Über Rechtsextremismus wird fleißig geforscht, über das Extrem auf der anderen Seite hingegen kaum. Doch das könnte sich bald ändern. Denn von links droht mehr Gewalt als bisher. Vier Szenarien.
Linksextremismus ist das Stiefkind der Extremismusforschung. Im Vergleich zum Rechtsextremismus und Islamismus gibt es nur relativ wenige wissenschaftliche Publikationen. Kaum ein Forscher widmet sich dem Thema schwerpunktmäßig. Dafür gibt es nachvollziehbare Gründe. Der Rechtsextremismus hat in Deutschland viel größeren Schaden angerichtet als der Linksextremismus. Und im Vergleich zum Islamismus gilt der Linksextremismus – zumindest seit dem Ende der RAF – als weniger gefährlich: Die Vorstellung, Gewalt von Linksextremisten richte sich ausschließlich gegen Sachen, nicht Menschen, ist nach wie vor weitverbreitet.
Doch das könnte sich ändern. Seit Jahren registriert der Verfassungsschutz einen stetigen Zuwachs in der linksextremistischen Szene – zuletzt lag das Personenpotenzial bei knapp 40.000. Auch die Zahl der Straftaten ist deutlich gestiegen: Zwischen 2023 und 2024 nahm sie um fast 40 Prozent zu. Zwar gingen linksextremistische Gewalttaten im letzten Jahr zurück, doch das „gewaltorientierte“ Spektrum umfasst laut Verfassungsschutz weiterhin über 10.000 Personen. Zudem warnen die Behörden vor einer Radikalisierung kleiner Netzwerke und von Einzeltätern – ein Phänomen, das auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten ist.
Anarchisten und Kommunisten
Im Grunde genommen ist nichts an dieser Entwicklung überraschend. In westlichen Demokratien haben sich gesellschaftliche und politische Konflikte in den vergangenen Jahren stark zugespitzt, wovon alle Formen des Extremismus „profitiert“ haben – auch der Linksextremismus. Zugleich hat sich der allgemeine Diskurs in vielen Ländern nach rechts verschoben. Für viele Linke ist dies eine existenzielle Bedrohung, die auch die Mobilisierung in den Linksextremismus begünstigt.
Traditionell besteht die linksextremistische Szene vor allem aus Anarchisten und Kommunisten, die beide – wenn auch auf unterschiedliche Weise – die Vision einer totalitär-egalitären Gesellschaft verfolgen. Doch besonders in den letzten Jahren sind linksextreme Milieus deutlich vielschichtiger geworden: Ein wiedererstarkter Anti-Imperialismus sucht die Nähe zu islamistischen Akteuren – besonders beim Thema Palästina; „identitäre“ Linke richten den Fokus auf die Unterdrückung sexueller Minderheiten; und ökologisch orientierte „Kapitalismuskritiker“ sehen den Hauptfeind in Wachstum und Technologie.
Es ist daher dringend notwendig, den Linksextremismus wieder stärker in den Blick zu nehmen. Basierend auf aktuellen Entwicklungen lassen sich mindestens vier Szenarien ableiten, in denen Linksextremismus zu politisch motivierter Gewalt und sogar Terrorismus führen könnte – oder dies bereits getan hat.
Szenario 1: Antifa
Eine der größten Gefahren geht von autonomen Gruppen aus, die sich häufig als „Antifa“ bezeichnen. Dabei handelt es sich um lose miteinander verbundene Netzwerke, die seit Jahrzehnten überall im Bundesgebiet – und auch international – aktiv sind. Die Antifa ist zwar keine klassische Organisation, ihre Anhänger teilen jedoch eine gemeinsame Identität, stehen miteinander in Kontakt und greifen auf ähnliche Taktiken zurück. Ihr erklärtes Ziel ist es, einem Wiedererstarken des Faschismus früh und entschlossen entgegenzutreten – fast immer durch offene Konfrontation.
Dies zeigt sich in Angriffen auf als „faschistisch“ eingestufte Personen und Parteibüros, in Störaktionen bei Veranstaltungen oder als „schwarzer Block“ bei Demos „gegen rechts“. Besonders in Ostdeutschland kam es dadurch in der Vergangenheit immer wieder zu Ausschreitungen zwischen linken und rechten Extremisten, bei denen kaum zu klären war, von wem die Gewalt ausging.
Die Faschismus-Definition der Antifa ist so dehnbar, dass auch Polizisten, Beamte und konservative Politiker regelmäßig zu Opfern werden. In den letzten Jahren rückte jedoch zunehmend die AfD in den Fokus. Seit 2015 ist die Partei mit großem Abstand am häufigsten Ziel von politisch motivierten Angriffen – sowohl bei Sachbeschädigungen (etwa an Parteibüros oder Fahrzeugen) als auch bei körperlichen Übergriffen auf Parteivertreter und Wahlkämpfer. Von den 1400 Angriffen auf politische Parteien im Jahr 2023 entfiel laut BKA mehr als die Hälfte auf die AfD. Wo Tatverdächtige identifiziert werden konnten, stammten diese in den allermeisten Fällen aus dem Antifa-Milieu.
