Lyrik | Krieg und Corona: Beate Tröger präsentiert Gedichtbände zur Frankfurter Buchmesse

Beate Tröger liebt Lyrik: Dieses Mal präsentiert sie Gedichtbände, die vom (unfreiwilligen) Unterwegs- und Daheimsein erzählen, von Tanten und von der Poesie rätoromanischer Wörter

Der Nomade galt dank der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari in den 1980ern als zentrale Theoriefigur, die verheißungsvoll für Freiheit und Grenzüberschreitung stand, was in Zeiten von Krieg, Flucht, Vertreibung und Exil durchaus kritisch zu sehen ist. Umgekehrt taugt Pascals Bonmot, das ganze Unglück der Menschen rühre allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen, nach Lockdowns und Quarantäne vielleicht nicht mehr ganz als Lebensmaxime.

Was es bedeutet, unfreiwillig unterwegs, ja getrieben oder auch eingesperrt zu sein, zeigen die Lieder aus dem Rinnstein. Sie stammen von Hans Ostwald, der von 1873 bis 1940 lebte und Gedichte von der Straße, aus Gefängnissen und den verruchten Ecken der Großstadt zusammentrug. Radikal räumte der Arbeitersohn Ostwald 1900 in seinem autobiografischen Roman Vagabonden mit dem romantischen Bild vom Landstreicher, dem Archetypus des postmodernen Nomaden, auf. Die damals in drei höchst erfolgreichen Einzelbänden herausgegebenen „Lieder“ stellen eine konsequente Fortsetzung von Ostwalds Blick auf die Härten eines Lebens am Rand der Gesellschaft dar, auf Ausgrenzung, Armut, Illegalität, die Ostwald auf deren gesellschaftliche Ursachen zurückführte. Zu den Liedern einer Subkultur der Straße, die Ostwald in mittelalterlichen Gedichten oder mit solchen von Büchner, Heine, Goethe und Schiller herausbrachte, von denen jene mit einer „singbaren, weitverbreiteten Melodie“ rasch populär wurden, gehören lustvoll-derbe Lieder oder politische, ironische wie das Schiller’sche Räuberlied: „Stehlen, morden, huren, balgen, / heißt bei uns nur die Zeit zerstreun, / morgen hangen wir am Galgen, /drum lasst uns heute lustig sein.“ Viele Lieder kann man sich auch im Internet gesungen anhören, zu empfehlen etwa Wolf Biermanns Version von Frank Wedekinds Der Tantenmörder.

Über die alte Tante kursieren älteste Klischees, Ricarda Kiel räumt in Tante Alles mit allen auf. Das Debüt der Lyrikerin Kommt her ihr Heinis ich will euch trösten avancierte 2019 rasch zu einem Geheimtipp, die Gedichte in Tante Alles gehören für mich zu den bezauberndsten des Jahres. Sie spielen mit dem Topos des „Mädchens für alles“, das, für die einfachen Arbeiten zuständig, keine Fach-, sondern eine Hilfskraft ist. Kiel deutet diesen Topos im Blick auf eine ganz bestimmte Frauenrolle in emphatischer Weise um: die der Tante, die stets in Beziehung, aber immer auch ein wenig auf Abstand zur Kernfamilie steht, die als „andere Seite von Mutter“ fungiert, die „Freiheit sich zu verschwenden“ besitzt, ebenso die „Freiheit sich zu binden“. Die Tante ist komisch, schräg, anarchisch, liebevoll und auch oft ein bisschen traurig, vielleicht weil ihr eigene Kinder fehlen, im Fall der Kiel’schen Tante auch aufgrund der Erfahrung einer Fehlgeburt und der Kinderlosigkeit. Daraus erwachsen aber anrührende Verse, auch solche, die sich dezidiert mit Zuständen von Fülle und Leere auseinandersetzen, die eine Sprache für seelischen Schmerz und für die Lust am Schöpferischen und Spielerischen gleichermaßen finden: „Ich hielt jahrelang / Gedankenkindern die Händchen / und einmal trug ich etwas / das ein Kind hätte werden können / und eine Weile danach / gebar ich mich selber neu / ich bin jetzt eine männliche Tante / und ein weiblicher Onkel / und eigentlich ein Mond /der jede Nacht woanders aufgeht.“

