Libanon: Alle wollen hier weg

Pausbacken, dicke Brillengläser unter dem Barett, der Gesichtsausdruck eher verwundert als martialisch. Auf den Märtyrer-Bildern rund um den Ort seines Todes wirkt Fuad Schukr wie ein Buchhalter, den man in eine Uniform gesteckt hat. Bis vor Kurzem lebte der Chefstratege für Raketenangriffe der Hisbollah mitten in der Dahieh, Beiruts südlicher Vorstadt und Hochburg der schiitischen Miliz. Dann wurde er am 30. Juli durch einen israelischen Luftschlag getötet. Die oberen Stockwerke seines Hauses sind eingestürzt, Wände und Decken wie nasse Pappe abgeknickt. Zwischen Trümmern flattern Kleidungsstücke im Wind. Weil es für ausländische Journalisten nicht ratsam ist, in einer Hisbollah-Hochburg Straßenbefragungen durchzuführen, holt mein schiitischer Fahrer, selbst hier aufgewachsen, ein paar Erkundungen in der Nachbarschaft ein. „Die kannten Schukr alle nicht. Den hat nie einer draußen gesehen. Keiner wusste, dass er hier lebte. Ich auch nicht.“

Die Wut über den Angriff, bei dem auch fünf weitere Menschen, darunter zwei Kinder, starben, scheint verpufft. Aber das mag eher daran liegen, dass es auffällig leer in der Dahieh geworden ist.

Gleich nach Schukrs Tod hatte die Hisbollah Ausrüstung sowie führende Funktionäre in andere Teile des Libanons und ins syrische Grenzgebiet evakuiert. Wohlhabendere Familien haben sich in Hotels weiter nördlich einquartiert – in Erwartung der angekündigten massiven Vergeltung der Hisbollah und einer ebenso massiven israelischen Reaktion. Auch in Erwartung eines iranischen Angriffs auf Israel, das Stunden nach Schukrs Tod mitten in Teheran den politischen Führer der Hamas, Ismail Hanija, umgebracht hatte – ein Doppelschlag, der die Eskalation des Gazakrieges zum großen regionalen Krieg unausweichlich erscheinen ließ. Am vergangenen Sonntag sah es kurz so aus, als hätte er begonnen: Israel bombardierte mit über 100 Kampfflugzeugen Stellungen der Hisbollah im Südlibanon, die Miliz feuerte Hunderte Raketen auf militärische Einrichtungen in Israel ab. Nach knapp einer Stunde verkündete die Hisbollah ihre „erfolgreiche Antwort“ auf Schukrs Tod und Israel einen „erfolgreichen Präventivschlag“. Der große Krieg war abgesagt, vorerst.



Mittelmeer

Tripoli

Libanon

Beirut

Schatila

Dahieh

Syrien

Israel

40 km

©ZEIT-Grafik

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Die Hisbollah ist die mächtigste Kraft im Libanon. Darüber vergisst man schnell, dass in diesem Land über fünf Millionen Menschen leben, die mehrheitlich weder Schiiten sind noch der „Partei Gottes“ angehören. Ihre Anhänger verehren sie als „Widerstandsbewegung“ gegen Israel, andere, und nicht wenige, hassen sie. Wieder andere halten sie im Dauerkonflikt mit dem südlichen Nachbarn für das geringere Übel. Die meisten Libanesen stecken so tief im täglichen Überlebenskampf, dass sie den drohenden „großen Krieg“ nur als einen Sturm unter vielen wahrnehmen.

„Wo bringen wir die Nieren-Patienten hin, wenn wir unter Beschuss geraten?“

„Wir suchen noch nach einer anderen Dialyse-Station.“

„Und was machen wir mit den Chemotherapie-Patienten? Wie sieht’s mit dem Vorrat an Blutkonserven aus? Wie lange wird der Diesel reichen?“

Seit Wochen gehen die Ärzte und Pflegerinnen in Libanons Krankenhäusern die Notfallpläne durch – auch in der einzigen Klinik von Schatila. Eigentlich ist dieses palästinensische Flüchtlingscamp im südlichen Beirut auch in Friedenszeiten ein Notfall. Entstanden 1949 durch Flucht und Vertreibung von Palästinensern nach der Staatsgründung Israels, leben hier heute mindestens 14.000 Menschen zusammengepfercht auf weniger als einem Quadratkilometer. Die Häuser stehen oft nicht mehr als zwei Armlängen voneinander entfernt, ein wirres Geflecht von Stromkabeln verdunkelt den Blick auf den Himmel. Die Bewohner zapfen jeden Generator an, der im Freien steht. Die Klinik hat den ihren hinter einer Eisentür versteckt. Sie ist wie ein kleines Refugium, in hellen, sauberen Gängen warten Schwangere, Schulkinder mit Atemwegsinfektionen, Diabetes-Patienten.

