Lokale Akteure statt NGOs: Eine verrückte Idee?

Bevor 2020 in ihrer äthiopischen Heimatregion Tigray ein Bürgerkrieg ausbrach, war Tsega Girma eine erfolgreiche Händlerin für Schreibwaren. Aber als auf der Straße vor ihrem Geschäft hungrige Kinder auftauchten, die der Konflikt vertrieben hatte, verkaufte sie alles und nutzte den Erlös, um die Bedürftigen mit Essen zu versorgen. Als ihr Geld zur Neige ging, rief Tsega die Diaspora Tigrays zu Spenden für ihre inzwischen entstandene Stiftung auf. Auf dem Höhepunkt des Krieges sicherte die Emahoy Tsega Girma Charity Foundation für 24.000 Kinder eine Mahlzeit täglich.

Was USAID plant

Auch heute noch – ein Jahr nach dem Ende des Konflikts – versorgt sie 5.000 Kinder mit Nahrung, die nicht nach Hause zurückkehren können. Dafür wird allein lokal eingekauft. Ehrenamtliche lagern Hilfsgüter in den Räumen einer nicht mehr genutzten Bibliothek ein. „Es ist Nothilfe“, erklärt Tsega Girma. „Wir tun das schlicht und ergreifend, um Kinder am Leben zu erhalten.“

Hilfsorganisationen, die von Einzelnen gegründet werden, um eigenen Communitys zu helfen, sind die älteste Form humanitärer Hilfe. Heute werden sie zusehends als die Zukunft eines überlasteten, unterfinanzierten Systems betrachtet, bei dem internationale Organisationen und UN-Agenturen Programme auflegen, aber nicht erfüllen können. In einem jüngst erschienenen Weißbuch zur Entwicklungszusammenarbeit kündigt das britische Außenministerium an, Hilfe an arme Länder „so weit wie möglich über lokale Organisationen“ zu leisten. Auch die US-Agentur für Internationale Entwicklung (USAID) plant, bis 2025 mindestens 25 Prozent ihrer Finanzhilfen über derartige Partner zu verteilen. Bis Ende des Jahrzehnts sollen mindestens 50 Prozent der USAID-Vorhaben einheimische Partner finden.

„Von einer kolonialen Haltung geprägt“

Das Engagement für eine solche „Lokalisierung“ ist nicht neu. Schon 2016 kamen etwa 9.000 Delegierte auf einer UN-Konferenz in Istanbul zusammen, um sich darüber zu verständigen, wie humanitärer Beistand wirksamer werden kann. Eines der Ergebnisse war die Übereinkunft, bis 2020 25 Prozent der Mittel für „lokale und nationale Akteure“ bereitzustellen. Die Idee, mehr Lokalisierung zu betreiben, gewann während der Corona-Pandemie an Bedeutung, als sich Hilfsdienste wegen beschränkter Reisemöglichkeiten auf Vor-Ort-Kontakte stützen mussten. Oxfam-Beraterin Amy Croome: „Vor einigen Jahren galt Lokalisierung noch als verrückte Idee, heute ist das längst eine Art Mainstream.“

Trotzdem gehen nach den Untersuchungen der NGO Development Initiatives in London nur 2,1 Prozent der Gebergelder direkt oder indirekt an lokale Organisationen. Für Kennedy Odede, Leiter von Shining Hope for Communities, einem Netzwerk, das in kenianischen Slums arbeitet, ist „das humanitäre Hilfssystem immer noch von einer kolonialen Haltung geprägt“, mit der das kulturelle Wissen von Organisationen wie der seinen ignoriert werde. Lokale Akteure würden mit dem wenigen, was sie im Vergleich zu internationalen NGOs hätten, viel mehr leisten. „Große Player glauben, sie könnten einfach in eine Community hineinspazieren und das Problem lösen, wenn sie nur genug Geld haben – aber so lässt sich nicht viel erreichen“, sagt Odede, der in Kibera aufgewachsen ist, im größten Slum Afrikas südwestlich von Nairobi.

Konflikte und Klimawandel

Dass Geld für lokale Hilfsgruppen fehlt, ist eine Konsequenz der finanziellen Krise, der das humanitäre, von den Vereinten Nationen gestützte System ausgesetzt ist. Im Vorjahr erhielten die UN nur 43 Prozent der Gelder, die sie erbeten hatten, um Menschen zu helfen. Daraus ergab sich die bisher größte Diskrepanz zwischen Hilfsprojekten und den erforderlichen Mitteln. Und der Bedarf wird weiter steigen, weil das die vielen militärischen Konflikte und der Klimawandel erzwingen.

Da ist es fast paradox, wenn internationale Hilfsorganisationen in einen Wettbewerb mit lokalen Nichtregierungsorganisationen um die knapper werdenden Ressourcen geraten. Letztere werden jedoch, nicht zuletzt in den Vereinten Nationen, mit Argwohn betrachtet, weil sie nur schwer zu kontrollieren sind und selten geprüfte Bilanzen vorweisen können. Dadurch werde Korruption begünstigt, so eine verbreitete Auffassung. Es sei viel effizienter, die Gelder internationalen NGOs zu geben und sie zu beauftragen, Spenden-Arrangements mit einer Vielzahl lokaler Akteure aufzubauen.

Auch die Europäische Union soll keine Gelder für humanitäre Zwecke an Gruppen oder Organisationen vergeben, die keine Vertretung auf EU-Gebiet haben. Und das, obwohl lokale NGOs viel weniger Fixkosten als große internationale Organisationen haben, die sich auf ein Netz gut bezahlter Repräsentanten in etlichen Ländern stützen, beklagt Juliet Donna Eyokia von der ugandischen Community Empowerment for Rural Development. Ein westlicher Entwicklungshelfer in Addis Abeba etwa erhalte ganze 2.000 Dollar im Monat zusätzlich zu seinem Gehalt nur für Mietkosten. Mit diesem Geld allein ließe sich, so Eyokia, das Gehalt von vier oder fünf Mitarbeitern einheimischer NGOs bezahlen.

Fred Harter ist Freelancer in Ostafrika

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