Fünfzehn Minuten Raucherpause«, verkündet der Busfahrer, nachdem wir die Grenze überquert haben. »Danach schließen die Türen, und der Bus fährt weiter! Wir sind ja jetzt in der Ukraine, wird schon jeder seinen Weg hier finden!«
Ein bisschen lachen die Passagiere über seine heimisch schroffe Ansage. Aus Erleichterung oder aber Anspannung, wahrscheinlich beidem.
Wenn Mama und ich früher mit dem Bus nach Kyjiw fuhren, waren die Rauchpausen eine heikle Sache für mich. Denn Mama stürmte bei jedem noch so kurzen Halt mit ihren Zigaretten raus. Und ich blieb mit der Angst zurück, dass die Türen schließen, der Bus losfährt und ich dann ganz allein bin.
Nun ist meine Mutter diejenige, die mit ihrer Sorge auf der Strecke bleibt. »Es wäre wirklich besser, wenn du jetzt nicht nach Kyjiw fährst«, schrieb sie. Aber nicht etwa, weil sie Angst hätte, dass mich unterwegs eine der täglich Dutzenden ballistischen Raketen aus Russland in Stücke sprengen könnte. Sondern weil der ukrainische Präsident einen Umsturz plane. Jawohl! Um seine Macht und das Kyjiwer Regime gegen die ukrainische Opposition abzusichern. Diese Verschwörungswahrheit (mutig aufgedeckt von Russland) schickte sie vor meiner Abreise. Nachdem sich Mama aber damit abgefunden hatte, dass ich ins Kriegsgebiet aufbreche, schrieb sie: »Bring georgische Gewürze mit! Und Salo!«
»Sie vergessen alle Fragen, solang Sie Papirossi haben«, rezitiert ein Rentner den uralten russischen Werbespruch für sowjetische Zigaretten. Die ganz groben klassenlosen, von denen man einen Lungenflügel pro Zug enteignet bekam. Der alte Herr verharrt demonstrativ auf seinem Platz, während alle anderen schon an die frische Rauchluft eilen. Ein seltsam entrücktes Gesicht bei diesen eigentlich banalen Worten aufsetzend. Die Lider zusammengekniffen, wie um ein entlaufenes Weltbild wieder einzufangen: »Und auch Antworten werden Sie nicht brauchen, solang Sie Zigaretten rauchen!«
Außer dem alten Zigaretten-Zeitzeugen und mir ist nur noch ein keksrunder Knirps (mit bunt blinkenden Hasenohren aus Plaste) als männlicher Mitfahrer an Bord. Na ja, und die beiden Busfahrer natürlich, die einander auf der 25-stündigen Strecke von Berlin abwechseln. Stramme, hochgewachsene Glatzköpfe in Goldkettchen und weißen FlixBus-Hemden. Selbstredend Rauchpausenprofis. Während sie auf dem Parkplatz vor der Raststätte quarzen, schaffen sie es sogar, zeitgleich ein Eis zu schlackern und Witze zu erzählen. Warum auch nicht? Die morgendliche Aprilsonne scheint wohlwollend herab. Und slawische Spatzen zwitschern zuversichtlich von den grünlichen Blechdächern der Grenzanlage. Ihr Gesang mischt sich mit den munteren Morgenworten der Leute und dem gelegentlichen Heulen der anspringenden Luftalarmsirenen auf ihren Handys. Fast alle haben diese Apps. Sie warnen nicht nur vor Raketenbeschuss, sondern zeigen auch an, wo sich der nächste Bunker befindet. Da die meisten eine andere Region des Landes auf ihrer Luftalarm-App markiert haben, heult es immer mal wieder aus irgendeiner anderen Richtung auf. Sodass sich alle und keiner richtig alarm-angesprochen fühlt.
Synchron hingegen ist das lesbische Pärchen, das mit seinen Zigaretten vor den Telefonzellen in Ukrainefarben steht. In abgestimmten Jeansanzügen winkeln sie sogar ihre Arme fast identisch an, wenn sie inhalieren. Eine junge Frau raucht selbst nicht, verteilt aber Zigaretten an die Grenzsoldaten: »Ich habe für alle genug, Slawa Ukraine!«, säuselt sie dabei. Eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen geht in ihrer blauen Weste zwischen den Rauchenden umher. Und fragt, ob jemand eine dreimonatige Patenschaft für ukrainische Kriegswaisenkinder sponsern würde. Sie fragt das auf Russisch und lächelt die Leute erstaunlich weich, ja fast selig an. Eine ganz in Schwarz gekleidete, etwa fünfzig Jahre alte Dame scheucht die Katastrophenhelferin dennoch mit einer hastigen Handbewegung fort. Um nicht beim Rauchen, vor allem aber Telefonieren gestört zu werden. Immer wieder wiederholt sie das Wort Mobilisatsiya, Mobilisierung. Und dreht ihre Zigarette beim Exhalieren um, mit der Spitze zu sich. Sie dann so eindringlich anstarrend, als wäre die Zigarette ihr eine Antwort schuldig.
