Leichenschau zu Lebzeiten: Die Musterung kommt

Der Bundestag hat eine allgemeine Musterung für alle jungen Männer beschlossen. Unser Autor lernt: Er ist jetzt ein Weißer Jahrgang, ein Davongekommener. Doch als wie bedrohlich er die Wehrpflicht als Junge wahrnahm, weiß er noch genau


„Die Armee ist kein Abenteuerspielplatz, sie ist ein Zurichtungsapparat“

Foto: photothek/Imago Images


Ich bin ein Davongekommener. Einige Zeit vor meinem 18. Geburtstag hatte ich noch diesen Brief bekommen, mit dem merkwürdigen Absender „Kreiswehrersatzamt“. Ich war erfasst. Doch bis ich die Schule abgeschlossen hatte, war die Wehrpflicht ausgesetzt. Ich gehöre also zu den ersten der womöglich letzten Weißen Jahrgänge in Deutschland.

Den Begriff habe ich jetzt erst gelernt – logisch: Nicht eingezogen worden zu sein bedarf erst dann einer sprachlichen Differenzierung, wenn wieder eingezogen wird. So weit ist es noch nicht, aber die allgemeine Musterung ist kein unbedeutender Schritt. Sie wird ein Damoklesschwert über den jungen Männern dieses Landes sein.

Ich weiß, wovon ich spreche. Denn ich habe meine gesamte Kindheit mit der Aussicht verbracht, womöglich zur Bundeswehr gehen zu müssen. Die Musterung war ein Ereignis, das unweigerlich auf einen zukam. Sie war Teil der Vorstellungen, die man sich von der eigenen Zukunft machte. Mit allen Geschichten und Tipps und Tricks, die dazu kursierten: wie man sich ausmustern lässt, wie man am besten verweigert und so weiter.

Wehrpflicht: Die Musterung als Demütigung

In meiner Familie pflegte man kein politisches Verhältnis zur Bundeswehr. Mein Vater war Soldat gewesen, aber kein soldatischer Typ. In seinen Erzählungen war die Zeit als Offizier eher eine Aneinanderreihung kurioser Anekdoten; von Männlichkeitspathos oder Nationalismus keine Spur. Seine Söhne drängte er also nicht, diesen Weg zu beschreiten, er hatte jedoch auch nichts dagegen.

Trotzdem ist der eigene Vater natürlich ein Idol, wenn man ein kleiner Junge ist. Die alte blaue Uniform im Keller war ein beliebtes Verkleidungsstück. Ich soff darin ab, klar. Meinem Vater passte sie allerdings auch längst nicht mehr.

Womit wir beim Körper wären. Die Musterung habe ich mir immer als Demütigung vorgestellt. An diesem Ort, zu diesem Zeitpunkt, würden all die Mängel meines Körpers offen zutage treten. Ich hätte es amtlich: zu klein, zu mager, zu schwach, zu unsportlich. Ein staatlich zertifizierter Lauch. Gleichzeitig war es gerade dieser Körper, der mir eine gewisse Ruhe und Gewissheit gab: Ich würde eh ausgemustert werden. Eine merkwürdige Ambivalenz.

Wehrpflicht: Aufrüstung kann eine Notwendigkeit sein

Wie gesagt, es kam nicht mehr dazu. Ich bin froh darüber. Es ist, finde ich, vollkommen absurd, dass der Staat sich das Recht herausnimmt, über die Freiheit, Zeit und die Körper seiner jungen Männer zu verfügen.

Gleichzeitig gehöre ich nicht zu denen, die Putins Drohungen nicht ernst nehmen – dafür hat er zu viele davon schon wahr gemacht. Von Grosny bis Butscha führt eine Linie, die sich durchaus nach Berlin oder Paris verlängern lässt. Ich bin also kein Pazifist – Aufrüstung und Remilitarisierung können auch in einer Demokratie eine bittere Notwendigkeit sein.

Aber: Niemals sollte eine Gesellschaft es auf die leichte Schulter nehmen, ihre jungen Männer – auf absehbare Zeit wird es wohl bei dieser Ungleichheit bleiben – kollektiv in den Wartestand als Tötungsmaschine zu versetzen. Die Armee ist kein Abenteuerspielplatz, sie ist ein Zurichtungsapparat.

Ich weiß keinen guten Weg. Ich bin kein Militärexperte. Aber wenn ich an die jungen Männer denke, die sich der Leichenschau zu Lebzeiten nun bald stellen müssen, spüre ich einen alten Schmerz, eine vergessene Angst. Ich will nicht, dass sie da durchmüssen. Die Wehrpflicht ist grausam, sie ist zu vermeiden. Aber wäre einen Krieg gegen ein autoritäres Imperium zu verlieren nicht noch grausamer?

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