Mit einer Grundsatzentscheidung zur Tarifautonomie hatte das Bundesverfassungsgericht im Februar für großes Aufsehen gesorgt: Die „Anpassung nach oben“, welche das Bundesarbeitsgericht in einem Streit über unterschiedlich hohe tarifliche Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit vorgenommen hatte, verletze die Tarifautonomie, entschieden die Verfassungsrichter (Beschluss vom 11. Dezember 2024 – 1 BvR 1109/21).
Den Tarifvertragsparteien stehe eine „primäre Korrekturkompetenz“ zu, wenn Gerichte feststellten, dass Tarifnormen gegen das Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes verstießen und deswegen unwirksam seien. Die Tarifparteien, die originär für die Ordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zuständig seien, müssten die Möglichkeit erhalten, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat damit einen ganz neuen Weg für die Tarifparteien eröffnet. Ihre „primäre Korrekturkompetenz“ bei Gleichheitsverstößen wurde von Arbeitgeberseite als Meilenstein zur Stärkung der Tarifautonomie gepriesen. Die Neuerung warf allerdings auch zahlreiche Fragen auf, wie es nun weitergehen würde – und in welchen Fällen die Korrekturmöglichkeit der Tarifparteien greife.
Nach EU-Recht gelten andere Regeln
Zu dieser Frage hat sich nun wiederum das Bundesarbeitsgericht geäußert. In Fällen, in denen das EU-Recht verbindliche Vorgaben dazu mache, wie Diskriminierung zu verhindern und Gleichbehandlung zu sichern sei, hätten die Tarifvertragsparteien keine primäre Korrekturkompetenz, entschied der Sechste Senat, dessen Urteile das Bundesverfassungsgericht im Februar gekippt hatte, nun in zwei anderen Verfahren (Az.: 6 AZR 131/25 und 6 AZR 161/24).
Damit klammert das BAG große Bereiche von der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus, etwa Rechtsstreitigkeiten über Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts oder – wie im entschiedenen Fall – die unterschiedliche Behandlung von befristet und unbefristet Beschäftigten.
Vollumfängliche gerichtliche Überprüfung
„Den Tarifvertragsparteien ist im Anwendungsbereich unionsrechtlich überformter Diskriminierungsverbote – anders als bei Verletzungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Grundgesetzes – keine primäre Korrekturmöglichkeit einzuräumen“, entschieden die obersten Arbeitsrichter. In diesen Fällen beschränke sich die gerichtliche Überprüfung auch nicht auf eine bloße Willkürkontrolle – wie das Bundesverfassungsgericht mit Rücksicht auf die Tarifautonomie gefordert hatte. Vielmehr erfordere die Beachtung des EU-Rechts eine vollumfängliche gerichtliche Überprüfung.
Dass die Tarifparteien hier keine Gelegenheit bekommen, den Gleichheitsverstoß zu beseitigen, begründet der 6. Senat mit der Abschreckungsfunktion der Diskriminierungsverbote im EU-Recht. Danach solle es erst gar nicht zu einer Ungleichbehandlung kommen. Der Gleichheitssatz des Grundgesetzes, nach dem alle Menschen gleich zu behandeln sind, entfalte hingegen keine solche Abschreckungsfunktion, argumentiert das BAG.
Klage eines Postzustellers
Der Senat entschied unter anderem über einen Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Reorganisation der Deutschen Post. Die Tarifvertragsparteien hatten für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnisse nach dem 30. Juni 2019 neu begründet wurden, vereinbart, dass ihr Lohn mit der Beschäftigungsdauer langsamer steige. Umstritten war, ob von dieser ungünstigeren Regelung auch Personen wie der klagende Zusteller erfasst werden, die vor dem Stichtag befristet tätig waren und danach fest übernommen wurden.
Das BAG entschied zugunsten des Zustellers: Die Vereinbarung führe zu einer unzulässigen Diskriminierung wegen seines ursprünglich befristeten Arbeitsverhältnisses. Sie sei teilnichtig“. Die Post müsse den Kläger so behandeln, als sei er schon vor dem Stichtag unbefristet beschäftigt gewesen, sein Lohn dürfe also nicht langsamer steigen.