Nichts als Rauch
Mobilisatsiya, dieses Wort kreist ohnehin glühend in der Luft. Seit einigen Wochen gelten verschärfte Gesetze, die mehr und vor allem jüngere ukrainische Männer ins Militär zwingen sollen. Die zweite Warnung meiner Mutter lautete daher, dass man versuchen wird, auch mich einzuziehen. »In der Ukraine werden Männer einfach entführt, in Busse gestopft und an die Front verschleppt, verstehst du?! Es sei denn, man zahlt richtig viel Geld. Du begreifst einfach nicht, wie es dort zugeht!«
Ich hätte ihre russischen Wahrheiten wie üblich in den Lügenaschenbecher abfallen lassen können. Nein, anders. Eigentlich ist es ganz leicht herauszufinden, was Populisten und faschistoide Demagogen treiben. Um zu wissen, was sie wirklich tun, muss man sich nur anhören, welche Handlungen sie anderen vorwerfen. Und spiegeln. Alles, was sie als fremde Schrecklichkeiten anprangern, spiegeln. Es hat daher auch nicht lang gedauert, bis ich Videos von russischen Männern fand, die in Busse gestopft, angekettet und an die Front verschleppt werden. Fast Fünfzigjährige, ohne ärztliche Untersuchung, ohne nichts. Allerdings hat Rostik – ja, er lebt und whatsappt noch – dann leider etwas Ähnliches erwähnt: »Wir können uns sehr gern treffen, mein Alter! Aber bitte nicht abends im Zentrum. Die Milizionäre kontrollieren überall Personalien und können einen einfach in den Woenkamat (Rekrutierungsbüro) abführen. Obwohl man noch gar nicht einberufen wurde. Dann ist die einzige Möglichkeit, da wieder rauszukommen, richtig viel Kohle hinzublättern. Korruption liegt über allem wie Staub, erst recht im Krieg, mein Alter.«
Just während ich mich an Rostiks warnende Worte erinnerte, kam die ukrainische Grenzsoldatin in unseren Bus. Sie schritt durch die Reihen, prüfte meinen Pass und stürzte sich sofort auf eine einzige Angabe darin: den Geburtsort.
»Kyjiw?!«, forderte sie eher, als dass sie fragte. Und setzte, ohne eine Antwort abzuwarten, nach: »Wie sind Sie denn überhaupt aus dem Land herausgekommen?«
Ich habe nicht gleich begriffen, aus welcher Richtung die Zigarette wehte. Konnte aber zum Glück erlauschen, wie das Maschinengewehr um ihren Hals lauter Verdächtigungen gegen mich losstotterte:
»Der hat doch bestimmt noch eine ukrainische Staatsbürgerschaft! Tututututututu. Dieser feige Drückeberger! Der muss für sein Land kämpfen und bluten, so wie wir auch! Tutututuutu!«
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Ihr langes, sehr satt schwarz gefärbtes Haar reichte fast bis zum herabhängenden Maschinengewehr. Und die ebenfalls tiefschwarze Mascara auf ihren Wimpern stand flächendeckend um zwei kaltblaue Augen Spalier.
»Warum soll der im sicheren Fritzland Braunschweiger Wurst fressen! Und wir vergehen hier! Tututututu!«
»Ich habe nur die deutsche Staatsbürgerschaft«, stellte ich also schleunigst klar. (Gleichzeitig etwas verwundert, warum es unbedingt Braunschweiger Wurst sein muss.) Genau genommen erklärte ich etwas unglücklich auf Russisch, dass ich eine »rein deutsche Staatsbürgerschaft« habe.
»Ach, und die ukrainische ist schmutzig? Tututututu?«
Woraufhin die Soldatin mich noch etwas finsterer ins Visier nahm.
»Wer weiß, ob der Pass überhaupt echt ist?! Eine Menge von diesen Vaterlandsverrätern haben sich sonst was für welche Staatsbürgerschaften gekauft, um abzuhauen und ihre Haut zu retten! Nimm den mal richtig ran, tututututu!«
Die folgenden dreißig Minuten waren dann nicht so das Gelbe von der Zigarette. Ich habe versucht, mich mit dem Sprachinhalator abzulenken. Das zweite Mal in meinem Leben mit der Rekrutierung in die ukrainische Armee konfrontiert. Nur eben ohne Mama diesmal. Stoiker auf Russisch lesend, Seneca: Man soll sein Schicksal nicht durch allzu viel Herumlauferei herausfordern. Ja, okay, vielleicht eher die falsche Lektüre für eine Reise ins Kriegsgebiet. Schließlich bekam ich den Pass aber wortlos zurück. Also von der Soldatin, ihr Maschinengewehr durchaus noch was in der Mündung:
»Wir sprechen uns noch mal bei deiner Ausreise, tututututu!«
Mag sein. Aber fürs Erste kann ich endlich wieder Mirhorodskaya an der Raststätte kaufen. Und schicke Papa ein Foto der Flasche. (Was bedeutet, dass es an meine Mutter geht. Sie hat all seine Kommunikationskanäle okkupiert. Kriegsrecht.)
