Literaturgeschichte 1933-1945: Mohnsaft, du stillst uns den Schmerz

Wenigstens einen Vorteil hatten die im Exil lebenden Autoren gegenüber ihren in Deutschland verbliebenen und möglicherweise regimekritisch eingestellten Kollegen: Sie konnten ihre Abneigung gegen den Nationalsozialismus und Hitlers Herrschaft mehr oder minder frei zum Ausdruck bringen, sei es in Zeitungsartikeln oder in literarischen Werken. Trotz mancher Einschränkungen und Verbote konnte ein Autor für jeden „antifaschistischen“ Artikel irgendwo zwischen Paris, London, Prag und Moskau eine Zeitschrift und für jedes einigermaßen gelungene Buch über das „Dritte Reich“ einen Verlag finden.

In Deutschland war das anders. Ein Text, in dem es wie in Irmgard Keuns Roman „Nach Mitternacht“ hieß, in Deutschland lebe man „als wie im Konzentrationslager“, konnte innerhalb der Reichsgrenzen nicht gedruckt werden. Er wurde denn auch, nachdem Keun Deutschland verlassen hatte, im November 1936 in der „Pariser Tageszeitung“ als Fortsetzungsroman publiziert, bevor er als Buch Anfang 1937 bei Querido in Amsterdam erschien.

Ein Ende der Tyrannei?

Zwar waren die in Deutschland verbliebenen Autoren nicht zu Huldigungen an den „Führer“ und zu Bekenntnissen zum „neuen Staat“ gezwungen; vielmehr gab es einen gewissen Freiraum. Man konnte sich wie Gottfried Benn mit dem 1936 publizierten Gedicht „Einsamer nie –“ als Außenseiter zeigen, der an dem olympisch stimulierten Gemeinschafts- und Glücksrausch nicht teilhatte. Man konnte sich wie Reinhold Schneider mit zahlreichen Gedichten, die in Deutschland gedruckt und stark verbreitet wurden, zu überlieferten Werten und Traditionen bekennen, solange man nicht ausdrücklich sagte, dass sich dies gegen den Nationalsozialismus richte.

In ihrem Roman „Nach Mitternacht“ heißt es, in Deutschland lebe man „als wie im Konzentrationslager“: Irmgard KeunUllstein

Aber viel mehr war nicht möglich. Werner Bergengruen, der 1937 mit einem Gedichtband unter dem Titel „Der ewige Kaiser“ ein anderes, nämlich christlich geprägtes Reich beschwor, ein neues freiheitliches Gesetz verlangte – „nicht kennend die Willkür, / noch zu Einform / des Wachstums Vielfalt ver­härtend“ – und der Tyrannis ein baldiges Ende prophezeite, tat gut daran, diese ­lyrische Manifestation von Dissens in ­Österreich und ohne Namensnennung drucken zu lassen. Nach dem „Anschluss“ Österreichs wurde nach dem Verfasser gefahndet, doch konnte der Verlag die Anonymität schützen.

Trotz der Sanktionierungsgefahren gibt es eine beträchtliche Anzahl von Texten, die als Ausdruck einer regimekritischen Haltung und Mitteilungsabsicht verstanden werden können. Der Germanist Friedrich Denk hat in seinem Buch „Die Zensur der Nachgeborenen – Zur regimekritischen Literatur im Dritten Reich“ (1995) dreißig Titel benannt und charakterisiert, wobei er ausführlich auf das Problem der Erkennbarkeit und Wertung einging, das sich aus der notwendigen und mehr oder minder guten Tarnung regimekritischer Schriften ergab.

El Greco malt den Großinquisitor

Hier besteht in der Tat ein extrem großer Deutungsspielraum. Als Beispiele können die dreiunddreißig Erzählungen aus den Jahren 1933 bis 1945 dienen, die der Schriftsteller und Verlagslektor Fritz Hofmann 1987 im Berliner Verlag der Nation (DDR) unter dem Titel „Phantom der Angst“ edierte. Der Titel ist der gleichnamigen Erzählung aus Ernst Kreuders Erzählband „Die Nacht des Gefangenen“ von 1939 entlehnt. Als Ober­titel für die Anthologie von 1987 wurde er wohl gewählt, weil alle in ihr enthaltenen Erzählungen etwas mit Beängstigung, Verunsicherung, Einschüchterung, Bedrohung und Verfolgung zu tun haben. Alle können sie deswegen auf das „Dritte Reich“ bezogen und als Ausdruck des latenten Unbehagens oder der manifesten Beängstigung verstanden werden, manche vielleicht sogar als Ausdruck von Dissens und Kritik; Stefan Andres’ Erzählung „El Greco malt den Großinquisitor“ (1936), die in Hofmanns Anthologie zu finden ist, wurde von Denk unter Verweis auf Rezeptionsdokumente als „regimekritisch“ eingestuft. Aber zwingend ist eine Lektüre als „regimekritisch“ keineswegs; „El Greco“ wurde denn auch 1938 im „Völkischen Beobachter“ lobend erwähnt und konnte bis 1944 noch mehrfach problemlos aufgelegt werden.

