Märchen – Die Gefährten triumphieren

Die Szene ist zeremoniell und zugleich höchst grotesk: Ein schwer kranker Mann, den die Gicht zur völligen Handlungslosigkeit verurteilt hat, wird mit einer aufwendig gebauten Hebevorrichtung in ein Bad hinabgelassen, während der gesamte Hofstaat gebannt zuschaut. Es ist nämlich nicht irgendwer, sondern Karl V., einer der mächtigsten Kaiser der frühen Neuzeit. Längst abgedankt, verbringt er seine letzten Wochen im spanischen Kloster Yuste, wo er seinem eigenen Verfall entgegensieht.

Dass Arno Geiger seinen aktuellen Roman Reise nach Laredo mit diesem seltsamen Bild der Schwäche beginnen lässt, markiert sogleich eine Zäsur. Es geht um das Ende einer politischen Ära voller Unzulänglichkeiten, die ihr Äquivalent in der Realität hatte: Mit seinem Willen, die religiöse Spaltung im 16. Jahrhundert zu überwinden, war der reale Fürst gescheitert. Und einen kontinentalen Frieden konnte er zeitweise nur gewährleisten, indem er dafür Kriege ausfocht. Liest man den Text als Auseinandersetzung mit dem Hier und Heute, so erweisen sich genau jene historischen Herausforderungen als aktuell – sieht sich doch etwa auch das Europa der Gegenwart inneren Fliehkräften ausgesetzt. Es muss Einigkeit signalisieren, wo oft das Trennende dominiert.

Der Protagonist des 1968 geborenen österreichischen Schriftstellers stellt Solidarität letztlich im Kleinen wieder her. Nämlich mit einem Abenteuer, auf das sich der Kaiser unverhofft einlässt. Gemeinsam mit dem jungen Geronimo, dessen geheimer Vater er ist, lässt er des Nachts die Mauern hinter sich und begibt sich ins Tal. Und wie es sich für eine richtige Heldenreise gehört, warten verschiedene Prüfungen. Zu den markantesten zählt die Rettung eines Mannes aus einer wüsten Folterszene am „Galgenberg“. Er, genannt Honza, und seine Schwester gelten als Cagots, Aussätzige, „Verlierer von Geburt“. Als Dank für sein besonnenes Einschreiten begleiten sie den eigentlich immobilen Ex-Kaiser und seinen jugendlichen Gefährten zunächst bis zur „Toten Stadt“. Der Schmelztiegel der dortigen, durchweg seltsam anmutenden Gesellschaft: ein Wirtshaus, wo Glücksspiel, Ausschweifung und Unmoral regieren. Zwar stürzt sich auch Karl zunächst mitten hinein, bricht aber erneut auf, als Honza auf mysteriöse Weise umkommt. Zusammen mit Geronimo und der Schwester des Verstorbenen – möglicherweise eine lose Anspielung auf Maria, Josef und Jesus – reitet er gen Meer …

Wendungsreich ist dieser Plot, und eben spiegelbildlich zu unserer Epoche. Schließlich zeichnet Geiger das zeitversetzte Panorama einer zerrissenen Gemeinschaft. Es wird geprügelt, gehasst, ausgegrenzt, was sich insbesondere an der Diskriminierung des fahrenden Volks zeigt. Von einer „Welt voller Feindseligkeit“ ist die Rede. Darin erscheint Karl wie eine unfreiwillige Lichtgestalt. Trotz seiner gesundheitlichen Defizite gelingt ihm mehr nebenbei Großes: Er fördert den Zusammenhalt, aber eigentlich ist er ein Kauz, der sterben will. Die kleine Reisegruppe erweist sich dabei als pluralistische Gesellschaft en miniature.

Manche Aspekte des Plots könnte man auf ihre Relevanz für unsere Zeit hin befragen, aber man muss es nicht. Andere, teils sperrige Zeichenkomplexe lassen sich zwar schwer decodieren, so etwa Symbole wie Geronimos Armbrust oder ein mehrfach vorkommender Greif. Letzterer steht in der Kulturgeschichte sowohl für eine göttliche Macht als auch für das Böse. Repräsentiert er in Geigers Werk also das allgemeine Übel oder doch eher das Gottvertrauen des Protagonisten? Mit jener verdichteten Symbolik erhebt der Autor das Verschlüsselte zum Programm: „Nur das Unklare zählt. Nur weil die Welt nicht klar ist, gibt es Schönheit, Glück, Träume.“ Die Kultivierung des Verborgenen gipfelt in dem titelgebenden Ort „Laredo, wo das Rätsel gelöst werden wird, wo das Geheimnis tiefer werden wird und dadurch verständlich, nein, umgekehrt“.

Gegen die Demagogen

In diesem Sinne haben wir es hier nicht nur mit einer Geschichte über Selbstfindung und Verantwortung zu tun. Nein, dieser literarische Entwurf vermittelt uns auch die Einsicht in die Undeutbarkeit und Undurchsichtigkeit der Welt. Während heute auf der einen Seite die empirischen Wissenschaften noch die letzten aller Antworten liefern wollen, werben auf der anderen Seite die Demagogen mit banalen Lösungsansätzen für große Herausforderungen. Derweil legt der magische Roman Reise nach Laredo nahe, dass unsere Erkenntnisfähigkeiten stets begrenzt sind. Es gibt Kräfte, deren Macht unsere Art des Begreifens übersteigt. Mit ihnen zu leben, zählt sicherlich zu den wichtigen Botschaften dieses Textes. Oder auch diese: Vielleicht ist die nüchterne Gegenwart schlicht für eine Weile auserzählt.

Abfinden wollen sich die meisten Figuren der Geschichte mit diesem Schicksal keineswegs. Karls Gefährten triumphieren als Kämpfernaturen und Optimisten. Trotz aller Widrigkeiten bäumen sich Honza und seine Schwester gegen ihre vorurteilsbehaftete Herkunft auf. Geronimo wächst derweil über sein Kindsein hinaus und beweist immer wieder ritterlichen Mut, der schließlich belohnt wird – mit der Ankunft in dem titelgebenden Sehnsuchtsort an der Küste. Ein bisschen wie im Märchen also. Dabei ging es doch zu Beginn um einen realen, noch dazu höchst gebrechlichen Fürsten.

Zweifel tun sich auf. Je länger man liest, desto brüchiger wird der Boden unter unseren Füßen. Befanden wir uns schlussendlich nur in dem Traum eines Mannes, der die Welt zu jener Erlösung führen wollte, die er ihr zeit seines Lebens nicht schenken konnte? Noch Tage nachdem man diesen wunderbaren Roman weggelegt hat, türmen sich die Fragen. Man bemerkt, dass man ihn am besten nicht allein lesen, sondern breit diskutieren sollte. Etwas Besseres kann einem Buch kaum widerfahren, dessen Autor sich ganz auf der Höhe seines Schaffens bewegt.

Reise nach Laredo Arno Geiger Hanser 2024, 272 S., 26 €

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