
Früher war das Brecht-Festival in Augsburg etwas für einen kleinen Kreis von Brecht-Kennern. Mit dem neuen Leiter Julian Warner hat sich das geändert. Jetzt gibt es blutige Boxkämpfe und einen 48-Stunden-Tanzmarathon zu sehen.
Der Geruch von Popcorn liegt in der Luft, während „Kleine Leute“ seinen Gegner mit einem Klappstuhl malträtiert. Drumherum großes Geschrei, in Sprechchören wird „Kleine Leute“ skandiert, jemand ruft: „Brich‘ ihm die Kniescheibe!“ Was wie aus einem Gangsterfilm klingt, ist der Eröffnungsabend vom Augsburger Brecht-Festival: Die Wrestling-Show „Kampf um die Stadt“ verbindet die beliebte Schauprügelei mit aktuellen Problemen der Wohnungspolitik. Sehr zur Freude des bunt gemischten Publikums: Junge Sportfreunde und alte Theaterliebhaber toben gemeinsam, je lauter die Schläge klatschen und je heftiger es jemanden auf die Bühnenbretter schmettert.
Bertolt Brecht hätte das vermutlich gefallen: Der berühmte Sohn der Stadt begeisterte sich für Boxkämpfe. Und er liebte den Plärrer, das Augsburger Volksfest. Gegenüber, in einer alten Textilfabrik und neben einer McFit-Filiale, befindet sich jetzt mit Brechts Kraftklub die zentrale Spielstätte des Festivals. In der oberen Etage wird der Minimal-Music-Klassiker „In C“ von Terry Riley aufgeführt, unten folgt die Wrestling-Show, die Festivalleiter Julian Warner mit Veronika Maurer inszeniert hat. Do-it-Yourself- und Hochkultur, Pop- und Volkskultur, das ist für Warner kein Widerspruch. Nächste Woche gibt es einen 48-Stunden-Tanzmarathon. Wer durchhält, bekommt 5.000 Euro Preisgeld.
„Man muss Brecht den Deutschlehrern entreißen“, so umschreibt Warner seinen Auftrag. Zum Beispiel mit dem Wrestling, wo „Kleine Leute“ wegen angeblichen Eigenbedarfs aus der Wohnung geschmissen wird, um dem englischsprachigen Hipster „Besserer Mieter“ Platz zu machen. Beim „Hau den Hipster!“ hat er schlechte Karten, auch der „Globalistenhasser“ und das „Immobilienimperium“ prügeln auf den modernen Helden des Großstadtproletariats ein. Blut läuft über die Augenbraue, immer wieder fliegt er aus dem Ring – und landet auf dem Schoß überraschter Zuschauer in der ersten Reihe. Ein hautnahes Klassenkampfspektakel, auch bei der Cheerleader-Parade.
Früher war das Brecht-Festival etwas für einen kleinen Kreis von Brecht-Kennern und -Forschern. Vorträge und Gastspiele von Brecht-Inszenierungen prägten das Programm. Man habe Brecht „progressiv gewendet und konservativ gelesen“, selbst seine Frauen waren auserzählt, so Warner. Und dann? Obwohl Brecht, wie die Fugger, zu einer der Dachmarken des Stadtmarketings erklärt wurde, blieb das Interesse auf den kleinen Kreis beschränkt. Doch Brecht selbst forderte einen großen Kreis von Kennern. Nur ist das heute mit den herkömmlichen Kunstmitteln unmöglich, sagt Warner. Als er vor zwei Jahren nach Augsburg kam, war das Festival in einer Krise, so der 1985 geborene Kurator.
