Leseprobe: Meine Tochter wusste nichts via Anne Frank

Rosa übernachtete bei einer Freundin aus dem Kindergarten. Es war das erste Mal, dass sie woanders schlief, weswegen ich nicht glaubte, dass es funktionieren würde, also wartete ich. Ich legte die Wäsche zusammen, schaltete den Fernseher erst ein und dann wieder aus und schaute immer wieder aufs Handy. Da gegen zehn Uhr immer noch keine Nachricht gekommen war, beschloss ich, ins Bett zu gehen.

Als ich meine in Tränen aufgelöste Tochter eine Stunde später abholte, versicherte mir die andere Mutter, dass nichts passiert sei, Rosa hätte mich bloß vermisst. Nur hatte sie angefangen, noch heftiger zu weinen, sobald sie mich sah. Es hatte lange gedauert, bis ich es geschafft hatte, sie unter den missbilligenden Blicken der anderen Mutter zu beruhigen. Sie schlief im Taxi ein, das Gesicht voller Tränenschlieren.

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Kindergarten, erzählte mir Rosa, dass sie bei ihrer Freundin ein Buch von Adolf Hitler gelesen habe. Rosa sagte immer lesen, wenn sie vorlesen meinte. Ich vermutete, dass es ein Bilderbuch über das Leben von Anne Frank war – ich hatte es am Vorabend in der Wohnung liegen sehen und mich bemüht, nicht die Augen zu verdrehen. Es war eines jener Bilderbücher, die das Leben berühmter Personen auf ein paar Sätze herunterbrachen und die mich an die sowjetische Reihe „Das Leben berühmter Menschen“ erinnerten, die meine Mutter geliebt hatte. Die Reihe war längst vergriffen, aber meine Tante hatte noch ein paar Exemplare aufbewahrt, in denen ich manchmal als Kind geblättert hatte. Statt mir zu antworten, kniff Rosa ihre Augen zusammen und erzählte mir das Buch nach.

Meine Tochter, die nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden, benannt war, wusste bis dahin nichts über Anne Frank oder die Shoah. Offenbar hatte sie die Sache mit Adolf Hitler in dem Buch falsch interpretiert, und jetzt standen wir mitten in Berlin, ausgerechnet in der Nähe des Axel-Springer-Hochhauses. Der Himmel war wolkenverhangen, zwischen den Hochhäusern wehte ein rauer Wind, und aus Rosa sprudelte es nur so heraus. Was sie sagte, war im Prinzip richtig, außer dass sie dachte, Adolf Hitler hätte das Buch geschrieben. Außerdem dachte sie, er hätte etwas gegen Jungen, nicht Juden, gehabt. Jüdisch sei sie selbst übrigens nicht, denn sie glaube nicht an Gott. Rosa wusste natürlich, dass sie jüdisch war, sie wusste nur nicht, wie viele Menschen aus diesem Grund ermordet worden waren, und ich hoffte, dass es noch eine Weile lang so bleiben könnte. Zu Hause hatten wir eine Chanukkia, den neunarmigen Leuchter, dessen Kerzen an Chanukka angezündet werden. Doch die Kerzen auch am Schabbat rauszuholen, war uns bereits zu viel Aufwand. Die anderen hohen Feiertage begingen wir auch irgendwie, allerdings niemals in der Synagoge.

Rosa plapperte weiter fröhlich vor sich hin, ich hingegen wurde immer stiller. Als wir ankamen, schaute uns die Kindergärtnerin neugierig an, und ich versuchte, mich so schnell wie möglich zu verabschieden.