»1,5 Liter Mirhorodskaya, 86 Hrywna!«
»Papas« Antwort: »Zwei Euro für Mirhorodskaya?! Na, das kann ja was werden!«
Überhaupt hat meine Mutter darum gebeten, dass ich unterwegs öfter Bescheid gebe, ob alles in Ordnung ist. Aber wie soll das eigentlich aussehen? »Hallo, Mama, der Massenmörder, den du unterstützt, hat mich nicht mitvernichtet. Gehe gleich georgisches Zazivi-Hühnchen essen.«
Dass die Dinge hier irgendwie erkennbarer sie selbst sein könnten, schattenloser, weil man sich nicht mehr im Frieden versteckt, den so nahen Krieg ausblendend – das war ein Trugschluss. Die Einreise über den Westen des Landes beginnt mit eindeutig surrealer ukrainischer Landidylle. Pferde grasen ohne eine Sorge in der Welt vor kleinen, romantischen Datschen. Die silbernen Zwiebeltürmchen der Dorfkirchen funkeln in der Sonne, wobei weiß-violett aufblühende Kirschbäume ringsherum ihre kleinen, gottgesandten Nachahmer zu sein scheinen. Die Bäche plätschern, Greise stutzen Apfelbäume in ihren üppigen Gärten oder sitzen schlicht nachdenklich auf Holzscheiten. Kinder tollen über den Spielplatz einer Schule. Nur Männer (nicht Greise oder Jungen) sind kaum zu sehen. Und es dauert auch nicht lange, bis die ersten anti-idyllischen Plakate auftauchen, die dazu auffordern, sich dem Militär anzuschließen. Der dritten Sturmkompanie beispielsweise, der Luftabwehr oder der Drohnendivision. Bald sind solche Plakate omnipräsent, ebenso wie die frischen Soldatenfriedhöfe, die in jedem Dörfchen aufscheinen. Leicht durch die im Frühlingswind flatternden Ukrainefähnchen zu erkennen, auf denen Logos der jeweiligen Kampfdivisionen prangen.
Beim Halt am altehrwürdigen Bahnhof Lwiw versichert eine Mutter ihrem zaghaften Sohnemann: »Hab keine Angst, ich halte dich.« Eine junge blonde Frau mit traditionell ukrainisch geflochtenem Zopf hüpft dagegen geradezu euphorisch ins Freie: »Ja! Ja! Ja! Ich bin wieder in der Ukraine!«
Neben uns parkt ein blau-weißer, uralter sowjetischer Bus, mit dem ukrainischen Dreizack auf der Motorhaube. Man sieht ihn und möchte sofort eine Spritztour in die Nostalgie unternehmen. Drin hocken allerdings ausschließlich ukrainische Soldaten, zusammengepfercht, apathisch vor sich hin starrend. Ein Mann, ganz in Zivil und mit riesigem Verband über dem linken Auge, klopft an ihren Bus. Alle Insassen ignorieren sein Klopfen, und der Mann geht fluchend weiter. Dann schlägt auch mein Handy zum ersten Mal Alarm. Kyjiw – darunter das blutrote Symbol einer Rakete. Statt den nächsten Schutzbunker anzuzeigen, präsentiert die App allerdings, na ja, Werbung. Eine Designer-Thermoskanne, Küchentücher mit lustigem Früchtemuster, fancy orange Töpfe und sogar ein Sofa. Als Zivilist finde ich das suboptimal. Aber als Магазин-Mann sehe ich durchaus einen gewissen Nutzen. So ist man wenigstens während der schlimmsten Angriffe abgelenkt und produziert sogar ein bisschen Glückshormone beim Bestellen der richtigen Tagesdecke aus Samt für die Zukunft.
Ein paar Stunden später sehe ich zum ersten Mal Iras Heimatstadt Schytomyr. Auch wenn ich sagen muss, dass die Stadt mich nicht besonders an ihre Fröhlichkeit erinnert. Die baumlosen Straßen, die entfärbten Häuser, von denen jedes zweite eine Autowerkstatt zu sein scheint, die qualmenden Fabriken, der von Drähten und Smog überzogene Himmel – sie alle ergeben ein großes, gemeines Grau. Geisterhaft grau ist auch der Busbahnhof von Schytomyr. Die Soldaten, die dort an den Plattformen stehen, sehen so verbraucht aus, als wären sie bereits als Fünfzigjährige zur Welt gekommen. Geisterhaft entgeistert. Zwei Ausnahmen allerdings: ein jüngerer Rekrut, der lustvoll in einen Hotdog beißt. Und ein knallroter Kleinbus, in dessen Frontscheibe Mariupol als Fahrtziel ausgeschrieben steht. Dieser bleibt allerdings leer, und sein Fahrer schläft bald auf dem Lenker ein.
Kyjiw ist so abgedunkelt, dass ich es anfangs gar nicht wiedererkenne. Dunkelblau und fast ohne Laternenlicht düstert es im verregneten Abend vor sich hin. Auch die meisten Fenster der Wohnhäuser bleiben schwarz. Erst das schwach flackernde grüne M der Metro signalisiert mir Stadt. Der Schatten einer Metropole. Der Zigarettenhistoriker kneift wieder die Lider für sein flüchtiges Weltbild zusammen, als wir halten, steigt dann aber zügig aus. Überhaupt verlaufen sich die Insassen unserer 25-stündigen Reise innerhalb einer Minute in alle Richtungen des Kyjiwer Busbahnhofs. Jeder für sich. Ich habe kein Internet auf dem Handy. Rein theoretisch also auch keinen Wegweiser zum nächsten Bombenschutzkeller, falls nötig (oder Designertoaster, falls nötig).