Stefan Andres (1906 bis 1970)Picture Alliance

Wie die von Hofmann zusammengestellten Erzählungen weisen auch viele andere Texte, die auf die Beängstigungs- und Verfolgungsatmosphäre in Deutschland bezogen werden können, eine solche Unbestimmtheit oder Uneindeutigkeit auf, dass es ohne zusätzliche Zeugnisse nicht möglich ist, festzustellen, ob sie tatsächlich gut getarnte Regimekritik oder nur Darstellung von allgemeiner, überall und jederzeit möglicher Beängstigung sind. Zwei besonders bemerkenswerte Texte dieser Art sind Horst Langes Roman „Die schwarze Weide“ (1937) und Ilse Molzahns Roman „Nymphen und Hirten tanzen nicht mehr“ (1938). Beide handeln von den Zwanzigerjahren, was aber nur auf eine kaum wahrnehmbare Weise angedeutet wird, sodass der Eindruck einer zeitlosen und zugleich unheilvollen Gegenwart entsteht, deren Schilderung man 1937/38 gewiss nur mit großer Beklemmung und fragenden Blicken auf die Gegenwart gelesen haben wird. Wie sehr dies geschah, blieb indessen dem Leser allein überlassen und wurde durch keinerlei Hinweise stimuliert.

Äsopische Schreibweise

Die Tarnungstechniken, deren sich regimekritisch eingestellte Autoren bedienten, wurden 1999 von Heidrun Ehrke-Rotermund und Erwin Rotermund in einer systematisch angelegten Untersuchung mit dem Titel „Zwischenreiche und Gegenwelten – Texte und Vorstudien zur ,Verdeckten Schreibweise‘ im Dritten Reich“ (1999) genauer beschrieben. Der von ihnen exponierte Begriff der „verdeckten Schreibweise“ ist allerdings älteren Datums.

Von ihm stammt der Begriff der „verdeckten Schreibweise“: Der Publizist Dolf Sternberger war auch Redakteur der „Frankfurter Zeitung“.picture alliance / Peter Stein

Er wurde von dem Politikwissenschaftler und Publizisten Dolf Sternberger, der von 1934 bis 1943 Feuilletonredakteur der „Frankfurter Zeitung“ war und über reichliche Erfahrungen mit der Zensur verfügte, 1950 eingeführt und fungiert seitdem als Alternative zu ­Begriffen wie „Camouflage“, „Tarnung“, „Schreiben zwischen den Zeilen“, „verschlüsseltes Schreiben“, „Darstellung in Chiffren“, „äsopische Schreibweise“ oder „Sklavensprache“. In der Rotermund’schen Untersuchung wird er (mit Großschreibung) beibehalten, obwohl die ­Autoren der Meinung sind, dass „das Partizip Präsens (,verdeckende Schreibweise‘) dem Phänomen angemessener wäre“. In jedem Fall ist damit eine Schreibweise gemeint, deren Zweck es war, „bestimmten Lesergruppen kritische Aussagen zu übermitteln und zugleich anderen Lesergruppen, vor allem den Lektoren in den staatlichen Kontrollinstitutionen, die ,eigentliche‘ Bedeutung ebendieser Aussagen vorzuenthalten“ oder, wie man wohl hinzufügen sollte, diese Aussagen so zu tarnen, dass Zen­soren sie möglicherweise verstehen, aber mangels Direktheit oder Eindeutigkeit nicht gegen die Verfasser verwenden konnten.

Formen der Andeutung

Dafür gab es ein ganzes Arsenal von Artikulationstechniken, die mit Begriffen der Rhetorik benannt und beschrieben werden können, etwa Verkehrung wertender Aussagen, Ironisierung, Abbruch von Aussagen, Andeutung von Ähnlichkeiten, Metaphorisierung oder Allegorisierung und dergleichen mehr. Diese Techniken sind alle nicht neu, sondern gehören zu den seit der Antike geübten und beschriebenen Ausdrucksmitteln der Literatur und tragen entscheidend zum Bedeutungsreichtum von Texten bei; in der politisch oppositionellen Literatur verschiedener Zeiten haben sie nur eine besondere Ausrichtung und einen besonderen Stellenwert.

Von Heidrun und Erwin Rotermund wurde das verdeckte oppositionelle Schreiben an vierundzwanzig Texten verschiedener Art exemplifiziert. Der eng­lische Literaturwissenschaftler John Klapper erweiterte das Spektrum der untersuchten Texte mit seinem Buch „Nonconformist Writing in Nazi Germany“ (2015) um zehn oppositionell wirkende Romane. Neuerdings haben der Kirchenhistoriker Gerhard Ringshausen mit seiner umsichtigen Untersuchung „Das widerständige Wort – Christliche Autoren gegen das Dritte Reich“ (2022) und die Literaturwissenschaftlerin Kristina Mateescu mit ihrer methodologisch ambitionierten Studie „Engagement und esoterische Kommunikation unterm Hakenkreuz am Beispiel des Hochland-Kreises“ (2022) das Spektrum der untersuchten Texte noch einmal erweitert und zugleich die Prozeduren des „verdeckenden Schreibens“ und des „aufdeckenden Lesens“ vertiefend erörtert.