Die Stromversorgung ist im Libanon schon nach dem Wirtschaftskollaps von 2020 fast völlig zusammengebrochen. In Schatila hat sie nie funktioniert. Bei der Grundversorgung seiner Bevölkerung hat der libanesische Staat, auch als er noch handlungsfähig war, immer schon Flüchtlinge jeder Herkunft ausgenommen. Die einzige regelmäßige Unterstützung in Schatila leistet das UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge. Es unterhält Schulen, Kliniken wie die in Schatila, organisiert mehr schlecht als recht die Müllabfuhr, zahlt den Familien 200 bis 300 Dollar Bargeld im Monat aus. „Wir sind quasi Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsministerium“, sagt Dorothee Klaus, die deutsche Leiterin des UNRWA im Libanon. Und Abladestelle für Wut und Frust. Keiner der Bewohner in den zwölf palästinensischen Camps im Libanon hat zivilstaatliche Ausweisdokumente; der enorme Zustrom syrischer Flüchtlinge in den vergangenen Jahren hat die Konkurrenz um Wohnraum und die wenigen Jobs verschärft; die Bilderflut aus dem Gazakrieg potenziert Zorn und Verzweiflung. Militante Gruppen finden jede Menge junge Rekruten. Die Camps sind faktisch rechtsfreie Räume. Ihre politische Verwaltung obliegt offiziell den palästinensischen Fraktionen, die sich immer wieder Kämpfe liefern. Hisbollah und Hamas haben seit Beginn des Gazakrieges an Popularität gewonnen. Mittendrin das UNRWA, das mit schrumpfenden Mitteln ein hauchdünnes soziales Netz spannen muss.

Das UN-Werk war zuletzt massiv in die Kritik geraten, weil israelische Sicherheitsbehörden UNRWA-Mitarbeiter in Gaza beschuldigt hatten, am Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 beteiligt gewesen zu sein. Sechzehn westliche Länder drehten den Geldhahn zu. Ein unabhängiger Untersuchungsbericht fand Reformbedarf, aber keine Beweise für die israelischen Vorwürfe der Mittäterschaft. Fünfzehn Staaten, darunter Deutschland, nahmen ihre Zahlungen wieder auf. Aber nicht die USA, der bis dahin größte Geber. Bis September, sagt Klaus, seien ihre Operationen finanziert. Gleich neben ihrem Büro lässt sie jetzt in einer Berufsschule Schutzräume für die Camp-Bewohner einrichten. Bunker für die Zivilbevölkerung gibt es im Libanon nicht. Die hat nur die Hisbollah.

Schatila – der Name steht wie kein anderer für den palästinensisch-israelischen Konflikt, in den der Libanon immer wieder hineingezogen worden ist und der ihn auch jetzt wieder einzuholen droht. Christliche Milizen, damals eine der stärksten Fraktionen im Land und mit Israel verbündet, begingen hier 1982 ein Massaker an palästinensischen Flüchtlingen mit bis zu 3.000 Toten, unter den Augen der israelischen Armee. Die hatte kurz zuvor die PLO aus dem Libanon vertrieben, die von dort immer wieder Israel attackiert hatte. Nach dem Abzug der PLO begann der Aufstieg der Hisbollah, vom Mullah-Regime im Iran unterstützt. Heute ist sie der Staat im Staate, genauer gesagt: der Staat auf der Ruine eines Staates. Gegen ihre Miliz mit rund 100.000 Kämpfern und einem Arsenal von bis zu 250.000 Raketen kommt die ausgelaugte nationale Armee nicht an. Als politische Partei übt sie ein faktisches Vetorecht aus und entscheidet über die Geschicke des Landes. Als religiöse Wohlfahrtsorganisation unterhält sie das einzige funktionierende Sozialsystem. Und auf der iranischen „Achse des Widerstands“ gegen Israel und die USA, zu der auch die Hamas und die Huthis im Jemen gehören, bildet sie das stärkste Teilstück.

Pausbacken, dicke Brillengläser unter dem Barett, der Gesichtsausdruck eher verwundert als martialisch. Auf den Märtyrer-Bildern rund um den Ort seines Todes wirkt Fuad Schukr wie ein Buchhalter, den man in eine Uniform gesteckt hat. Bis vor Kurzem lebte der Chefstratege für Raketenangriffe der Hisbollah mitten in der Dahieh, Beiruts südlicher Vorstadt und Hochburg der schiitischen Miliz. Dann wurde er am 30. Juli durch einen israelischen Luftschlag getötet. Die oberen Stockwerke seines Hauses sind eingestürzt, Wände und Decken wie nasse Pappe abgeknickt. Zwischen Trümmern flattern Kleidungsstücke im Wind. Weil es für ausländische Journalisten nicht ratsam ist, in einer Hisbollah-Hochburg Straßenbefragungen durchzuführen, holt mein schiitischer Fahrer, selbst hier aufgewachsen, ein paar Erkundungen in der Nachbarschaft ein. „Die kannten Schukr alle nicht. Den hat nie einer draußen gesehen. Keiner wusste, dass er hier lebte. Ich auch nicht.“

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