Während ich mir eine ukrainische SIM-Karte an einem Kiosk kaufe, sehe ich einen jungen Mann telefonieren. Auf Russisch. Totenblass und zitternd zieht er an seiner Zigarette: »Mama, wir haben alles versucht und gefleht. Ich muss trotzdem zum Wojenkomat. Weißt du noch, Vadik, aus meiner Klasse? Der war nur einen Monat an der Front und ist ohne Beine zurückgekommen.«
Offenbar wurde der Strom wieder angeschaltet. Über unseren Köpfen erstrahlt ein Werbemonitor, riesig an einen Wolkenkratzer montiert: »Wsö bude Ukraina!« ist auf ihm zu lesen. »Alles wird Ukraine!« In wohl jedem anderen Licht würde das wie imperialistischer Größenwahnsinn anmuten. In diesem wegen all der zerbombten Infrastruktur nur stundenweise verfügbaren Licht wirkt es wie der verzweifelte Versuch, die kollektive Psyche zu stabilisieren.
Selbst über dem doch immer so lebenslustigen Kreschatik-Boulevard liegt bleierne Stillschwere. Egal, was dem Land gerade abging, hier schien ihm nie etwas zu fehlen. Und man kommt sich wie ein ordentlicher Trottel vor, von Weitem geglaubt zu haben, dass die Ukrainer nicht ihr bestes Leben leben. Doch wenn der Frieden fehlt, spürt man das sofort. Frieden lässt sich durch nichts ersetzen. Ein riesiges Trauerbanner für Mariupol statt blinkender Attraktionen. Ein noch gewaltigerer, mehrere Häuser überziehender Aushang fordert die Freilassung der »heldenhaften Verteidiger von Asow«. Und überall ein schwarzer Aushang mit QR-Code: »Alle werden in den Krieg müssen. Such dir vorsorglich selbst deine Division aus.«
Ich checke im Hotel Ukrajina ein. Einst stand hier das höchste Haus der Sowjetunion, sich fast siebzig Meter in den Himmel vorarbeitend. Sozialistischer Klassizismus, prachtvoll unscheinbare graubraune Steine für die vermeintliche Ewigkeit. Bis zur ukrainischen Unabhängigkeit als Hotel Moskau firmierend, dann umbenannt. Direkt am Maidan, wo die proeuropäischen Revolutionen stattfanden, für die sich Russland bis heute mit diesem Krieg rächt. Ich wollte schon immer mal dort übernachten. Die Unabhängigkeitssäule, überhaupt das symbolische Herzstück des Landes vor dem Fenster. Aber vier Sterne – das war einfach nichts für einen sparsamen Магазин-Mann. Nun steht das Hotel allerdings fast leer, man könnte eine Nadel in der weiten Lobby fallen hören. Nur fallen hier eben andere Dinge als Nadeln. Und somit die Preise. Obwohl das Hotel Ukrajina sogar einen eigenen Bombenbunker bietet. Daher wäre es vernünftig gewesen, die unterste Etage zu buchen. Aber unsereins wollte nun mal unbedingt ein Zimmer mit Sicht auf die Stadt – und sitzt nun mutterseelenallein im zwölften Stock. Mit herrlichem Blick auf eine zur Sperrstunde leer gefegte Metropole. Nur von Polizeiautos mit blinkenden Sirenen belebt, die an strategischen Punkten für die Kontrolle postiert sind. Von meinem dummen zwölften Stock aus mustere ich Berehynja. Die beflügelte Göttin an der Spitze der Unabhängigkeitssäule, Bewahrerin vor Tod und Unglück. Und erkenne erstmals, dass sie einen schicken, karierten Rock trägt.
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Auf fast allen ukrainischen Kanälen berichten Militärs vom Tag und erteilen Zwangsernährung über den Frontverlauf. Bei CNN warnt ein hoher ukrainischer Regierungsvertreter, dass er eine baldige Frühjahrsoffensive Russlands auf Kyjiw nicht ausschließen könne, weil die westliche Waffenhilfe ausbleibt. Hoffentlich ein strategischer Bluff und nichts als Rauch.
Der erste Luftalarm, den ich in Kyjiw miterlebe, verläuft erstaunlich kaufmännisch. Nicht nur, weil die lebensrettende App sofort Pastillen gegen Gastritis bewirbt, die man besser bunkern sollte. Nein, aus alter Gewohnheit habe ich den Tag so angelegt, als wäre ich (oder wir) auf Warensuche. Rostik hat heute keine Zeit, wegen der Arbeit. Zoja und Andrij könnte ich noch anrufen. Aber auf ihrer Nummer liegt immer noch eine dicke Schicht Asche von den wutentbrannten Worten zu Kriegsbeginn.