In den kommenden zwölf Monaten könnte die Gewaltbereitschaft nochmals deutlich zunehmen. Hintergrund ist der wachsende Zuspruch für die AfD. Bei bevorstehenden Landtagswahlen in zwei ostdeutschen Ländern hat die Partei gute Chancen, nicht nur stärkste Kraft zu werden, sondern auch Regierungsverantwortung zu übernehmen. Aus Sicht der Antifa wäre dies nicht weniger als eine faschistische Machtergreifung — und ein Szenario, das es mit allen Mitteln zu verhindern gilt.
Szenario 2: Anti-Imperialismus
Eine zweite Entwicklung ist die zunehmende Radikalisierung im Zuge des Gaza-Konflikts. Aus Sicht sogenannter Anti-Imperialisten ist Israel eine „weiße Siedlerkolonie“, deren Zweck darin besteht, den Nahen Osten im Auftrag des Westens zu beherrschen. Zionismus gilt ihnen als Form des Rassismus, Palästinenser sehen sie als unterdrücktes Volk – und der Kampf gegen die „Unterdrücker“, also gegen (jüdische) Israelis, wird nicht als Terrorismus, sondern als legitimer Widerstand interpretiert.
Eine zentrale Rolle spielte in den letzten zwei Jahren dabei der Genozid-Vorwurf, also die Idee, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord gegen die palästinensische Bevölkerung begehe. Er trug maßgeblich zur Eskalation bei, weil sich damit praktisch jede Form des „Widerstands“ – bis hin zur Gewalt – rechtfertigen ließ.
Überall im Westen kam es zu Protesten in bislang ungekanntem Ausmaß. Allein in Deutschland verzeichnete die Antisemitismus-Meldestelle RIAS eine Verfünffachung von Versammlungen mit antisemitischen Inhalten. Viele dieser Kundgebungen gingen mit Sachbeschädigungen, Ausschreitungen gegen die Polizei und teils auch mit Angriffen auf Juden oder vermeintliche Zionisten einher.
Nicht alle diese Aktionen lassen sich zu 100 Prozent Linksextremisten zuschreiben. Was sich abzeichnet, ist vielmehr eine wachsende Kooperation zwischen linksextremistischen Anti-Imperialisten und islamistischen Gruppen aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft, die zwar unterschiedliche Ziele verfolgen, aber in Israel einen gemeinsamen Feind sehen. Als „Vermittler“ fungieren häufig linksextreme palästinensische Gruppen – wie zum Beispiel die (in Deutschland verbotene) Samidoun –, die Zugang zu beiden Seiten haben.
Als Konsequenz der aktuellen Friedensbemühungen könnte diese Form linksextremistischer Mobilisierung wieder nachlassen. Sollte der Friedensprozess jedoch ins Stocken geraten, scheitern oder gar zu einer neuen Eskalation führen, ist zu befürchten, dass die neu entstandenen Netzwerke wieder für Chaos und Gewalt sorgen.
Szenario 3: Kulturkampf
Ein relativ neues Phänomen sind auch sogenannte „Kulturkämpfe“, die vor allem sozio-kulturelle Themen in den Mittelpunkt stellen. Auf linker Seite lässt sich in diesem Zusammenhang der Aufstieg einer „identitären“ Bewegung beobachten, die häufig mit dem englischen Begriff „woke“ (deutsch: „politisch wach“) beschrieben wird.
Ursprünglich ging es ihr darum, das Bewusstsein für historische Ungerechtigkeiten sowie die Marginalisierung ethnischer und sexueller Minderheiten zu schärfen. Inzwischen sind jedoch stark dogmatische Strömungen entstanden, die westliche Gesellschaften entlang ethnischer und sexueller „Identitäten“ aufteilen, um Menschen entweder als „Opfer“ oder „Unterdrücker“ zu klassifizieren. Der demokratische Staat – mitsamt seinen Institutionen – ist nach dieser Auffassung von Grund auf rassistisch und sexistisch.
Zum zentralen „Schlachtfeld“ ist in den letzten Jahren vor allem die Stellung von transsexuellen Personen geworden. Wer die linksidentitäre Agenda bei diesem Thema nicht vollständig teilt, sieht sich aggressiven Angriffen ausgesetzt – von tagelangen „Shitstorms“ in den sozialen Medien bis hin zu Versuchen, die berufliche Existenz zu zerstören. Ein besonders alarmierendes Phänomen ist die sogenannte Transtifa-Szene – ein Netzwerk radikaler Aktivisten, die in der Tradition der Antifa stehen und zu physischen Angriffen auf Gegner aufrufen.
In den USA sprechen radikale Netzwerke mittlerweile sogar von einem „Trans-Genozid“, und einige haben bereits „Tage der Vergeltung“ proklamiert. Auch der mutmaßliche Mörder des rechtskonservativen – und transfeindlichen – Aktivisten Charlie Kirk wird verdächtigt, aus diesem Motiv heraus gehandelt haben.
Wie groß die Gefahr in Deutschland ist, lässt sich schwer einschätzen. Doch stärker noch als bei den anderen Phänomenen agieren radikale „Kulturkämpfer“ in transnational vernetzten Online-Subkulturen. Gerade deshalb sollte ihr Einfluss auch hierzulande nicht unterschätzt werden.