Übte Kritik in Form des verdeckten Schreibens: Friedrich Georg Jünger (hier 1958)Picture Alliance

Hauptkennzeichen dieser Texte war ihre ­allegorische Faktur, in welcher das Dar­gestellte neben der vordergründig­wört­lichen eine nicht wörtlich benannte, aber hintergründig gemeinte und für aufmerksame Leser erkennbare Bedeutung hat. Sie reden nicht direkt über den Nationalsozialismus oder das „Dritte Reich“, sondern über einen perversen Zustand der Welt (Gottfried Benns großes Gedicht „Monolog“, 1941), über einen politischen Mord in der Renaissance (Werner Bergengruens Roman „Der Großtyrann und das Gericht“, 1935), über einen historischen Fall von Massenwahn (Friedrich Reck-Malleczewens Roman „Bockelson“ über das Münstersche „Täuferreich“, 1937) oder über die Zerstörung einer ­gewissen Zivilgesellschaft durch einen despotischen Usurpator (Ernst Jüngers Erzählung „Auf den Marmorklippen“, 1939).

Explizite Allegorien?

Diese Rede über anderes als die politische Gegenwart geschieht aber so, dass der Leser sich über kurz oder lang angehalten fühlt, nach Analogien zwischen dem dargestellten Geschehen und den realen Verhältnissen zu suchen. Anlass dazu bieten thematische Bezüge, Vokabular und die Andeutung von Vergleichsmöglichkeiten. Es handelt sich gewissermaßen um „explizite“ oder „gemischte“ Allegorien, die den Leser durch mehr oder minder deutliche Hinweise zur Allegorese, also zur Übertragung des Gelesenen auf anderes auffordern (während die oben genannten Erzählungen als „implizite“ oder „reine“ Allegorien zu bezeichnen wären, weil sie keine derartigen Impulse aufweisen).

Wie die allegorischen Dissenserklärungen verstanden wurden, hing von der Lesefähigkeit und vom Deutungswillen der Rezipienten ab. Mustergültig zeigt sich dies an Friedrich Georg Jüngers Gedicht „Der Mohn“, das 1934 im ersten ­Lyrikband dieses Autors erschien. Es ist ein langes Klagegedicht in kunstvollen elegischen Distichen. Als Hintergrund der Klage wird ein Machtwechsel erkennbar, der das „Niedere“ oder „Gemeine“ nach oben gebracht und eitle „Schwätzer“ und „Schauspieler“ in Regierungsämter gehoben hat. Nicht Verdiensten, sondern erbärmlichen Schandtaten – einschließlich des Brudermords – verdanken sie ihre Macht und ihren Ruhm, wes­wegen der Sprecher des Gedichts sich ­angewidert abwendet und zum bewusstseinsbetäubenden und schmerzstillenden Mohn seine Zuflucht nehmen will.

Habt ihr feindliche Heere geschlagen, die

Fürsten gefangen,

Risset ihr Ketten entzwei, die euch der

Sieger gestückt?

Nein, sie bejubeln den Sieg, der über

Brüder erfochten,

Süsser als Siege sie dünkt, die man in

Schlachten erstritt.

Schmerzend hallt in den Ohren der Lärm

mir, mich widert der Taumel,

Widert das laute Geschrei, das sich

Begeisterung nennt.

Thomas Mann, der Jüngers Gedichte von seinem Verleger Gottfried Bermann-Fischer in die Schweiz gesandt bekam, las „Mohn“ ausweislich der Tagebuchnotiz vom 30. November 1934 als ein Widerstandsgedicht „von fabelhafter Aggres­sivität gegen die Machthaber“. Auch ­andere Exilanten verstanden es so. Im März 1936 druckte das Pariser „Neue ­Tage-Buch“ das Gedicht fast vollständig ab und meldete zugleich, der Verfasser habe dieses Gedichts wegen nach Schweden fliehen müssen.

Aber Friedrich Georg Jünger blieb unbehelligt, und das „Mohn“-Gedicht konnte in Deutschland weiterhin gedruckt werden, sowohl in der zweiten und dritten Auflage der „Gedichte“ 1935 und 1936 als auch in der Sammlung „Der Taurus“ 1943. Dass der sub­versive Charakter des Gedichts den NS-Kontrolleuren entgangen sein sollte, ist unwahrscheinlich. Aber wie im Fall von Ernst Jüngers „Marmorklippen“ entschloss man sich in den Kontrollämtern wohl, sich so zu verhalten, als wäre von der nationalsozialistischen Gegenwart nicht im Entferntesten die Rede.

Der Text ist ein Vorabdruck aus Helmuth Kiesels am 11. November bei C.H. Beck erscheinendem Band „Schreiben in finsteren Zeiten“, einer Geschichte der deutschsprachigen Literatur zwischen 1933 und 1945.

Source: faz.net