Der geschäftige Tag eines Магазин-Mannes
Meine Handelsroute beginnt beim Цум, dem Zentralnij Univermag. So etwas wie das Kaufhaus des Westens für die Ukraine. Bevor es auf die Basare geht, sollte man den höchsten hiesigen Qualitäts- und Preisstandard kennen. Einfaches Магазин-Einmaleins. Zumindest war das früher so. Denn menschenleer ist der fünfstöckig stolze Цум dieser Tage. Nur die uniform schwarz gekleideten Verkäufer tauschen sich aus, sodass die Szenerie ein bisschen wie ein Sektentreffen anmutet. Manche der verlassenen Verkäufer lehnen wie erstarrt an den Vitrinen, andere sortieren akribisch ihre Waren um, als könnte das die Geschicke im Handumdrehen wenden. Am emsigsten ist klarerweise die Putzfrau des Edelkaufhauses. Sie will die Rolltreppen reinigen und presst ihren Mopp dafür kräftig gegen das Laufband. So verharrt sie dann, säuberlich von Etage zu Etage tuckernd. Es ist erst 11:42 Uhr, als der breitschultrige Wachmann, der den Tisch mit den teuersten Parfümflacons übersehen soll, einnickt. Wie sieht er sich selbst in diesen Tagen, ausgerechnet hier für Sicherheit in der Ukraine sorgend? Wie sieht ihn sein Umfeld? Als 11:42 Uhr die Alarmsirenen aufheulen beispielsweise. Nicht länger nur auf meinem Handy, aus Lautsprechern in den Straßen, von den Dächern, überall. Die vergessenen Verkäufer knipsen ohne Hast das Licht aus und bitten alle Kunden (also mich), das Geschäft zu verlassen. Ich haste in die erstbeste Unterführung. Dort eine Weile lang sehr allein stehend. An den Wänden wellen sich ausgeblichene Infoaushänge zu Covid. Wie Kinoplakate für einen abgelaufenen Horrorfilm, der keinen mehr kratzt. Kichernde Teenagermädchen spazieren vorbei, schnurstracks ins Freie. Ich stecke den Kopf wieder hervor. Und sehe die Mitarbeiter des Цум seelenruhig an einem Kiosk für Kaffee aus Mailand Schlange stehen. Zwei junge Frauen tänzeln dabei sogar vor sich hin. »Der Alarm ist sicher gleich wieder vorbei«, singsangt eine der Tänzerinnen und gluckst. »Dann können wir wieder spielen!« Der Verkehr rollt geregelt weiter. Ein Hund wird im Luftalarm Gassi geführt (trägt aber eine Militärweste dabei).
Gut, der Großteil der Belegschaft hält sich weiterhin unter dem Vordach des Цум im Schutz. Ob aber vor Trümmerteilen (offenbar verlässlich) abgeschossener Raketen oder bloß vor dem pissigen Platzregen, schwer zu sagen. Ein den Alarmboulevard entlanghumpelnder Greis betet ebenso laut wie traurig vor sich hin: »Ich bin achtzig Jahre alt. Und habe meinen Teil vom Leben gehabt. Was soll ich mich noch vor dem Tod verstecken? Rettet mir lieber die Kinder!«
Zwei russisch sprechende ukrainische Soldaten hören und ignorieren ihn. Weiter über das miserable Wetter plaudernd, das heute in Kyjiw vom Himmel fällt.
Im Univermag Ukraina, einem immerhin dreistöckigen Einkaufszentrum, sind deutlich mehr Menschen anzutreffen. Allerdings wollen sie fast alle nichts kaufen. Sondern in den dritten Stock, wo sich der »Passportnij Service« befindet. So etwas wie ein Bürgeramt. In einem geradezu blendend weißen, modernen Saal mit strahlend blauen Schaltern. Auch die Landeskarte an der Wand ist aus elegantem Transparenzglas, weiße Linien unterteilen die Regionen, selbstredend samt Krim und Donbass. In dieser ästhetisch aufgeräumten Staatlichkeit also werden rechtsstaatliche ukrainische Reisepässe ausgegeben, die etwa fünfzig Prozent der Bevölkerung zur Ausreise berechtigen. Etliche so ganz und gar nicht strahlende Menschen stehen dafür an. Das Koffergeschäft im Zweiten macht dennoch keinen besonderen Schnitt. Eine Frau lässt sich bei Zolotoj Wik, dem »Goldenen Jahrhundert«, ein Kettchen reparieren. Von den Haaren bis zum Fuß silbercremebeige eingefärbt, fast selbst wie ein Schmuckstück zurechtpoliert. Die Panoramavitrine ist abgeschaltet. Na ja, es ist ein Donnerstagmittag. Da hat der Магазин auch selten Millionen abgeworfen.
Am Andrijiwskij Spusk, der anmutigen Promenade mit Blick über die Stadt, die sich zum Dnjepr herunterwindet, verkauften Künstler früher die ausgefallensten und am feinsten gemalten Matrjoschkas. Auch unsere persönliche Familienausgabe wurde hier gepinselt. Zwischen romantisch geschwungenen Laternen und Bänkchen aus längst vergangenen Zeiten, als noch Liebesgedichte mit Federn verfasst wurden. An ebendiesen Laternen prangen nun Wegweiser zu Bunkern, die den Hass ein wenig abfedern sollen. Statt Matrjoschkas und Schatullen mit slawischen Märchenmotiven gibt es vor allem Militärartikel zu kaufen. Abzeichen der verschiedenen Kampfverbände, kugelsichere Westen, Munition. Papas Uhr mit dem Panzer der Roten Armee auf dem Ziffernblatt wäre offenbar kein Problem gewesen. Von denen gibt es hier reichlich. Sogar eine Uhr mit Hakenkreuz geht als Sammlerstück durch.