Ich fuhr zu einer Buchhandlung, die eher einem durchgestylten Café als einem Geschäft glich, und fand das Buch sofort: Anne Frank sah aus wie eine Mischung aus einer Manga-Figur und einer stilisierten Audrey-Hepburn-Postkarte. Die Prosa war unterkomplex und konnte nicht einmal eine vage Vorstellung vom Holocaust vermitteln. Sofern man als Elternteil den Wunsch verspürte, es zu tun. Das KZ kam nur am Rande vor und hätte auch ein Sanatorium sein können. Ich hatte das ganze Buch im Laden durchgelesen und stand nun fassungslos vor dem Bücherregal. Die Buchhändlerin wurde ungeduldig. Sie hatte einen kurzen Pony, flachsblondes dünnes Haar und eine sehr große dunkle Hornbrille. Ich versuchte, vertrauenerweckend zu wirken, aber das Gesicht der Buchhändlerin spiegelte deutlich ihre wachsende Besorgnis. Als sie sich mir näherte, verließ ich den Laden.

Am Abend, nachdem ich Rosa ins Bett gebracht hatte, fragte ich Sergej, was er zu tun gedenke und ob Rosa irgendeine Identität brauche, aber er schenkte sich lediglich ein Glas Wein ein und ging zurück zu seinem Flügel. Nachdem er sich hingesetzt hatte, drehte er sich noch einmal zu mir um und sagte: »Juden haben keine Wurzeln, Juden haben Beine«, lachte, prostete mir zu und wandte sich wieder von mir ab. In diesem Augenblick verfluchte ich ihn und seinen Steinway-Flügel. Sobald er dahinter saß, war er nicht mehr ansprechbar, und da er ja der Künstler war, hatte ich still zu sein. Er studierte ein neues Programm ein.

»Serescha, so geht es nicht weiter«, sagte ich zu mir selbst und goss mir ebenfalls ein Glas Wein ein. Das Glas wurde zu voll, ich nahm einen großen Schluck. Es war seine Wohnung, die er kurz vor unserer Hochzeit gekauft hatte – gerade noch rechtzeitig. Vier Zimmer innerhalb des S-Bahn-Rings, Altbau, große Flügeltüren, genug Platz, um glücklich sein zu müssen, dazu Nachbarn, die wegen eines Konzertpianisten nicht gleich das Ordnungsamt riefen, selbst wenn der für sie nach Jahrzehnten im Westen noch immer ein Russe war. Dennoch hatten wir inzwischen das Übungszimmer schalldicht isoliert. Ich setzte mich auf die Klavierbank neben ihn und legte meinen Kopf auf seine Schulter. Er küsste mich, ohne sein Spiel zu unterbrechen.

Wir blieben eine Weile nebeneinander sitzen. Dann sagte er: »Lou, ich muss üben.« Eigentlich heiße ich Ludmilla, aber dieser Name existiert nur noch auf Formularen, wobei ich mich glücklich schätzen kann, dass er bei der Einreise nach Deutschland nicht völlig verstümmelt wurde. Sergej war derjenige, der Ljuda, meinen Kosenamen, zu Lou abkürzte, was mir gefiel, denn so hatte er nichts mit mir zu tun und gab mir eine neue Identität.

Sergej hatte noch nie etwas anderes in seinem Leben getan, als zu spielen. Seine Mutter hatte ihn im Alter von vier Jahren ans Klavier gesetzt, und dabei war er geblieben. Sie war selbst eine ausgebildete Konzertpianistin, aber keine erfolgreiche. Seit ihrem Abschluss hatte sie kein einziges Konzert gespielt. Obwohl sie drei Kinder hat, war Sergej der Einzige, der von ihr unterrichtet und konsequent zum Üben gezwungen wurde. Einmal fragte ich sie, weshalb ihre Wahl ausgerechnet auf ihn gefallen war, aber sie starrte mich lediglich an, zog an ihrer Zigarette, obwohl ich sie gebeten hatte, sie nicht in meiner Küche zu rauchen, und sagte: »Und warum hast du dich für ihn entschieden?«

Ich hatte ihr nicht geantwortet, war nur aufgestanden und hatte das Fenster sperrangelweit geöffnet. Es war Dezember. Ekaterina hatte jedoch Recht: Es gab kaum jemanden, der eine solch konstante Leistung lieferte wie er. Geboren in Moskau, Schüler am dortigen Konservatorium, später Studium an der Julliard School mit einem Vollstipendium, Teilnahme am Chopin-Wettbewerb in Warschau, erster Platz mit fünfundzwanzig. Es folgten Konzerte in Asien, Europa und Nordamerika, Ruhm und Druck, dem Sergej immer standhielt. Er erhob nie die Stimme, wurde selten nervös, trank ausschließlich Weißwein oder Champagner und selbst das mehr oder weniger kontrolliert. Er war wie eine Maschine. Der Traum eines jeden Managers und Veranstalters.

