„Leming“ von Murmel Clausen: Aus dieser Welt verschwinden

Als Kolja von einer 300 Meter hohen Felskante herabblickt, fühlt er sich von der Tiefe regelrecht angesogen. Dabei ist der 16-Jährige gar kein Selbstmordkandidat, im Gegenteil. Er will seine Freunde Reinhold und Verena davon abhalten zu springen. Um sich das Leben zu nehmen, waren die Jugendlichen gemeinsam zum Hegyestű, einer Basaltklippe nahe des ungarischen Plattensees gereist. Es war Verenas Vorschlag, die ebenfalls 16-Jährige kennt die Gegend, weil ihr Vater hier aufgewachsen ist; ihr Großvater lebt noch immer in einer Datsche in der Nähe.

Kennengelernt hat Kolja die beiden im Internet. Nach einem der vielen Konflikte mit seinem narzisstischen Vater googelte er, wie man sich am besten die Pulsadern aufschneidet: „Mehr aus Neugierde, als dass ich es wirklich machen wollte.“ Er landete in einem „Ritzerforum“. Der 18-jährige Reinhold war der Administrator, Verena eine von vielen, die hier ihre krassen Geschichten teilten: Alki-Eltern, Drogen, Gewalt. Hauptsächlich, stellt Kolja fest, tauschen sich dort Jugendliche aus, die es satthaben, von Erwachsenen „beurteilt, abgestempelt und kategorisiert“ zu werden. Es scheint ein safe space, ein geschützter Raum, durch eine Auslands-Domain außerhalb des Zugriffs deutscher Behörden.

Kolja, Reinhold und Verena teilen in dieser virtuellen Welt die negativen Erfahrungen, die sie mit ihren Eltern in der wirklichen Welt gemacht haben. Reinhold hat „die größte Arschlochmutter, die man erwischen konnte“. Verenas Vater hatte regelmäßig ihre Mutter geschlagen und schließlich vom Balkon gestoßen. Im Vergleich dazu erscheinen Kolja die Dauerkritik und Nörgeleien seines Vaters fast wie Kleinkram.

Der Autor Murmel Clausen hat drei ganz wunderbare, empathische und lustige jugendliche Figuren erdacht, lebensnahe und vielschichtige Charaktere, mit denen man sich sofort auf die Reise machen würde. Kolja erzählt diese Geschichte aus seiner Perspektive – und von dem Widerspruch, mit dem er kämpft: Einerseits hat er keine Freunde außerhalb des Forums, andererseits belügt er diejenigen dort, weil er sich gar nicht umbringen will – und außerdem noch verhindern möchte, dass sie es tun. Er versucht, mit Ratgebersätzen, die, von Erwachsenen gesagt, kaum überzeugen, andere in Chats zu ermutigen. Immer bemüht, sich nicht selbst zu entlarven.

Damit fällt er dem Administrator Reinhold auf, der ihn in eine WhatsApp-Gruppe außerhalb des Forums einlädt, in der auch Verena ist. Und dort eben verabreden die drei sich zur Reise an den Balaton, um sich dort gemeinsam vom Felsen zu stürzen. Warum Reinhold den Gruppennamen „Leming“ mit nur einem „m“ geschrieben hat, begründet er schlicht mit: „Ist schon von der Klippe gesprungen.“ Das wiederum eröffnet eine überraschende Perspektive auf die bevorstehende vermeintlich letzte Reise der drei, ist es doch bei den Lemmingen so, dass sich alle Tiere von der Klippe stürzen – und nicht bloß eins. Will also auch Reinhold eigentlich gar nicht springen? Und was ist mit Verena, für die Kolja mehr empfindet, als er sich selbst eingestehen will?

Der Tod schwebt wie eine Drohung über allem, und deshalb ist das vielleicht Erstaunlichste, mit wie viel Witz Clausen diesen Roadtrip erzählt. In der liebenswerten Unverfrorenheit seiner Figuren erinnert er durchaus an Tschick.

Die drei heizen mit „Reinholds Bestie“, einem aufgemotzten lilafarbenem Audi, nach Ungarn. „Ihr Motor knurrte, die Sonne spiegelte sich in ihrer auf Hochglanz polierten Haut. Und ihre Augen begannen wie wild zu blitzen. Reinhold hatte wohl ein illegales Fernlicht-Stroboskop eingebaut.“ Dieses Auto setzt Clausen wie eine geladene Waffe im Film ein: Wird sie gezeigt, muss sie am Ende auch abgefeuert werden, in diesem Fall sogar jemanden töten, was im Vergleich zum Gruppensuizid fast eine gute Nachricht ist. Einige bleiben auf der Strecke: eine Katze, ein vermeintlich pädophiler Trucker, Verenas Großvater.

Mit großem Gespür für die vielen Zwischentöne der Adoleszenz erzählt Murmel Clausen von all den Herausforderungen, denen seine drei jungen Helden begegnen – und gleicht das Schwere mit Heiterkeit aus. Der Autor, der schon mit Bully Herbig zusammengearbeitet und für Anke Engelkes Ladykracher geschrieben hat, zeigt sein humoristisches Talent besonders in den Szenen mit dem Möchtegern-Influencer-Paar Nessie und Leo, die samt ihrer Assistentin Katta am Balaton ein Ferienhaus neben der Datsche von Verenas Opa beziehen. Mit ihrer völlig albernen und oberflächlichen Art scheinen sie das genaue Gegenteil der lebensmüden Reisegruppe zu sein. In jedem Fall wirken sie wie ein Katalysator und sorgen dafür, dass am Balaton das Leben so richtig gefeiert wird. All das zu einem glaubhaften Ende zu bringen, das kein plumpes Happy End ist, muss man erst mal hinkriegen.

In Leming geht es letztlich um alles: um die Feier des Lebens und den Abschied, um die tiefen Abgründe und großen Katastrophen, aber auch um die Leichtigkeit und den Spaß. Und um den wundervollen Rausch des Jungseins, wenn man schon langsam die ganze Last des Erwachsenseins spürt.

Murmel Clausen: Leming. Voland & Quist 2024; 204 S., 18 €;  ab 16 Jahren

Als Kolja von einer 300 Meter hohen Felskante herabblickt, fühlt er sich von der Tiefe regelrecht angesogen. Dabei ist der 16-Jährige gar kein Selbstmordkandidat, im Gegenteil. Er will seine Freunde Reinhold und Verena davon abhalten zu springen. Um sich das Leben zu nehmen, waren die Jugendlichen gemeinsam zum Hegyestű, einer Basaltklippe nahe des ungarischen Plattensees gereist. Es war Verenas Vorschlag, die ebenfalls 16-Jährige kennt die Gegend, weil ihr Vater hier aufgewachsen ist; ihr Großvater lebt noch immer in einer Datsche in der Nähe.

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