Wem mache ich was vor, das ist alles Zeitverschwendung. Meine Warensuche ist weder praktisch noch nostalgisch nützlich. Vergangenheit und Gegenwart kommen schlicht nicht ins Geschäft. Eine Station muss aber noch sein: der Petriwka-Basar, eigentlich eher bekannt als Büchermarkt. Papa ist hier früher stundenlang von Stand zu Stand mit mir rotiert. Bis ich nicht mehr konnte und an einem Stück Prager Torte beteiligt wurde, zur Aufrechterhaltung der unternehmerischen Moral. Ira lag Papa jahrzehntelang in den Ohren damit, dass die Bücher unprofitabel seien. Und dafür, dass sie so wenig Geld einbringen, auch noch richtig viel Platz wegnehmen. Fünf große Regale! Sie schlug vor, stattdessen die Fleischtheke zu vergrößern. Doch die Bücher blieben Teil des Магазин.
Der Petriwka-Basar entpuppt sich leider auch als Fehlinvestition. Kaum bin ich angekommen, gerät der Regen komplett außer sich und somit auf mich. Ich kaufe einen Regenschirm für, na ja, ich hab nicht verhandelt, der Regenschirm gehört jetzt jedenfalls mir. Mein Regenschirm bricht nach drei Minuten durch. Ich glotze ratlos auf seine verbogenen Speichen. Hol’s der Teufel! Ich bin doch nicht wegen Dingen zurückgekommen! Also hole ich mein Handy aus der Tasche und tippe:
»Zoja, Privet! Ich bin in Kyjiw. Und würde mich sehr freuen, euch zu sehen!«
Nach all dem russischen Irrsinn, den Mama zu den beiden verwahrheitet hat, und den Entgleisungen, die Andrij daraufhin über Juden losließ, werden sie sich wahrscheinlich eh nicht zurückmelden.
»Oi, Super!«, schreibt Zoja sofort. Und ruft auch schon an: »Dimon, wo bist du? Ich hol dich ab!«
Bei der Petriwka, wo ich auf Zoja warte, wäre ohnehin kaum etwas zu holen gewesen. Verschlossene Garagen statt Gewinnmargen. Alles zu. Könnte am Unwetter liegen. Regentage waren im Магазин auch stets schlecht für die Liquidität. »Fast alle haben hier dichtgemacht, weil sie sich nicht mehr die Standmiete leisten konnten. Erst kam Corona, dann hat uns die Invasion endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen. Der Frieden fehlt eben, die Freude fehlt, die Menschen fehlen«, sagt eine Babulja, deren Stand als fast einziger in Betrieb ist.
»Und wie kommt es, dass Sie noch im Geschäft sind?«
»Wir sind eben einer der mächtigsten Stände hier!«
Einer der mächtigsten Stände hier bietet Besen, Schläuche für Wasserhahn und Spüle, Schälchen, Töpfe – an alles gedacht, fast wie eine Luftalarm-App.
Schon am rhythmischen Hupen von der anderen Straßenseite erkenne ich, dass es Zoja sein muss. Sie hat sich die Haare rot gefärbt, grüßt aber mit genauso schmatzigen Küssen wie früher. »Dimon!« Mmmmmuuuua (Schmatz). »Was machst du denn hier? Seit wann bist du da? Hattest du die Braunschweiger Wurst satt und wolltest mal wieder echtes ukrainisches Salo?! Lass dich mal ansehen! Wann lässt du dir endlich mal von einem richtigen Friseurmeister in Kyjiw die Haare schneiden?! Ich mach nur Spaß, siehst gut aus. Also, wie steht’s, hast du jetzt endlich mal Kinder gezeugt, du Windhund?«
Zojas grüngoldene Augen sind genauso fröhlich und im besten, unerschrockenen Sinne angriffslustig wie früher. Sie raucht auch weiterhin diese nach undefinierbaren Früchten riechenden E-Zigaretten und hört die Knaller der Saison bei Hit FM, Radio Ukraina. Wobei, das dreht sie bald leiser, um vorsichtig nachzufragen: »Wie geht es Papa?«
Eine nicht deprimierende Antwort kann ich leider nicht bieten.
»Hmm … Kämpft er denn gegen die Krankheit?« Zoja spricht immer noch Russisch mit einem irgendwie in den Silben härteren ukrainischen Akzent.
»Nicht wirklich.«
»Blin, wer nicht kämpft, hat schon verloren. So ist es immer im Leben!«, meint Zoja, während wir unter einem riesigen Rekrutierungsplakat der Nationalgarde vorbeifahren. Dieses wirbt mit einem eher verstörenden als verheißenden Versprechen: »Garantiert sechzig Tage Vorbereitung!« Auf der Schnellstraße um uns herum sind Hunderte Autos und Busse, Beton und grauklobige sowjetische Wohnhäuser, so wie sie überall im Land stehen. Nein, so wie sie überall im Land standen, belebt und unverkohlt vom russischen Raketenhagel. Und auch an diese Wohnhäuser sind rote Pfeile gesprayt, die zum nächsten Bombenschutzraum führen.
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Zoja hat bei aller Fröhlichkeit ihrerseits Familiäres zu klagen. Und erzählt, wie sie alles stehen und liegen gelassen hat, nachdem sie erfuhr, wie jämmerlich es Töchterchen Alina im sächsischen Naunhof geht. Bei ihrem besten Freund Oleg, der mich als Fascho bezeichnet hat. »Olegs Ehefrau ist Russin, wie du weißt. Und nachdem sie ihre Mutter in Smolensk besucht hat, wurde sie richtig gemein zu unserer Kleinen! Hat sie als ukrainisches Flüchtlingsmädchen beschimpft, Alina zum Weinen gebracht und schließlich aus dem Haus gejagt!«
»Hat sie sich da was angeatmet in Russland, ja?«, frage ich. »Надышалась, да?«
»Genau das!«
Ein kleiner, für immer mutter-sprachlich verängstigter Teil von mir freut sich darüber, auf Anhieb das richtige russische Wort für russische Radikalisierung gefunden zu haben. Sich etwas anatmen bedeutet, dumme Dinge in den Kopf zu nehmen und sich zu verändern.