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Seine Mutter war meistens an seiner Seite und passte auf, dass ihm nichts passierte. Nur bei unserem Kennenlernen sei sie kurz abgelenkt gewesen, scherzte sie gerne. Ekaterina wohnte fußläufig und kam ständig bei uns vorbei, natürlich unangemeldet. Dann erwartete sie von mir, dass ich ihr Tee zubereitete, während sie mit Sergej sein Repertoire, die neuesten Rezensionen, seine Managerin, Rosa und mich durchsprach. Vor allem mich – naturgemäß war unser Verhältnis etwas angespannt –, denn sie machte keinen Hehl aus der Ansicht, dass ich für ihren Sohn nicht annähernd gut genug sei. Doch Sergej hatte sich in mich verliebt. Vielleicht lag es daran, dass ich wie eine Schickse aussah, aber keine war. Die Geburtsurkunde meiner Mutter, in der die Nationalität als jüdisch vermerkt war, war jedenfalls in Ordnung, zumindest ordentlicher als die der meisten jüdischen Sowjet-Bürger. Sowie derer, die ihre Papiere in der Sowjetunion korrigiert hatten, um bessere Chancen im Leben zu haben, etwa um zu promovieren oder bestimmte Fächer studieren zu dürfen. Manche bestachen nach dem Zusammenbruch des Imperiums die Rabbiner, um als Juden ausreisen zu können. Andere wiederum waren zwar jüdisch, aber ihre Papiere, die in den Synagogen ausgestellt worden waren, wurden vom sowjetischen Regime kurz vor dessen Kollaps eingezogen und gegen neue ausgetauscht, die absichtlich wie Fälschungen aussahen. Meiner Mutter war nichts dergleichen passiert, und so hatten weder das orthodoxe Rabbinat in Israel noch meine Schwiegermutter etwas zu beanstanden. Sie insistierte allerdings auf einem Ehevertrag.

Ich beschloss, Sergej üben zu lassen, zog mich um und ging zurück in Rosas Zimmer. Ich setzte mich auf den Boden neben ihr kleines Bett und hörte ihrem regelmäßigen Atem zu. Mein armes kleines deutsches Kind, das eingerollt auf dem Bett lag und träumte. Noch wusste ich alles über sie, was sie mochte und was nicht, wie sie roch und wie sich ihre Haut anfühlte. Ein kleiner Mensch, der noch keine Geheimnisse vor mir hatte, ein Mensch, der erst in mir und dann neben mir gewachsen war. Ich fragte mich, wie lange es noch so bleiben würde. Wie viel Zeit ich hatte, um diese Art von Intimität zu genießen.

Ich legte mich zu ihr, dimmte das Display meines Handys und fing an, durch Seiten mit Kinderkleidung zu scrollen: winzige Winterstiefel, Pullover, Strumpfhosen, Hüte und Sandalen. Statt etwas zu bestellen, bewegte ich die Sachen in den Warenkorb und ließ sie dort liegen.

Am nächsten Tag war Nadja da. Wir kamen beide aus dem heruntergekommenen russischen Reich, nur hatte ich Akademikereltern, die mit mir nach Deutschland ausgewandert waren und mich für jede Note, die schlechter als eine Zwei war, ausgeschimpft hatten, und sie hatte Eltern, die bis heute in der Ukraine lebten, tranken und sie davon abgehalten hatten, regelmäßig zur Schule zu gehen.

