Medien | Inmitten des Rechtsrucks im Netz: Ist Twitch jener neue Raum zu Gunsten von linken Content?

„Weißt du“, sagte ein*e Freund*in neulich, als wir durch Berlin schlenderten, „ich vermisse das Internet von vor 15 Jahren. Die Blogosphäre. Dieses Gefühl, alles und jede*r sein zu können. Diese Erfahrung von Vernetzung. Die Möglichkeit, anonym, aber auf Augenhöhe zu diskutieren.“

Ich nickte und dachte schwermütig an die blühenden Nischen des Internets der 2000er und frühen 2010er: Foren, in denen sich User*innen über ihre Hobbys austauschten, feministische Blogs, auf denen ich mich stundenlang von einem Essay zum nächsten klicken konnte. Ein Internet, in dem es um individuellen Ausdruck ging, nicht um Vermarktung der eigenen Person.

Inzwischen sind die meisten digitalen Räume, vor allem soziale Medien, von den Mechanismen kapitalistischer Verwertungslogik durchdrungen. Im Zentrum der digitalen Präsenz steht auch für viele Linke weniger die Vermittlung von Inhalten, sondern mehr die Pflege einer Marke. Ist es also überhaupt noch möglich, das Internet als Plattform für politische Bildung und Vernetzung zu nutzen?

Blueskys Einzug ins Vampirschloss

Als sich vor zwei Jahren die Plattform Bluesky als Twitter-Alternative etablierte, erinnerte mich die Stimmung dort ein wenig an die des früheren Internets. Bluesky war anarchisch und geprägt von queeren Aktivist*innen, erotischen Künstler*innen und Linken. Es fühlte sich gut an, nicht mehr wie bei Twitter unter der permanenten Beobachtung rechtsradikaler Accounts zu stehen, die jeden polemischen Witz einer queeren oder antifaschistischen Person sofort nutzten, um einen Shitstorm anzuzetteln.

Ohne diesen Druck von außen, dachte ich damals, könnte es vielleicht möglich sein, auch miteinander wieder solidarischer umzugehen, einen progressiven Austausch zu pflegen und sich zu vernetzen. Dieses Gefühl hielt wenige Monate an – dann hielten die Regeln des Vampirschlosses auf Bluesky Einzug.

„Vampirschloss“ ist ein Begriff des 2017 viel zu früh verstorbenen Autors und Kulturwissenschaftlers Mark Fisher. In dem Essay Raus aus dem Vampirschloss analysierte er damit linke Diskurse in digitalen Räumen. „Im Vampirschloss“, schreibt er, „ist man darauf spezialisiert, Schuld zu erzeugen. Man wird angetrieben von dem priesterlichen Wunsch danach, zu exkommunizieren und zu verurteilen, dem akademisch-pedantischen Begehren, der Erste zu sein, der einen Fehler entdeckt, und der Hipster-Lust dazuzugehören.“

Die Währung im Vampirschloss ist die Inszenierung moralischer und politischer Überlegenheit. Diese funktioniert primär über Distinktion. Wer sich ein bisschen in – nicht nur – linken digitalen Räumen auskennt, weiß: Kaum etwas verschafft mehr Reichweite und Interaktion, als andere User*innen für vermeintliches Fehlverhalten „outzucallen“. Was als Fehltritt gilt, ist oft beliebig, mitunter reicht ein falscher Like oder auch nur das Schweigen zu einem Thema.

In der Kürze liegt das Problem

Soziale Medien wurden so zu einer Brutstätte für „paranoides Lesen“. Der von der Feministin Eve Sedgwick geprägte Begriff beschreibt die Tendenz, Texte auf die missgünstigste Art und Weise zu interpretieren – häufig aus eigenen Erfahrungen mit Leid und Diskriminierung heraus. Statt auf Dissens mit einer solidarischen Kritik zu antworten, ist es viel populärer, den*die Absender*in der „problematischen“ Aussage anzuklagen: Schaut mal, was diese verkommene Person von sich gegeben hat! Besonderen Distinktions- und Lustgewinn verschafft das, wenn es sich um eine Person mit gewisser Reichweite und Öffentlichkeit handelt.

Und was ist mit Instagram oder Tiktok? Gerade dort ist es doch wichtig, die jungen Nutzer*innen anzupolitisieren! Beides sind jedoch Räume, die primär auf Ästhetik und Vibes aufgebaut sind und weder längere Texte noch Video-Essays zulassen. Allein die Struktur der Plattformen trägt also dazu bei, dass politische Inhalte oft nur verkürzt dargestellt werden können und mehr der*die Content Creator*in im Fokus steht. Dies kann in Ordnung sein, solange sich diese ihrer Rolle bewusst sind und auf weiterführendes Material verweisen. Dies passiert jedoch selten, denn auf die Expertise anderer zu verweisen, beißt sich mit der eigenen Selbstinszenierung.