»Und Oleg hat unsere Alja weder beschützt noch Bescheid gegeben, als sie schon eine Woche lang verschwunden war und bei Fremden schlafen musste. Das macht eine Mutter rasend, verstehst du? Buchstäblich, ich bin in zwanzig Stunden an allen Militärposten vorbeigerast. Obwohl mein Auto zwischendurch kaputtgegangen ist. Das muss ein neuer Rekord gewesen sein! Und ich sage dir, ich werde nie vergessen, wie ich meine Kleine an der deutsch-polnischen Grenze vom Busbahnhof abgeholt habe. Was haben wir geheult. Der ganze Bus hat bei unserem Anblick losgeflennt.«
Andrij ruft an, und die beiden streiten darüber, wo Zoja parken soll, wenn wir ihn gleich abholen. Sie legt auf, sucht kurz den Faden, findet ihn zwar wieder, doch hauchdünn ist er trotzdem: »Wie konnte Oleg uns das nur antun? Er stand mir näher als meine eigene Mutter! Und dann erzählt er uns auch noch diesen ganzen Dreck, dass wir Russland keine Wahl lassen! Während bei uns die Wände von Bomben beben!«
»Du, Zoja, die Sache mit meiner Mutter und der russischen …«
»Ich weiß, Dim. Ich weiß, dass du dein eigener Mensch bist. Mach dir keine Gedanken.«
Wir biegen in einen unscheinbaren Hinterhof, in dem lauter zum Transport abgepackte Möbel zwischen ausgeschlachteten Autos und wiederum voll aufgerüsteten Militärautos stehen. Andrijs dann doch nicht nur Sitzgarnituren produzierender Betrieb. Er kommt aus einer der Werkstätten und läuft zügig auf uns zu. Ganz offensichtlich einen sehr geschäftigen Arbeitstag hinter sich, seine blaue Jeans hängt hochambitioniert tief. Andrij hat sich die Haare nicht rot gefärbt. Und sieht mit seinen 53 eigentlich genauso aus, wie er auch mit 49 aussah. Kurz taxiere ich, ob er abgespeckt haben könnte, da steht Andrij schon vor mir. Wir begrüßen uns auf die denkbar ungeschickteste Art: beide die gleiche Umarmrichtung anpeilend, mit den Köpfen und auch ein wenig den Mündern zusammenstoßend. Dafür umso herzlicher. »Dima! Du bist hier?! Dabei wollte ich doch bis Ostern nicht trinken!«
»Es tut mir sehr leid, dass ich so einen schlechten Einfluss auf dich habe, Andrij!«
Bei Andrij rattert schon der große Genuss-Simulator: »Wir brauchen ein paar Flaschen Wodka. Und richtiges Salo. Und wir schmeißen ein paar Steaks auf den Grill zur Feier des Tages, oder, Zojichka?«
»Du magst doch auch Mirhorodskaya und Hummus und Adschika, oder, Dim? Und die Prager Torte!«, ergänzt Zoja. Die beiden überleben seit bald drei Jahren Krieg, aber erinnern sich noch an meine Vorlieben. Was bin ich froh, mich gemeldet zu haben.
Den Streit zu Kriegsbeginn würde ich trotzdem gern ausräumen. Die Sache mit den ehrlosen Juden, die nur in die Ukraine kommen, wenn sie Salo und billige Medikamente wollen. Und ansonsten gar keine Liebe für keine Erde in ihrem egoistischen Herzen tragen. Erst recht nicht für Kyjiw. Andrij hat immer noch diese aufgebrachte Art (Russisch) zu sprechen, mit erhöhter Stimme und erst recht erhöhter Fluchfrequenz. In permanenter Beweisführung für oder gegen etwas. Ohne dabei aggressiv zu wirken. Zumindest nicht zu sehr.
»Dim, das ist ja mal eine Überraschung! In welchem Hotel bist du untergebracht?«
»Hotel Ukrajina.«
»Also ganz im Zentrum, gut.«
»Ich bin dort vor allem, weil die einen eigenen Bunker haben. Aber so richtig scheinen die Luftalarme die Leute nicht mehr besorgt zu machen, oder? Heute Morgen stand ich allein in der Unterführung, während alle einfach weitergemacht haben mit ihrem Tag.«
»Doch, doch, die Leute suchen schon noch Schutz. Zumindest die mit kleinen Kindern, die gehen in den Korridor oder legen sich mit ihnen in die Wanne. Aber sie haben sich gewöhnt, ja. Wir haben uns gewöhnt. Man käme doch gar nicht darauf, dass Krieg herrscht in diesem Land, oder?«
Just in diesem Moment fahren wir an einem Berg gestapelter Panzersperren vorbei. Unweit davon ein Schützengraben und ein weiteres Militärposter, das Raketenwerfer zeigt: »Unsere Raketen bringen dem Feind den Tod!«
»Aber verrat mir mal eine Sache, Dim. Welche Sprache sprichst du mit dem Personal im Hotel Ukrajina?«
»Russisch, Andrij. Ich habe keine Wahl.«
Das ist eigentlich nicht wahr. In der Lobby des Hotel Ukrajina hängen Uhren, die die Zeit in Tokio, London und Sydney anzeigen. Absolut niemand würde mir dort Englisch verübeln. Doch etwas in mir sträubt sich, sprachlich so weit von meiner Geburtsstadt wegzugehen.