Bevor Nadja anfing zu arbeiten, machte ich Kaffee, und wir sprachen über die neuesten Nachrichten aus der Ukraine. Sie hatte eine Tochter, die ein paar Jahre älter als Rosa war und in Czernowitz lebte, weil Nadja immer noch glaubte, sie würde bald dorthin zurückkehren. Ich kannte ihre Tochter nur von Fotos: ein fröhlich lachendes Mädchen in rosa Pullovern mit Strasssteinchen. Nadja kümmerte sich in Berlin um den Dreck und die Schmutzwäsche anderer Leute und sparte eisern für eine Zukunft in bescheidenem Wohlstand: Sie baute für ihre Familie ein Haus in der Ukraine. Alle zwei Monate fuhr sie hin, um ihre Tochter zu sehen und den Bau zu beaufsichtigen. Wenn sie in Deutschland war, passten die Großeltern auf ihre Tochter und ihre Nichte auf, deren Eltern wiederum in Italien arbeiteten: Nadjas Bruder auf dem Bau und ihre Schwägerin als Haushälterin. Sie schickten ebenfalls Geld nach Hause.

Als wir uns kennengelernt hatten, man könnte auch sagen: als sie angefangen hatte, unsere Wohnung zu putzen, war ich mit Rosa schwanger, und sie wollte nur drei Jahre bleiben, um dann in die Ukraine zurückzukehren. Mittlerweile war Rosa fast fünf, und Nadja verschob ständig ihre Abreise. Immer musste neues Geld her: zuerst für das Dach, dann für die Fenster, den Zaun, die Elektrizitätsleitungen, die Heizkörper. Zudem stiegen hier und dort die Preise, und Nadja wurde zur Gefangenen zwischen den beiden Ländern. Oder zur Gefangenen ihres Traums. Selbst der Krieg hatte es nicht geschafft, ihn zu zerstören. Nächstes Jahr würde das Haus fertig werden, und sie würde endlich zurückkehren – falls es bis dahin nicht von russischen Raketen zerstört wurde.

Nachdem wir alles gesagt hatten, was es zu den neuesten Nachrichten zu sagen gab, unterhielten wir uns über unsere Töchter, dann über die Unterschiede zwischen deutschen und ukrainischen Schulen, und schließlich kam die Gesprächspause, nach der ich Nadja würde sagen müssen, was an diesem Tag zu erledigen war.

Während sie putzte, setzte ich mich mit schlechtem Gewissen an meinen Computer. Ich beantwortete meine Mails, ging die Liste der Bücher durch, die ich in der Bibliothek bestellt hatte, und machte mich schließlich auf den Weg dorthin. Mein schlechtes Gewissen fiel in einen Dämmerschlaf.

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Für einen der seltenen Abende, an denen Sergej da war, hatte ich in der Lebensmittelabteilung der Galeries Lafayette Käse, Brot, Austern, Champagner und die von ihm so geliebten Törtchen besorgt, auf die er eigentlich verzichten wollte, was ihm aber nicht gelang. Ich hatte Pasta gekocht und einen Salat gemacht, den Tisch gedeckt und eine Vase mit frischen Blumen hingestellt. Dabei schien es nur so, als würde ich mich um alles kümmern. In Wahrheit war es Sergej, der darüber entschied, wo wir wohnten, welche Musik wir hörten, was wir aßen und wo wir unseren Urlaub verbrachten. Allerdings formulierte er seine Wünsche nie als Befehle, sondern immer als Bitten.

Er stellte sich hinter mich, ohne mich zu berühren. Ich roch sein Eau de Toilette, das ich ihm zu unserem ersten Jahrestag geschenkt hatte und das er seitdem immer wieder nachkaufte.

»Was machen die Kerzen da?«

Sergej betrachtete skeptisch das Tischarrangement. Er trug eine Cordhose, ein weißes Hemd und dazu Hausschuhe aus Leder, die einzige postsowjetische Angewohnheit, die er nicht abgelegt hatte.

»Es ist Schabbes.«»Seit wann ist dir das wichtig?«»Ich weiß nicht, vielleicht sollten wir damit anfangen.«

Ich machte eine Pause, biss mir auf die Lippe und sagte dann:

»Rosa zuliebe.«

Sergej lachte. Laut und dunkel.

