Marode Infrastruktur: Soll die Schuldenbremse gelockert werden?

Marode Straßen, heruntergekommene Schulen, spürbare Digitalisierungsdefizite: Der Staat kommt in Deutschland vielen Kernaufgaben nicht mehr ausreichend nach. An Indizien dafür mangelt es nicht. Der Einsturz der Carolabrücke in Dresden war zwar nicht fehlendem Geld geschuldet, sondern eher einer fehlerhaften Prüfung, gleichwohl sind die zusammengeklappten Bauteile zum sichtbaren Symbol für alles geworden, was im Staate nicht mehr funktioniert.

Hinzu kommt ein reicher Fundus an anekdotischen Erlebnissen: Das Abenteuer Bahnfahren ist immer gut, um eine ganze Abendrunde zu unterhalten. Doch die Misere hat längst den Status des Komischen verlassen. Das zeigt sich nicht zuletzt bei der Bundeswehr. Sie ist chronisch unterfinanziert. Das für sie geschaffene Sondervermögen ist so gut wie ausgegeben, die Finanzierung der vom Jahr 2028 an notwendigen Verteidigungsausgaben offen.

Die Industrieländerorganisation OECD bescheinigt Deutschland eine schwache Investitionstätigkeit seit der Jahrtausendwende. Sie sieht einen „Rückstau an Investitionen im Bildungs- und Verkehrswesen sowie im Bereich der digitalen Infrastruktur“. Der Kapitalstock habe sich seit 2003 stark verringert, vor allem auf der Ebene der Kommunen. Nach der OECD-Übersicht aus dem vergangenen Jahr rangiert Deutschland mit Investitionen aus öffentlichen Haushalten bezogen auf die Wirtschaftsleistung an viertletzter Stelle unter 35 aufgelisteten Ländern.

Die Schuldenbremse im Grundgesetz begrenzt die Kreditaufnahme und so die Spielräume der Politik. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt, mit dem die Ampelkoalition nicht genutzte Corona-Kre­dite aus alten Notlagenzeiten für ihre Klimapolitik retten wollte, hat sie schärfer gestellt. Gleichzeitig wächst die Kritik an der Regelung – in den Parteien links der Mitte, aber auch in der Wissenschaft.

Eine Notlage folgte auf die nächste

Die Steuereinnahmen steigen, aber die Ausgaben des Bundes wachsen mindestens so schnell. Die Ampelkoalition ist an der Notwendigkeit gescheitert, in den Normalmodus zurückzufinden. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte Finanzminister Christian Lindner (FDP) ultimativ aufgefordert, einen weiteren Notlagenbeschluss mitzutragen, um eine Lücke von 15 Milliarden Euro im Haushaltsplan für das nächste Jahr mit zusätzlichen Krediten schließen zu können. Als der FDP-Vorsitzende sich widersetzte, flog er aus dem Kabinett. Der unappetitliche Rest ist bekannt. Das Ergebnis ist die vorgezogene Neuwahl am 23. Februar.

Nach einer längeren Übergangszeit entfaltete die Schuldenregel erst im Jahr 2020 ihre volle Wirkung – doch schon wenige Monate später wurde die Kreditobergrenze wegen der Pandemie-Notsituation außer Kraft gesetzt. Später kamen Russlands Überfall auf die Ukraine und die Störung der Energieversorgung als weitere Notlage hinzu. Bund und Länder haben in diesen Krisenjahren hohe Extrakredite aufgenommen. Das hat geholfen, die Sondersituationen zu überstehen. Aber nun erschwert dies die Aufgabe des Bundesfinanzministers, mittelfristig solide Haushalte aufzustellen. Denn Notlagenkredite müssen bald getilgt werden. Der Bund muss im Jahr 2028 beginnen, das trifft also schon die nächste Koalition.

Die geltende Schuldenregel begrenzt die Neuverschuldung des Bundes in normalen Zeiten auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder rund 14 Milliarden Euro. Die Länder hatten bei der Reform im Jahr 2008 auf einen solchen „strukturellen“ Verschuldungsspielraum verzichtet. Doch atmet die Regel mit der Wirtschaftslage. Der zulässige Aufschlag im Abschwung ist spürbar: Nächstes Jahr wären für den Bund gut 40 Milliarden Eu­ro zusätzlich an neuen Schulden möglich, also rund 55 Milliarden Euro. Hinzu kommen die Kredite aus dem Sondervermögen für die Bundeswehr, das, anders, als sein Name suggeriert, nicht aus Reserven besteht, sondern aus einer ei­genen Kreditermächtigung im Grundgesetz.

An Reformvorschlägen mangelt es nicht

Vorschläge zur Reform der Regel gibt es einige. Einige setzen an der Konjunkturkomponente an, auch das Bundesfinanzministerium plante hierzu eine Neuregelung, bevor das Dreierbündnis zerbrach. Andere werben für eine sanftere Rückkehr zur Regelgrenze nach einer Notlage und in dieser Zeit in die Höhe geschossenen Kreditaufnahmen. Weitere Konzepte setzen an den Investitionen an – schlagen also eine Brücke zu der Regelung vor der nun geltenden Neuordnung aus dem Jahr 2009.