»Und? Hat dich keiner für dein Russisch aufgefressen, oder? In der russischen Propaganda erzählen sie ja, dass sie dir hier sofort die Kehle dafür aufschlitzen, bljad!«
»Andrej, falls du auf meine Mutter anspielst, ich habe so viel Streit mit ihr wegen der russischen …«
»Nein, ich weiß schon, du bist nicht deine Mutter, und jeder hat seine eigenen Kakerlaken.«
Andrij möchte noch etwas sagen, zögert dann aber. Teil eins des Minenfelds unserer Identitäten, die mütterliche Seite, wäre also entschärft. Bleibt noch die väterliche Flanke. Denke ich und sehe plötzlich Yashka am Straßenrand! Er sammelt alte Kartons aus Müllcontainern, wahrscheinlich, um sie für etwas Kleingeld beim Wertstoffhof abzugeben. Eine grüne Kapuze über dem Kopf und einen blauen Fleck unter dem Auge. Außerdem hinkt sein rechtes Bein ein wenig nach. Vielleicht eine Wunde aus seiner Zeit als russischer Legionär im Donbass? Na ja, Yashka wäre nicht Yashka, wenn er bei dieser Drecksarbeit nicht ein paar Weintrauben schlemmen und an einem Bier nippen würde. Ich versuche, die Marke des Bieres zu erkennen. Und ob er noch Obolon 5 trinkt, wie früher. Als Andrij, nun mit deutlich gedrückterer Stimme, fragt:
»Wie geht es Papa? Wie geht es Ljonichka?«
»Nicht besonders gut. Aber er denkt oft an dich, Andrij. Wie du uns allen Gläschen um Gläschen eingießt, po pedisjatachke, po pedisjatachke. Dann lächelt er ganz beseelt.«
Alles daran ist wahr.
»Ach Ljonichka«, haucht Andrij nun in einer völlig unbekannten, innigen Stimme, die keine Beweise braucht. Und fragt noch ganz viel nach Papa. Besteht darauf, dass wir ihn unbedingt wieder in ein ukrainisches Sanatorium bringen, sobald der Krieg abflaut. Gern mit seiner Hilfe, seinem Auto.
Wenn alle Antisemiten der Welt so besorgt um die Gesundheit meines jüdischen Vaters wären wie Andrij, könnte ich an dieser Front beruhigt sein.
Im modernen ukrainischen Supermarkt-Магазин verbietet mir Zoja, Mirhorodskaya in Plastikflaschen zu kaufen. »Die sind bei uns scheiße, wegen der Mikropartikel. Das ist gefährlich. Kauf nur im Glas!« Und als ich mit glühenden Augen eine echte Prager Torte in den Händen halte, besteht sie darauf, dass ich das Ablaufdatum prüfe. »Das habe ich schon, Zojichka. Ist in Ordnung, 20.04.«
»Nein, ich meine, hast du auch geschaut, ob das erste Datum vielleicht überdruckt wurde?« Andrij pendelt derweil zwischen Fleischtheke und Wodkaregal.
Zoja und ich suchen Tomaten aus, als sie in gedämpfter Lautstärke sagt: »Sechs Euro das Kilo! Überleg mal, wie teuer das für ein Land in unserer Lage ist. Und die Essensversorgung für die Soldaten ist noch teurer! Wie kann das sein? Es wird so viel abgezweigt von den Militärgeldern. Ohne die Freiwilligen und ihre ganzen Spenden würde die Armee noch heute zusammenbrechen.«
An der Kasse 4 kauft ein mit russischem Akzent Englisch sprechender ukrainischer Soldat Äpfel für 120 Hrywnja (etwa drei Euro).
In den Regalen ist es also ganz leicht, alles schwer Erschwingliche zu finden. Und die Leute scheinen ruhig, tanzen teilweise sogar während der Luftalarme. Andrij hat schon recht, die Normalität scheint Oberhand über den Krieg zu halten. Zumindest in Kyjiw. Doch als wir all unsere Leckereien in den Kofferraum packen, vielleicht, weil ich dabei sein Gesicht nicht sehen kann, bilanziert Andrij: »Das ganze Leben haben sie uns weggenommen. Warum? Wofür, bljad?«
Dmitrij Kapitelman, geboren 1986 in Kyjiw, ist ein deutsch- sprachiger Schriftsteller, Journalist und Musiker. Im Alter von acht Jahren kam er als „Kontingentflüchtling“ mit seiner Familie nach Deutschland. Die erste Station: ein sächsisches Asylbewerber- heim. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Leipzig und lebt heute in Berlin. 2016 erschien sein autobiografisches Romandebüt Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, 2021 folgte der Roman Eine Formalie in Kiew, für den er mit dem Buchpreis Familienro- man der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet wurde. Ebenfalls bei Hanser Berlin erscheint Russische Spezialitäten (192 S., 23 Euro)
Eine Verlagsbeilage in Zusammenarbeit mit Hanser Berlin
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