Eine Plattform, die sich seit einigen Jahren auch in linkspolitischen Kreisen zunehmender Beliebtheit erfreut, ist Twitch. Twitch begann 2011 als Streamingplattform für Videospiele: User*innen übertragen das Spiel, das sie gerade spielen, auf ihren Kanal, andere können ihnen dabei zuschauen und Kommentare in einen Chat schreiben, worauf der*die Streamer*in direkt reagiert. Inzwischen ist Twitch längst nicht nur für die Gaming-Community interessant: Künstler*innen streamen sich beim Malen oder Musizieren, Content Creator*innen bringen ihren Zuschauer*innen live bestimmte Fähigkeiten – etwa Programmieren – bei.

Mansplaining aus dem Gamingstuhl

Viele linke Content Creator*innen nutzen Twitch als Möglichkeit, um mit ihrer Community zu interagieren, politische Inhalte zu vermitteln oder Spenden zu sammeln. Zum Beispiel die Streamerin Kim „Freiraumreh“ Adam. Sie nutzt ihre Reichweite von über 90.000 Abonnent*innen, um beispielsweise über Seenotrettung aufzuklären. Oder der britische Youtuber Harry Brewis (besser bekannt unter dem Namen HBomberguy), der 2019 in einem 57 Stunden (!) andauernden Stream über 300.000 Euro für das Projekt Mermaids eingenommen hat, das Unterstützung für trans Kinder und Jugendliche bietet.

Wenn ich das politische Tagesgeschehen satirisch kommentiere, hilft es Leuten, den Wahnsinn leichter zu ertragen

Vincent Gather

Der linke Youtuber und Streamer Vincent Gather, der sich in seinen Videos auf humoristische Art und Weise mit den Abgründen des rechtsradikalen Kulturkampfes, Antifeminismus, Rassismus, Antisemitismus und Kapitalismus beschäftigt, sieht sich selbst als „politisches Vorfeld“. Er begreift seine Videos und Streams als Einstieg für Zuschauer*innen, sich mit linken Inhalten zu befassen. „Wenn ich das politische Tagesgeschehen satirisch kommentiere, hilft es Leuten, den Wahnsinn leichter zu ertragen“, sagt er. Dies führt zu einem Gefühl von Community, als säße man mit einem Freund vor dem Fernseher.

Viele linke Streams auf Twitch bestehen jedoch aus einem oder mehreren Männern, die auf ihren Schreibtischstühlen sitzen und ihren Zuschauer*innen das Weltgeschehen erklären. Ich habe Jahre meines Lebens auf Plena, Lesekreisen, Vorträgen und Bündnistreffen verbracht, ich kenne diese Marx-Mansplainer zur Genüge. Anders als ein Plenum fungiert das auf dem Sender-Empfänger-Prinzip basierende Twitch wesentlich stärker als Echokammer und Raum der Bestätigung für den*die Content Creator*in.

Die Debattenkultur ist somit von einem starken Machtgefälle geprägt und der permanente positive Zuspruch von Fans kann zu Kritikresistenz führen. Dass auch progressive Streamer*innen ihre Kritiker*innen vor laufender Kamera zerreißen, gehört zum Unterhaltungswert von Streams. Es bedient das autoritäre Bedürfnis nach Demütigung.

Wie ein digitales Hausprojekt

Ich denke, der gute alte Video-Essay auf Youtube ist tatsächlich noch das beste Mittel, politische Inhalte in digitalen Räumen zu vermitteln. Bei Streams rutschen Content Creator*innen „schnell ins Yappen“, also in belangloses Quasseln ab, sagt auch Vincent. Seine Youtube-Videos basieren auf einem Script und unterlaufen mehrfache Überarbeitungen. Die Form des Videoessays ermöglicht die Demokratisierung von akademischen Inhalten wie Philosophie, Gender Studies oder Filmtheorie auf eine unterhaltsame und ästhetisch ansprechende Art und Weise.

Generell besteht jedoch die Gefahr, dass der Konsum politischer Inhalte im Internet lediglich Ersatzhandlung für die konkrete Organisation bleibt. Denn: Wer braucht schon ein Plenum, wenn der Twitch-Chat die Illusion politischer Gemeinschaft vermittelt? Politisierung im digitalen Raum ist notwendig, um Menschen gegen die autoritäre Wende zu mobilisieren. Die konkrete Organisation in der lokalen Antifa-Gruppe, Gewerkschaften oder der Mietenbewegung kann sie jedoch nicht ersetzen.

Eine Alternative zu der oft hierarchischen Diskussionskultur auf Twitch versucht der linke Content Creator Dennis mit seinem Format Gegenkultur zu bieten. Er will die Prinzipien der antiautoritären Linken auf den digitalen Raum übertragen. Sein Kanal sei das „digitale Äquivalent eines Hausprojekts“: hierarchiefrei und nach DIY-Prinzip organisiert.

Hier kommen User*innen zusammen, um gemeinsam Vorträge zu hören oder Texte zu lesen – und diese anschließend zu diskutieren. Die Atmosphäre ist von gegenseitiger Wertschätzung und Solidarität geprägt. Der Kanal ist nicht monetarisiert. Vor allem motiviert er seine Community dazu, sich in antiautoritären linken Strukturen zu organisieren.

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