»Sie weiß nichts über uns.«»Welches uns?«»Sie hat überhaupt keinen Bezug – zu uns.«

Sergej lachte noch lauter.

»Was ist, wenn sie es zuerst von jemand anderem erfährt? So wie mein Cousin, er war erst sechs, und die Eltern seines Freundes erzählten zu Hause Auschwitz-Witze, wenn er zu Besuch war.«

»Ein paar sind ganz gut.«

»Sie waren keine Israelis.«

»Ich weiß.« Seine Stimmung änderte sich.

»Wir sollten ihr etwas beibringen«, sagte ich.

»Kannst du ihr nicht einfach etwas über Sex erzählen?«

»Es ist dein drittes Glas Wein.«

»Woher weißt du das?«, fragte er erstaunt.

»Ich habe die Flasche erst am Morgen in den Kühlschrank gestellt.«

»Austern sind nicht koscher.« Er schaute mir direkt in die Augen: »Na gut, dann melde sie meinetwegen zu einem Kurs in der Gemeinde an.«

»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«

»Du willst etwas und weißt selbst nicht, was«, Sergej küsste meinen Nacken.

»Ich weiß nicht, ob wir sie schon mit fünf traumatisieren sollten«, sagte ich.»Wenn das Judentum traumatisierend ist, sollten wir es vielleicht lassen.«

»Und konvertieren?«

»Gott behüte.«

Er küsste mein Ohrläppchen. Als ich meine Hände an seine Taille legte, sagte er:

»Weißt du, du achtest penibel darauf, dass sie genug Bücher hat, in denen Schwarze Kinder vorkommen. Sie weiß alles über Rosa Parks und Martin Luther King. Aber sie hat noch nie eine Synagoge von innen gesehen.«

»Das einzige Kinderbuch, das es hier über Juden gibt, ist das Anne-Frank-Buch.«

»Und das kennt sie nun«, stellte er nüchtern fest. »Sie glaubt, Hitler hat es geschrieben.«(…)

Sergej war zum Mittagessen mit seiner Agentin verabredet. Ich hatte Zeit und rief meine Mutter an. Sie ging sofort ans Telefon, berichtete mir von ihrer Erkältung und sagte dann unvermittelt:

»Maya hat Geburtstag.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu:

»Es ist der neunzigste.« Danach sagte sie nichts mehr, auch nicht, als ich mich räusperte. »Möchtest du hin?«,

fragte ich vorsichtig.

Meine Mutter antwortete nicht sofort:

»Eigentlich nicht, aber es könnte ihr letzter sein.«

»Hm.«

»Du bist auch eingeladen.«

»Ich will nicht hin.«

»Sie feiern auf Gran Canaria, in einem Resort.«

»Laden sie ein?«

»Ja, aber wir müssen die Reise selbst bezahlen.«

»Warum nennen sie es dann Einladung?«

»Weil wir dabei sein sollen.«

Ich lachte: »Wie viel kostet es?«

»Es ist gar nicht so teuer. Dafür, dass es mitten in der Saison ist.«

Der Ton meiner Mutter gefiel mir nicht.

»Ich verstehe nicht, warum sie ausgerechnet nach Gran Canaria wollen. Gibt es in Israel keine Strände?«

»Maya hat die Reise bei einem Gewinnspiel im Supermarkt gewonnen. Fliegst du mit?«, fragte sie nach einem langen Zögern.

»Auf keinen Fall.«

»Wir könnten Rosa mitnehmen. Es ist auch erst Ende August.«

»Ich weiß nicht, wie spannend ein neunzigster Geburtstag für eine Fünfjährige ist.«

»Es ist immerhin Gran Canaria. Soll ich dir Geld geben? Du arbeitest ja im Moment nicht.«

»Ich schreibe ein Buch.«

»Ich meine, du verdienst gerade nichts.«

»Ich brauche kein Geld«, rief ich. Geld von meiner Mutter anzunehmen war wirklich das Letzte, was ich wollte. »Können wir später darüber reden?«

»Bist du etwa beschäftigt?«, fragte sie gehässig.