Szenario 4: Anti-Kapitalismus
Im Unterschied zu den neuen „Kulturkämpfen“ gehört der Anti-Kapitalismus seit jeher zur DNA der Linken und bildet in vielerlei Hinsicht die Wurzel der gesamten Bewegung. Im Laufe der Zeit hat sich die Kapitalismuskritik allerdings immer wieder gewandelt. So verlagerte sich der Fokus der Klimabewegung, die 2018 entstand, mit der Zeit immer stärker auf einen Kampf für „Klimagerechtigkeit“, der vor allem westlich-kapitalistische Staaten ins Visier nahm. Parallel dazu gewannen Anhänger sogenannter „Degrowth“-Theorien an Einfluss, die Wirtschaftswachstum – und damit das westliche Wirtschaftsmodell insgesamt – als zentrales Problem betrachteten.
An diese Strömungen knüpften radikale Gruppen wie etwa die „Letzte Generation“ an, die durch illegale Störaktionen mediale Aufmerksamkeit suchten. Auch wenn die Protestwelle inzwischen abgeflaut ist und sich bislang keine „Grüne RAF“ herausgebildet hat, wird in radikalen Zirkeln weiterhin über extremere Aktionsformen diskutiert. Einer ihrer Vordenker schrieb ein Buch mit dem Titel „Wie man eine Pipeline in die Luft jagt“.
Spätestens seit der erneuten Machtübernahme Donald Trumps in den USA hat sich die Stoßrichtung der Bewegung erneut geändert. Im Zentrum der Kapitalismuskritik steht nun nicht mehr allein (fossiles) Wachstum, sondern zunehmend auch Technologie – speziell in Form amerikanischer Technologiekonzerne und ihrer superreichen, meist radikal-libertär orientierten Gründer. Diese Entwicklung scheint nahezu alle Strömungen der kapitalismuskritischen Bewegung zu einen. Sie ist auch für klassische Anti-Imperialisten und die Antifa – die in Trump einen Faschisten sieht – wieder attraktiv.
Die Konsequenz sind häufiger werdende Sabotageakte gegen technologische Infrastruktur, etwa Telekommunikation, Rechenzentren oder die Automarke Tesla. Als Rechtfertigung heißt es, diese Aktionen seien Formen des „Widerstands“ gegen den kapitalistischen Zwang zu endlosem Wachstum und die heraufziehende Bedrohung digitaler Polizeistaaten. Mit steigender Arbeitslosigkeit durch Automatisierung und künstliche Intelligenz könnte sich dieser Trend in Zukunft noch verstärken.
Wo Grenzen überschritten werden
Linksextremistische Gruppen und Strömungen sind also zweifellos stärker geworden, und sie haben das Potenzial, auch in den kommenden Jahren weiter zu wachsen. Traditionelle Milieus – wie etwa der Anarchismus – überlappen und verknüpfen sich dabei zunehmend mit neuen Strömungen und solchen, die eigentlich aus anderen Extremismus-Bereichen stammen, insbesondere dem Islamismus. Das Ergebnis ist eine weit vielfältigere Szene als noch vor einem Jahrzehnt.
Wie in allen anderen Phänomenbereichen gilt auch hier, dass man zwischen legitimen Anliegen und ihren extremistischen Ausprägungen unterscheiden muss. So wie Islam nicht mit Islamismus gleichzusetzen ist und Konservatismus nicht zwangsläufig in Rechtsextremismus mündet, sind auch linke Themen – etwa die Opposition gegen die rechtsextreme AfD, die Sorge um die Situation der Palästinenser, der Einsatz für Gleichberechtigung oder die Kritik an kapitalistischen Exzessen – weder illegitim noch extremistisch. Im Gegenteil: Viele dieser Positionen sind elementarer Bestandteil demokratischer Debatten.
Doch wenn solche Positionen zur Ablehnung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung führen oder gar mit gewaltsamen Mitteln durchgesetzt werden sollen, wird eine Grenze überschritten – ganz egal, wie „gut“, „richtig“ oder „emanzipatorisch“ sie auch sein mögen. Wie wir gezeigt haben, ist dies in all den von uns beschriebenen Szenarien vorstellbar – oder bereits der Fall.
Eine intensivere Beobachtung und – wo nötig – entschlossene Bekämpfung des Linksextremismus wäre daher keine politisch motivierte Hexenjagd, sondern notwendige Reaktion auf die sich rapide wandelnde gesellschaftliche Lage. Eines ist jedenfalls klar: Die Zeiten, in denen Linksextremismus in Forschung, öffentlicher Debatte und staatlichem Handeln ein „Stiefkind“ war, sind mit großer Wahrscheinlichkeit vorbei.
Peter R. Neumann ist Extremismusforscher und Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London. Jose Pedro Zuquete ist Forschungsbeauftragter am Institut für Sozialwissenschaft der Universität Lissabon und Herausgeber des zweibändigen Palgrave Handbook of Left-Wing Extremism (London 2023).
Source: welt.de