Das ruhige Sitzen im Zimmer macht auch Ilma Rakusa, Tochter eines Slowenen und einer Ungarin, die seit vielen Jahren als Autorin und Übersetzerin in der Schweiz lebt, in ihrem neuen Band Kein Tag ohne fruchtbar, es ist eine lyrische Chronik der vergangenen zwei Pandemiejahre, manche Gedichte beziehen sich zudem auf den Ukraine-Krieg. Es sind Gedichte, die von der Unruhe einer Kosmopolitin zeugen, die durch Corona in den Stillstand gezwungen worden ist: „Wir könnten slawisch immer weitergehen / das klingt nach Flüssen Auen Horizonten / der Satz macht Lust auf Wanderung / so abgehängt im Stauraum Covid / such ich nach fließenden Modellen / und Licht statt Gottverlassenheit / das Zimmer drückt der Herbst fällt / in die Beete stete Meldungen im Netz: es wird noch schlimmer!“, heißt es in einem der von Rakusa in schöner Regelmäßigkeit niedergeschriebenen Gedichte. Rakusa erzählt vom Ringen um einen Zustand der Gefasstheit in Zeiten der Isolation, von den Versuchen, mit der Sehnsucht nach Reisen, Bewegung, Sichausbreiten mal zornig, mal kalauernd zurechtzukommen: „und jetzt? Gedichtverlauf mit ungewissen / Zeilen die Worte streiten um Gewicht / und ich versuche mein Gesicht zu wahren / der Abend sticht / ein Abend ohne Abendrot mit Abendbrot / das schon und unverschlossener Tür / da will ich slawisch weitergehen / zu Freunden Flüssen Fähren / wenn die Fersen / wenn der Mond mir Wege weisen“, heißt es im Notat vom 25. Oktober 2020. Rakusas Gedichte, die etliches gemeinsam haben mit Elke Erbs, der Büchner-Preisträgerin 2020, 5-Minuten-Notaten, gesammelt in dem Band Sonanz, entspringen aus Alltag und Traum, dokumentieren einen an vielen Stellen geglückten Versuch, der zwangsläufig geschrumpften Erfahrung der Außenwelt ein lebendiges Innen aus Sprache entgegenzustellen.

Eine ganz andere, gleichermaßen expansivewie inwendige Art der Bewegung vollzieht die Lyrikerin, Romanautorin und Kritikerin Angelika Overath. 2007 zog sie mit ihrem Mann und dem Sohn nach Sent im Engadin. In dem kleinen Dorf wird Vallader gesprochen, eines der fünf rätoromanischen Idiome der Schweiz. Overath näherte sich der Sprache behutsam an, indem sie zunächst Tagebuch führte, dann aber bald aus den Vokabeln in der für sie unvertrauten Sprache auch Verse zu formen begann.

Nach den Poesias dals prüms pleds ist nun mit Marchà nair cul azur ein neuer zweisprachiger Lyrikband erschienen. In Schwarzhandel mit dem Himmel hat Overath sich sachte in eine Sprache „hineingeschmuggelt“, von der sie selbst gleich bezaubert war, wie sie im Vorwort berichtet, deren Fremdheit sie aber immer wieder in den Gedichten auch humorvoll und voller Freundlichkeit und Geduld reflektiert, sodass man lesend gleich ein bisschen mitlernen möchte, im Engadin ankommen will, um unterwegs zu sein: „No eschan / estras / in quist pajais. // No stuvain / pür imprender ad incleger / quist regal / exotic. // Ed imprender / ad ir inavant / tschip tschap / sco ün elefant giuven / sur la naiv / chi porta a samada“, schreibt Overath in ihrem Gedicht Vita, dessen deutsche Version sich dann so anhört: „Wir sind / Ausländerinnen / in diesem Land. // Wir müssen / das fremde // Geschenk erst // verstehen lernen. // Und lernen / knirsch knarsch / vorwärtszugehen / wie ein junger Elefant / auf dem Schnee / der morgens gerade noch trägt.“

Lieder aus dem Rinnstein Hans Ostwald Ediert von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz, Die Andere Bibliothek 2022, 424 S., 44 €

Tante Alles. Gedichte Ricarda Kiel hochroth Verlag 2022, 54 S., 8 €

Kein Tag ohne. Gedichte Ilma Rakusa Droschl 2022, 248 S., 23 €

Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà nair cul azur. Gedichte. Deutsch / Vallader Angelika Overath Telegramme Verlag 2022, 124 S., 18 €

Beate Tröger, geboren 1973 im oberfränkischen Selb, studierte Germanistik, Anglistik und Theater- und Filmwissenschaft. Tröger arbeitet als Literaturkritikerin, Moderatorin und Jurorin. Am allerliebsten schreibt, spricht und streitet sie über Lyrik. Sie lebt in Frankfurt am Main

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