Bis heute erinnert Peter Becker sich an diesen Tag im Februar 2022. Um halb zwei am Mittag kam ein Vierzigtonner die verkehrsberuhigte Straße hinab, in der die Beckers in Lüdenscheid wohnen. Der für die enge Straße viel zu große Lkw schlitzte sich an einer Bordsteinkante die Hinterreifen auf. Die Explosion der Reifen katapultierte einen Teil des Bordsteins durch das Fenster des geparkten Autos des Ehepaars. Einem Projektil gleich zerstörte der Steinschlag noch bei den Nachbarn das Küchenfenster. Direkt nebenan war gerade Schulschluss, doch verletzt wurde zum Glück niemand. Noch heute sieht man an Beckers Gartenlaube den tiefen Kratzer vom Abprall des Steins, bevor er bei den Nachbarn einschlug. „Den Stein habe ich dem Landrat geschenkt, als der mal zu Besuch war, wo es um Lkw-Kontrollen ging“, sagt Becker.
Der Rentner ist einer von vielen geplagten Anwohnern in der Stadt im Sauerland, die am 2. Dezember 2021 schlagartig bundesweit bekannt wurde. Ohne Vorwarnung wurde an diesem Tag die Brücke der Autobahn 45 gesperrt, die das Rahmedetal in Lüdenscheid überspannt. Lange war bekannt gewesen, wie schlecht es um die Brücke stand, doch andere Brücken schienen noch maroder. Der Neubau, der seit 2014 geplant war, war so immer wieder verschoben worden.
Mit der Brückensperrung begann für die Anwohner eine jahrelange Tortur. Früher fuhren durch Lüdenscheid an einem Tag 238 Laster, die nicht dorthin gehörten. Nach der Sperrung waren es 7500 Lkw und mehr als 10.000 Autos am Tag. Das hat die „Bürgerinitiative A 45“ gezählt, der Becker angehört. Gut 400 Meter vom Schlafzimmer der Beckers entfernt liegt die Umleitung für die Autobahn. Vor allem nachts hört man die Lkw hupen. Tagsüber kann es passieren, dass man für den Weg zum Supermarkt eine Stunde braucht, weil wieder mal ein Sattelschlepper die Kreuzung blockiert. Ein Durchfahrtsverbot für ortsfremde Lkw wurde erst 2023 eingeführt.
Jetzt soll alles besser werden. Am kommenden Montag, früher als erwartet, soll mit viel politischer Prominenz die erste Hälfte der neuen Talbrücke Rahmede eröffnet werden und den Verkehr in beide Richtungen ermöglichen. Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder will anreisen, ebenso wie Bundeskanzler Friedrich Merz (beide CDU). Sie werden wohl das Deutschlandtempo beschwören, mit dem die neue Brücke errichtet wurde, die schnelleren Genehmigungsverfahren und die schuldenfinanzierten vielen Milliarden Euro, mit denen die Koalition von Union und SPD die Infrastruktur in Deutschland ertüchtigen will. Der Neubau der Brücke kostet 170 Millionen Euro, einschließlich der Sprengung und notwendiger Sanierungen sind es 270 Millionen Euro.
Zahlreiche marode Talbrücken auf der Sauerlandlinie
Allein an der A 45, deren nördlicher Teil Sauerlandlinie genannt wird, gibt es 60 Talbrücken. Sie stammen meist aus der Zeit der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre und müssen ersetzt werden. Der zunehmende Verkehr und die immer schwereren Lastwagen haben an den Bauwerken ihre Spuren hinterlassen.
Im Rahmedetal sind 31 Monate seit Sprengung der alten und 26 Monate seit Grundsteinlegung für die neue Brücke vergangen. Für deutsche Verhältnisse ist das ein beachtliches Bautempo, das auch dadurch erreicht wurde, dass die Brückenteile – anders als sonst – von beiden Seiten des Tals über die Pfeiler eingeschoben wurden. Den ersten Verkehr noch in diesem Jahr ermöglicht der Trick, dass vorerst nur eine provisorische Fahrbahndecke aufgebracht wurde. Sie wird noch einmal ausgetauscht werden müssen, wenn die zweite Brückenhälfte fertig ist. Das wird für Jahresende 2026 erwartet.