Warner gehört zu einer neuen Generation von Kuratoren, die sich nicht mehr an Autor und Werk, sondern an den Communities einer Stadtgesellschaft orientieren. Als Warner in Augsburg startete, ließ er mit einer Parade ein übergroßes Brecht-Porträt in den Arbeiterstadtteil Lechhausen tragen. Stücke wie „Importbräute“ zeigen „Gastarbeiter“-Geschichten im armen Stadtteil Oberhausen. Für die Volkstänze beim Tanzmarathon ist nicht nur der Landesverein für Heimatpflege beteiligt, es stehen auch vietnamesische, griechische und israelische Tänze auf dem Programm. Und beim Frühschoppen mit Weißwürsten gibt es auch eine Halal-Alternative. Alle sollen einbezogen werden.
„Brecht ohne Brecht“?
Festivals wie in Augsburg stehen, wie große Teile der etablierten Kultur, vor dem Problem, dass das Verwalten von Tradition immer weniger Publikum erreicht. Der Rückgriff auf die Zivilgesellschaft verspricht einen Ausweg aus der Legitimationskrise – mit eigenen Problemen. Es drohen Beliebigkeit und Anbiederung an den Zeitgeist, wie bei den Kirchen: Sind die Reihen beim Gottesdienst leer, probiert man es mit Yogakursen und politisch halb garer Besinnlichkeit. Auch die Öffnung für die „postmigrantische, diverse Stadtgesellschaft“, wie es immer heißt, endet nicht selten im Phrasengewitter, das bloß eine kleine Blase im Antidiskriminierungsjargon erprobten Kulturmanagern anspricht, aber selten jene Marginalisierten, für die sie zu sprechen beanspruchen.
Landet man am Ende bei einem „Brecht ohne Brecht“, wie es bei der begleitenden Tagung heißt? Warner hat für seine letzte Ausgabe die „Große Methode“ zum Festivalmotto erklärt, aus Brechts unvollendet gebliebenen „Buch der Wendungen“. Eine Wendung heute ist die weg von Brecht und hin zu den Communities, wie Warner in der Diskussion mit Silke van Dyk erklärt. Die Soziologin kritisiert, dass die Ressource Zivilgesellschaft heute immer mehr ausgebeutet wird, sie nennt das „Community-Kapitalismus“. Van Dyk spricht von einer „Verzweckung von Kunst und Kultur“, weil soziale Probleme an die Kultur und von dort an die Communities outgesourct werden.
Dass man mit Brecht allein heute kaum ein großes Publikum erreicht, liegt auch am Beleuchtungswechsel der sozialen Kritik. Der coole und abgeklärte Sound der dialektischen Analyse, den Helmut Lethen zu den „Verhaltenslehren der Kälte“ zählte, ist der Vorstellung gewichen, die Übel der Welt ließen sich durch Verhaltenslehren der Wärme wie „radikale Zärtlichkeit“ wegkuscheln. Eine weitere Deutung zu „Brecht ohne Brecht“ bietet Dietmar Dath, in dessen Stück „Deine Arbeit hasst dich, weil sie dich nicht braucht“ – am zweiten Tag des Festivals im Augsburger Staatstheater uraufgeführt – eine Horde Digitalzombies den als Sigmund Freud verkleideten Brecht zerfleischt.
Brecht und Freud stehen bei Dath für ein Denken, das nicht auf den Bahnen industriell vorgefertigter Algorithmen verläuft, in dem seelischer Eigensinn zur Voraussetzung von Welterkenntnis wird. Nur erscheint ein solches Denken als hilfloser Humanismus, gegenüber der riesigen Macht künstlicher neuronaler Netzwerke und dem Maschinenlernen, einem an Nick Land erinnernden faschistischen Philosophen und dem Klickviehchor der Cloud. Von André Bücker präzise inszeniert und vom Ensemble glänzend gespielt, gelingt Dath mit seinem Stück zwischen „Brave New Work“-Groteske und Künstliche-Intelligenz-Ideendrama der Beweis, dass man in einer Zeit ohne Brecht mit Brecht und für Brecht schreiben kann. Fast wie beim Wrestling, nur mit Worten.
Source: welt.de