»Ich muss gleich Rosa abholen.«

»Du hast doch ein Handy. Du kannst auf der Straße weiterreden.«

»Okay, lass mich ein wenig überlegen, und ich gebe dir später Bescheid.« »Du sollst nicht überlegen, du sollst mitkommen.«

»Ich muss erst mit Sergej sprechen.«

»Ihm ist das doch egal.«

»Vielleicht auch nicht.«

»Lässt du dich scheiden?«

»Wie kommst du darauf?«

»Tu es nicht. Eine Scheidung bringt nichts als Probleme, wenn man Kinder hat. Wenn er dich schlagen würde …«

»Solltest du nicht auf meiner Seite sein?«

»Ihr lasst euch also scheiden. Hast du schon mit einem Anwalt gesprochen? Wer bekommt die Wohnung?«

»Wir haben einen Ehevertrag.«

»Stimmt, dieses Miststück.« Damit meinte sie meine Schwiegermutter.

»Mama, wir lassen uns nicht scheiden, und ich muss jetzt wirklich auflegen.«

Ich legte auf und verließ die Wohnung.

Unsere Familie war seit mehreren Jahrzehnten zersplittert. Meine Mutter und ich waren die Einzigen, die in Deutschland lebten. Ihre Schwester, meine Tante, und die weitläufige Verwandtschaft waren in Israel. Als sie dort hinzogen, gab es noch Ferngespräche, auf die man mehrere Tage warten musste und die exorbitant teuer waren. Briefe kamen in Baku nur selten an, und wenn doch, dann handelte es sich um mehrere eng beschriebene Papierbögen, die von Ereignissen berichteten, die zum Zeitpunkt der Lektüre längt nicht mehr relevant waren. In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verbrachten wir jeden Sommer in Israel, erst bei meinen Großeltern, später bei Rosa oder meiner Tante, immer von zahlreichen Verwandten und Bekannten umgeben. Der letzte Sommer dieser Art war inzwischen fast zwanzig Jahre her. Nachdem meine Großmutter kurz nach meinem dreizehnten Geburtstag gestorben war, wollte meine Mutter nicht mehr hinfahren. Ihr Vater war bereits vor Jahren gestorben, und nun sagte sie, sie wolle ihrer Schwester mit unserem Besuch nicht zur Last fallen und ohne Rosa sei es ohnehin nicht dasselbe. Vielleicht war etwas vorgefallen, vielleicht schämte sie sich für das Verhalten meines Vaters. Vielleicht war es auch nur etwas zwischen ihr und ihrer Schwester: all die kleinen Wunden, die sie einander im Laufe des Lebens zugefügt hatten, die Beleidigungen, das Gefühl, übergangen oder nicht genug wertgeschätzt worden zu sein, die sich irgendwann summiert hatten, bis es zu spät war.

Ich glaube, meine Mutter war auf ihre israelische Verwandtschaft eifersüchtig. Sie war vor fünfundzwanzig Jahren nach Deutschland gekommen – natürlich nicht ohne gewisse Bedenken – und hatte gedacht, sie sei der Armut entkommen. In der ersten Zeit sahen wir im neuen Land nichts als Überfluss: die gebrauchten Möbel, die am Straßenrand abgestellt wurden und die wir oft nach Hause schleppten, die von anderen Leuten abgelegte Kleidung, die eine viel bessere Qualität hatte als alles, was es in Aserbaidschan zu kaufen gab. Auch die vollen Regale in den Supermärkten faszinierten uns. Während meine Mutter als Klavierlehrerin arbeitete, ging es uns gut, wir hatten ein Auskommen, es gab keinen Bombenalarm, und niemand musste zum Militär. Doch je älter sie wurde, desto komplizierter wurde es: Die Miete wurde immer höher, die Verwandten in Israel hatten ihre Wohnungen inzwischen abbezahlt – und zwar nicht irgendwelche Schuhschachteln, sondern riesige Apartments mit Terrassen und Swimmingpools. Zudem handelte es sich nicht um unsanierte Altbauten mit Schimmel, sondern um schicke Neubauten, errichtet auf Land, dessen Besitz moralisch nicht in Ordnung war, von meinen Verwandten aber nie hinterfragt wurde. Während meine Tanten also ihren Ruhestand genossen, wurde es für meine Mutter in Deutschland eng: Sie hatte nur eine kleine Rente, denn die Arbeitsjahre der Russlanddeutschen in der Sowjetunion wurden angerechnet, die der Juden nicht.