Der Neubau der Brücke Rahmedetal ist ein extremes Beispiel dafür, wie sehr die von der Bundesregierung angeschobene Erneuerung der Infrastruktur die Wachstumsaussichten zunächst einmal drücken wird – durch noch mehr Staus auf den Straßen, durch lange Umwege im Transport oder auch durch lange Wartezeiten an Bahnhöfen oder auf Gleisen. Die Wirtschaft im Märkischen Kreis mit Lüdenscheid als zweitgrößter Stadt hat die Sperrung der Autobahnbrücke jedenfalls spürbar belastet. Der Umsatz der ansässigen kleinen und mittelgroßen Unternehmen wuchs nach der Sperrung deutlich langsamer als in ganz Deutschland. Darauf deutet eine Analyse von Datev, dem Informationsdienstleister für steuerberatende Berufe, für die F.A.Z. hin. Die Umsatzdaten, die Datev anonymisiert zusammenfasst und auswertet, zeigen für die ersten Quartale des Jahres 2022 Wachstumsverluste von vier bis sechs Prozentpunkte – im Vergleich zur deutschen Entwicklung. Auch im Vergleich zur umliegenden Region hat die Wirtschaft im Märkischen Kreis sich nach der Brückensperrung deutlich schlechter entwickelt.
„Der Schaden für die ganze Region ist extrem“, sagt Marc Simon, der Geschäftsführer von Cosi Stahllogistik in Hagen und Vizepräsident der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer. Das gilt gemäß der Datev-Analyse vor allem für das verarbeitende Gewerbe. Im Gegensatz dazu hat das Bauhauptgewerbe im Märkischen Kreis sich nach der Brückensperrung im Umsatz überdurchschnittlich entwickelt, verglichen mit der Region und mit ganz Deutschland. Seit 2023 läuft es gemessen am Umsatz auch für den mittelständischen Handel in dem Kreis besser als im Rest Deutschlands. „Das war eine Überraschung“, sagt Timm Bönke, der Chefvolkswirt von Datev. „Die Unternehmen haben sich offenbar an die geänderten Bedingungen angepasst oder konnten sogar etwas profitieren, zum Beispiel durch mehr Kundschaft.“ Das Gastgewerbe im Märkischen Kreis und in der ganzen Region entwickelte sich indes schlechter als im deutschen Durchschnitt. Lkw-Staus in Lüdenscheid und viele Laster, die auf Landstraßen im Sauerland die Autobahnbaustelle umfahren, drücken die touristische Attraktivität der Region.
Giorgio Occhipinti wohnt im Gewerbegebiet in Lüdenscheid direkt über seinem Betrieb. Occhipinti Kunststofferzeugnisse recycelt technische Kunststoffe wie Steckdosen oder Autoteile und vermahlt die Ware zur Weiterverarbeitung. Daraus werden dann hochwertige Montblanc-Füller oder Getriebestecker in Motoren von ZF. Gut 3500 Tonnen Ware schleust der Mittelständler mit seinen zehn Mitarbeitern im Jahr durch Lüdenscheid und setzt damit rund 4,5 Millionen Euro um. „Wir haben uns durch die Brückensperrung in andere Gebiete ausdehnen müssen“, sagt Occhipinti.
