nur sie kann eine allmähliche Modernisierung im Marktprozess erreichen, der jeder staatlichen Planung überlegen bleibt. Das hat die Geschichte hinreichend bewiesen. Deutschland benötigt mehr Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft und weniger Vertrauen in die lenkende Hand des Staates.

Die scheinbar einfache Antwort der unbeweglichen Gesellschaft und ihrer Politiker lautet jedoch weiterhin: Wirtschaftliche Probleme müssen mit Staatsgeld zugeschüttet werden, obgleich sich zahlreiche Blockaden gar nicht mit Geld beseitigen ließen. Sicherlich wird die Finanzierung von Infrastruktur, Bildung, Verteidigung, Digitalisierung und Klimaschutz viel Geld kosten. Doch ist hier überall der Staat gefordert? Es wäre, abgesehen von der Verteidigung als reiner Staatsaufgabe, sinnvoller, für möglichst viele Projekte das reichlich vorhandene private Kapital zu umwerben.

Eine Legende besagt, die Schuldenbremse verhindere die notwendige Finanzierung des Staates. Sie verhindert heute keineswegs Staatsverschuldung. Nach der Gemeinschaftsdiagnose der Forschungsinstitute dürfte die deutsche Neuverschuldung in den Jahren 2024 und 2025 jeweils rund zwei Prozent der Wirtschaftsleistung ausmachen. Zusammen wären dies mehr als 100 Milliarden Euro.

Statt reflexartig über zusätzliche Staatsverschuldung zu sprechen, wäre eine Priorisierung der bisherigen Ausgaben notwendig. Umschichtungen im Bundeshaushalt zu mehr Investitionen scheitern jedoch an einer kurzfristig kaum änderbaren Zweckbindung vieler Ausgabenposten, und der überwiegende Rest wird von Lobbys entschlossen verteidigt. Rund 130 Milliarden Euro, etwa ein Viertel des Bundeshaushalts, dienen der Alimentierung der gesetzlichen Rentenversicherung. Nicht nur Mentalitäten, auch Zahlen belegen: Deutschland ist ein altes Land.

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