Die Bundesbank kritisierte im Jahr 2022, unerwartete Entwicklungen könnten zu einer sprunghaften Finanzpolitik führen. Sie warb daher für eine Reform der Konjunkturbereinigung. Außerdem zeigte sie sich offen, auf die Tilgung von Notlagenkrediten zu verzichten, wenn der Anteil der Schulden am Bruttoinlands­produkt unter der EU-Obergrenze von 60 Prozent liegen sollte (aktuell liegt Deutschland noch etwas darüber, aber nicht viel). Als Finanzminister hatte Lindner mit einem solchen Vorgehen gelieb­äugelt. Allerdings erfordert auch dies eine Änderung des Grundgesetzes.

Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium empfahl im Herbst 2023, die Schuldenbremse um eine goldene Regel zu ergänzen. Danach würden öffentliche Nettoinvestitionen, die schuldenfinanziert sind, nicht auf die maximale Nettokreditaufnahme der Schul­denbremse angerechnet. Bedingung wäre nach seinen Vorstellungen, dass eine unabhängige Instanz ihren investiven Charakter bestätigt.

Der Sachverständigenrat für Wirtschaft schlug Anfang dieses Jahres, also nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, eine Neuregelung vor. Sie enthält drei Elemente: eine Übergangsphase nach einer Notlage, eine höhere strukturelle Defizitgrenze bei einem niedrigen Schuldenstand und eine weniger revisionsanfällige Konjunkturkomponente.

Lockern, reformieren oder beibehalten?

In der politischen Debatte findet sich das ganze Spektrum an Möglichkeiten. Die Linke fordert, die Schuldenbremse durch eine Investitionsregel zu ersetzen – mit ei­ner Neufassung des Investitions­be­griffs. Investitionen wären dann alles, „was zukünftig zu mehr Wachstum führt oder zukünftig Kosten für die Allgemeinheit vermeidet“. Erfasst würden damit auch Bildungs- und Forschungsausgaben. Die weite Definition ließe eine entsprechend weite Kreditaufnahme zu. Das Bündnis Sahra Wagenknecht plant ähnlich üppig: „Investitionen in Brücken, Straßen, Schienen, Schulen, Wohnungen und Netze müssen aus der Schuldenbremse aus­geklammert werden.“ Dagegen hält die AfD an der Schuldenbremse fest. Die FDP auch. Parteichef Lindner schloss zuletzt eine Reform hart aus: „Ich habe mich nicht für die Schuldenbremse auf die Straße setzen und öffentlich herabwürdigen lassen, um mich danach an ihrer Aufweichung zu beteiligen.“

Sozialdemokraten und Grüne sind dafür, die Schuldenbremse zu lockern. Auf dem letzten SPD-Parteitag dominierte die Kritik an der Regelung. Kanzler und nunmehr auch SPD-Kanzlerkandidat Scholz wirbt mit Blick auf gebotene Verteidigungsausgaben und absehbare Tilgungslasten für eine „moderate“ Reform. Die Grünen beschlossen gerade auf ihrem Parteitag, die Schuldenbremse zu ändern, um Investitionen mit Krediten finanzieren zu können. Die Konjunkturkomponente wollen sie ausweiten, „um damit dem Staat zu ermöglichen, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten handlungsfähiger zu sein“. Ergänzend planen sie einen Investitionsfonds für Bund, Länder und Kommunen in wohl dreistelliger Milliardenhöhe. So verweisen sie in diesem Zusammenhang auf Schätzungen, nach denen der kommunale Investitionsstau 186 Milliarden Euro beträgt und der bundesweite sogar 600 Milliarden Euro.

Doch was will die Union? CDU und CSU kommen in den Umfragen auf etwa ein Drittel der Stimmen. Friedrich Merz gilt als aussichtsreichster Kandidat für das Kanzleramt. Während aus CDU-regierten Bundesländern schon länger Stimmen zu hören sind, die sich für einen größeren Kreditspielraum aussprechen, hat die Uni­onsfraktion lange konsequent dagegen­gehalten. Zuletzt waren aber andere Töne von Spitzenmann Merz zu hören, auf einmal schloss er eine Reform nicht mehr grundsätzlich aus, sondern fragte nach dem ihr zugrunde liegenden Zweck.

Die Diskussion um die Schuldenbremse wird sicherlich mit dem Wahlabend nicht aufhören. Denn ohne neues Wachstum der Wirtschaft bleiben die Spielräume im Haushalt extrem eng. Angesichts der hohen Steuerlast verbietet sich ein weiteres Drehen an der Abgabenlast, denn dies würde auf Kosten der Leistungsmotivation und der Investitionsanreize gehen. Doch ein Aufweichen des Kreditlimits stößt jenseits aller ideologischen Blockaden an Grenzen. Zum einen benötigt jede Regierung, die ihre Schuldenfesseln lockern möchte, Unterstützung aus den Reihen der Opposition – denn jede Änderung des Grundgesetzes verlangt eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Zum anderen beschränken die EU-Regeln den Ausgabenanstieg. Dies wird in der nationalen Debatte gern ausgeblendet, aber deswegen verschwindet diese Be­grenzung nicht. Das spricht für eine nationale Schuldenbremse, die das Einhalten der europäischen Vorgaben absichert.

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