Aber womöglich war ich ebenfalls eifersüchtig: Während meiner seltenen Besuche in Israel war ich erstaunt darüber, wie sicher sich meine Verwandten ihrer jüdischen Identität waren. Sie wussten, wer sie waren. Auch wenn sie für die Mehrheitsgesellschaft einfach nur die Russen blieben.

Inzwischen beschränkte meine Mutter den Kontakt zu ihrer Schwester und ihren Tanten auf kurze Anrufe und WhatsApp-Nachrichten, weshalb ich meine Cousins und Cousinen, mit denen ich als Kind so vertraut gewesen war, irgendwann aus den Augen verlor. Sowieso hatte ich genug mit mir selbst zu tun und überließ die Pflege der Familienbindungen gern meiner Mutter, eine Aufgabe mehr, die sie übernehmen musste. Irgendwann schrumpfte unsere einst weitverzweigte Familie auf uns vier – meine Mutter, Rosa, Sergej und mich – zusammen, wobei ich glaube, dass für meine Mutter Sergej niemals richtig dazugehört hatte. Für sie war er ein Familienmitglied auf Abruf. Männer hielten es in unserer Familie ohnehin nicht lange aus. Sie starben oder verließen uns. Auch Sergej hatte keine sonderlich enge Bindung an seine Geschwister. Ich denke, sie nahmen es ihm übel, dass er so offensichtlich von seiner Mutter bevorzugt wurde. Sein Vater war unterkühlt ihm gegenüber und überschwänglich vor Liebe zu seinen beiden Töchtern.

»Ich möchte da nicht hin«, erklärte ich meiner Mutter, als sie am nächsten Abend wieder anrief. Ich räumte auf. Sergejs Mutter wollte später vorbeikommen, um ihr Enkelkind zu sehen, wie sie mir schrieb, damit zwischen uns kein Missverständnis über gegenseitige Zuneigung entstand. Ich sammelte Rosas Spielzeug auf, Bücher, Zeitschriften, nicht fertig gemalte Zeichnungen, Unterwäsche, meine und Rosas Pyjamas, Jacken, eine Bananenschale und Unmengen an Wassergläsern. Ich stellte das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine und wischte über den Esstisch.

»Du kannst mich nicht allein lassen«,

sagte meine Mutter. Ich schaute mich in der Wohnung um und entschied, dass ich auch noch staubsaugen müsste.

»Lou?«, fragte meine Mutter.»Nein.«

In den letzten Tagen hatte ich immer wieder dasselbe Gespräch mit ihr geführt. Doch nun hatte sie ein neues, unschlagbares Argument: »Bald sind Ferien, die Kita hat zu, was willst du mit Rosa sonst machen?«

»Mist, das hatte ich vergessen.« Ich überschlug meine Möglichkeiten. »Verdammt«, sagte ich dann. »Fahren wir?«, lachte meine Mutter.»Wenn es unbedingt sein muss.«

In Wahrheit waren es weniger die Kitaferien, die mich meine Meinung ändern ließen, als die Schuldgefühle meiner Mutter gegenüber. Ihre Immigration bedeutete, dass sie ihr Leben gegen meine Zukunft eingetauscht hatte, und ich war ihr diese Zukunft schuldig. Alles, worauf sie zu meinen Gunsten verzichtet hatte – Familie, Freunde, Status, berufliche Anerkennung, Respekt für ihre Arbeit –, waren Opfer, um die ich sie zwar nicht gebeten hatte, die aber dennoch unausweichlich waren. Ich war schuld daran, dass sie sich als Scheiß-Ausländerin bezeichnen lassen musste, dass ihre Deutschkenntnisse kommentiert wurden, dass sie permanent abgewertet wurde. Also versuchte ich ihr zu beweisen, dass ihr Opfer nicht umsonst war, sei es durch meine Ausbildung, meine Ehe oder meine Karriere. Da ich gerade keine Karriere anbieten konnte, schuldete ich ihr eventuell eine Reise. Ich schaltete meinen Rechner an und suchte nach der günstigsten Flugverbindung.