Richtung Süden orientiert
In den vergangenen Jahren hat er die Beziehungen mit der kunststoffverarbeitenden Industrie im Hochsauerland ausgebaut. Die traditionellen Kontakte und Lieferungen gen Norden seien durch den Verkehrskollaps in der Stadt und die Umwege praktisch unmöglich geworden. „Es kann sein, dass ich eine Stunde brauche, bis ich auf der Autobahn bin“, sagt Occhipinti. Vor der Brückensperrung brauchte er nur sechs Minuten. „Das ist im Privaten genauso, die ganze Kaufkraft ist verschwunden aus Lüdenscheid“, sagt Occhipinti. „Ich richte mich auch so aus, dass ich eher in den Süden fahre.“
Vor der Sperrung nutzten am Tag rund 48.000 Autos und 16.000 Lkw die Brücke. Sie mussten in den vergangenen Jahren andere Wege suchen. Mit einem volkswirtschaftlichen Schaden von rund 1,5 Milliarden Euro kalkuliert das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Die IW-Forscher erfassen in der Zahl die Kosten durch Staus und Umleitungen sowie Umsatzverluste im Einzelhandel und der Gastronomie, aber auch die Schwierigkeiten in der Anwerbung von Fachkräften. „Ich habe 30 Prozent meiner Arbeitnehmer verloren durch Kündigungen, weil die Pendler waren und nicht mehr gewillt, die Anfahrt zu bewältigen“, sagt Occhipinti. Vereinzelt haben Unternehmen in Lüdenscheid anderswo Büros angemietet und wollen nun zurückkehren.
Das Personalproblem zieht sich durch die ganze Region. Das Familienunternehmen Möhling ist mit 380 Mitarbeitern am Standort Altena einer der größten Arbeitgeber in der Stadt. Seit der Brückensperrung hat der Hersteller von Verbindungselementen zum Beispiel für die Autoindustrie einige Mitarbeiter verloren. In Lüdenscheid gebe es viele große Industriebetriebe, die zuverlässige Mitarbeiter in der Werkslogistik suchten, sagt Geschäftsführerin Britta Hölper: „Wie attraktiv soll ich einen Job als Staplerfahrer gestalten, damit ein Mitarbeiter bereit ist, über vier Jahre dafür jeden Tag zwei bis drei Stunden Arbeitsweg in Kauf zu nehmen? Das ist doch utopisch.“ Auch Nachwuchs sei in der Region schwer zu rekrutieren, weil Staus die Busverbindungen behindern. Die Personalkosten des Mittelstands im Märkischen Kreis sind seit der Brückensperrung weit schneller gestiegen als im Umland oder im Rest der Republik, zeigt die Datev-Analyse.
Die Unternehmen belasten zugleich gestiegene Transportkosten. Lieferanten hätten ihren Lieferrhythmus geändert, wollten teilweise gar nicht mehr kommen oder stellten sehr hohe Transportkosten in Rechnung, berichtet Hölper. Für Auslieferungen müsse man mehr Zeit einplanen. Solche Geschichten kann fast jeder Unternehmer in der Region erzählen.
Lastwagen suchen sich ihre Ausweichsstrecken
„Wir sind ziemlich gebeutelt, was die Infrastruktur angeht“, sagt Hölper. Die Lkw suchten sich abseits der offiziellen Ausweichstrecken ihre Wege. „Damit ist die ohnehin schon marode Infrastruktur in die Knie gegangen.“ Die Schlaglöcher spürt jeder, der in der Region unterwegs ist. Viele Brücken haben tiefe Risse. Manche Infrastruktur ist nach den Überflutungen im Jahr 2021 bis heute nicht wiederhergestellt. „Wenn die nächste der maroden Autobahnbrücken gesperrt wird, wird der Verkehr vermutlich wieder quer durchs Sauerland rollen“, sagt Hölper. Ein Kandidat für eine Sperrung ist die Wiehltalbrücke auf der A 4 zwischen Olpe und Köln. Dort läuft der Verkehr schon nur einspurig.
Die Anstrengung sei mit der Eröffnung der Rahmedetalbrücke noch nicht vorbei, sagt Simon von der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer. Nun müssten andere Straßen in der Region saniert werden. „Ich hoffe, dass die Regierung daraus gelernt hat, dass man mit der Industrie und der maroden Infrastruktur nicht länger spielt.“ Das könne der Standort Deutschland sich nicht länger erlauben.