»Meine Mutter möchte, dass wir zu Mayas Geburtstagsfeier fahren«, sagte ich zu Sergej. Es war der erste warme Abend seit Langem, wir standen an der Balkonbrüstung, teilten uns eine Zigarette und schauten auf die Panoramafenster der Nachbarn in der neu errichteten Luxusimmobilie gegenüber. Ich hatte Rosa gebadet und ihr Kinderbücher vorgelesen, die sie liebte und die ich hasste, weil in ihnen Menschen durch Tiere ersetzt wurden. Danach hatte ich sie gestreichelt, bis Sergej mich abgelöst hatte und Rosa einen Teil der Klaviersonate in F-Dur von Haydn vorsummte.

»Wer sind wir? Ich habe ein Konzert.« Er legte seine linke Hand auf meinen unteren Rücken und drückte mit der anderen die Zigarette an der Brüstung aus. Gemeinsam gingen wir in die Wohnung hinein, ich verschwand im Bad, und als ich ins Wohnzimmer kam, lag Sergej mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Sofa und blätterte in einer Zeitung. Er trug seine Lesebrille, die er vor Kurzem verschrieben bekommen hatte und die er meistens aus Eitelkeit nicht aufsetzte, dazu seinen grün-blau karierten Morgenmantel, den er ungeachtet der Uhrzeit meistens zu Hause trug.

»Du hast immer ein Konzert zu spielen, aber nur Rosa und ich sollen fahren. Maya wird neunzig.« »Wieso fragst du mich dann überhaupt?«»Meine Mutter glaubt, wir lassen uns scheiden.«

Die Worte kamen völlig unbeabsichtigt aus meinem Mund.

Sergej atmete durch die Nase ein und aus. Und noch einmal. Dann sagte er:

»Lassen wir uns scheiden?«

»Du kennst doch meine Mutter.«

»Ich kenne dich.«

Er legte die Zeitschrift aus der Hand und schaute mich aufmerksam an:

»Gibt es irgendetwas, worüber du reden möchtest?«

»Bitte kein Beziehungsgespräch.«

»Sicher?«

Olga Grjasnowa wurde in Baku, Aserbaidschan, in einer russisch-jüdischen Familie geboren. Dort arbeitete der Vater als Rechtsanwalt und die Mutter als Musikerin. 1996 übersiedelte die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Hessen. Ab 2005 studierte Grjasnowa zunächst Kunstgeschichte und Slawistik in Göttingen, wechselte dann aber ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig in den Studiengang „Literarisches Schreiben.“ Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, der Türkei, den USA und Israel. Heute lehrt sie als Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Sie hat bislang einen Essay und vier Romane veröffentlicht, zuletzt 2020 Der verlorene Sohn. Ihre Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt, fürs Radio und die Bühne adaptiert und verfilmt

Olga Grjasnowa wurde in Baku, Aserbaidschan, in einer russisch-jüdischen Familie geboren. Dort arbeitete der Vater als Rechtsanwalt und die Mutter als Musikerin. 1996 übersiedelte die Familie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Hessen. Ab 2005 studierte Grjasnowa zunächst Kunstgeschichte und Slawistik in Göttingen, wechselte dann aber ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig in den Studiengang „Literarisches Schreiben.“ Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland, der Türkei, den USA und Israel. Heute lehrt sie als Professorin an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Sie hat bislang einen Essay und vier Romane veröffentlicht, zuletzt 2020 Der verlorene Sohn. Ihre Werke wurden in 15 Sprachen übersetzt, fürs Radio und die Bühne adaptiert und verfilmt

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