Laurie Anderson: „Die Liebe gehörte nicht zu den Stärken meiner Mutter“

ZEIT ONLINE: Laurie Anderson, auf Ihrem neuen Album Amelia
geht es um die berühmte Flugpionierin Amelia Earhart, die sehr wahrscheinlich
im Sommer 1937 über dem Pazifischen Ozean verunglückt ist. Im vergangenen Januar
wurde nun das Wrack eines Flugzeugs gefunden, bei dem es sich um jenes handeln
könnte, in dem sie damals abgestürzt ist. Würden Sie überhaupt wollen, dass die
Maschine gefunden wird?

Laurie Anderson: Ich habe im Lauf der Jahre viele Male darüber
nachgedacht. Earhart ist vor 87 Jahren abgestürzt. Vor Kurzem wurde herausgefunden, wie man die Berichte einiger Hobbyfunker von damals decodieren kann. Viele
Leute auf der ganzen Welt haben am 2. Juli 1937 die gleiche Nachricht von
demselben Ort erhalten: „Das Cockpit füllt sich mit Wasser.“
Vermutlich stammte diese Nachricht von Earhart.

ZEIT ONLINE: Das hört sich nicht nach einem Happy End
an.

Anderson: Nein. Sie war eine sehr gute Pilotin, aber die Antenne an ihrem Flugzeug war abgebrochen. Sie hatte also keine Chance.

ZEIT ONLINE: Die Howlandinsel, auf der Earhart landen
wollte, ist sehr klein und war offenbar auf ihren Karten falsch eingezeichnet.

Anderson: Ja, und ihr Unglück hing auch mit den
Funkfrequenzen zusammen, die damals noch nicht standardisiert waren. Aber hoffe
ich, dass das Wrack ihres Flugzeugs gefunden wird? Ich weiß es nicht. Sie ist
zu einem solch großen Mythos geworden, und es gibt unzählige gefälschte
Aufnahmen von ihr, die sie als japanische Kriegsgefangene zeigen. Das alles
steht heute schon sehr für sich.

ZEIT ONLINE: Wenn man Ihr neues Album chronologisch
hört, also Earharts Reise folgt, kommt die Single Road to Mandalay an achter
Stelle. Die Akkorde klingen plötzlich ganz warm, man glaubt, die
Sonnenstrahlen greifen zu können, die sie während ihres Flugs gesehen haben
muss. Dazu spielen Sie eine fast kindliche Melodie.

Anderson: Ich habe versucht, mir ihren Gemütszustand
vorzustellen. Aber ich bin keine Biografin, ich versuche nicht, ein
vollständiges Bild von Earhart zu zeichnen. Das wollte ich nie. Oscar Wilde hat
einmal gesagt: „Biografen sind die Leichenfledderer der Literatur.“
So etwas will ich nicht sein. Ich könnte auch gar nicht wiedergeben, was in
Earhart vorgegangen sein muss, während sie über den Pazifik flog und in Not
geriet. Ich verstehe ja kaum meinen eigenen Verstand.

ZEIT ONLINE: Earhart hat während ihrer Flüge Tagebuch
geführt.

Anderson: Ich habe mir ihre Aufzeichnungen angesehen
und erkenne darin ihre fortschreitende Erschöpfung. Als sie über Indonesien
flog, erwähnte sie plötzlich Lieder in ihren Notizen. Ich glaube, sie war dabei,
durchzudrehen. Sie hörte den Motor ihres eigenen Flugzeugs seit vielen Tagen, es
muss wahnsinnig laut gewesen sein. Und ihr Navigator war ein Säufer. Er war sicher
keine Hilfe.

ZEIT ONLINE: Aber er blieb bei ihr, bis der Funkkontakt
letztlich abriss, oder?

Anderson: Er blieb bei ihr, aber auch er baute
offenbar immer weiter ab. Earhart hat das in ihren Aufzeichnungen sehr
zurückhaltend beschrieben: „Navigationsproblem“. Das war Code für:
„Der Typ ist sturzbetrunken.“ Mein Song Road to Mandalay beschreibt
den Moment von Earharts letzter Reise, an dem sie den Faden verliert. Sie
begann, immer wieder die gleichen Worte zu wiederholen. Und als Musikerin liebe
ich Loops.

ZEIT ONLINE: Loops und Ihre Stimme halten das Album
zusammen. Und ein Orchester. Sie haben als Kind selbst Geige gespielt, aber dann
einfach aufgehört, weil Ihnen klar wurde, dass Sie das nicht zehn Stunden am
Tag machen wollten.

Anderson: Genau. Vergiss es. Ich glaube aber, dass es
hilfreich ist, wenn man zumindest weiß, wie man das Instrument bedient. Manchmal
macht es mir auch einfach Spaß, Geige zu spielen. Als ich 1997 Kuratorin des
Meltdown Festivals in London war, habe ich ein Event namens The Night of a
Hundred Violins veranstaltet. Ich lud eine Reihe von Geigern ein, die alle
das gleiche Stück spielen sollten: La Mer von Claude Debussy. Aber nur
den zweiten Satz und nur die zweite Geige.

ZEIT ONLINE: Die zweite Stimme ist oft genauso schön,
wenn nicht schöner als die erste. 

Anderson: Ja, da verstecken sich Meisterwerke in
vielen Orchesterstücken. Man hört sie fast nur, wenn man selbst in einem
Orchester spielt. Bei La Mer hat die zweite Geige zunächst 20 Takte
Pause. Der Dirigent fragte mich: „Was soll ich machen?“ Ich sagte: „Dirigier
20 Takte Stille.“ Er hatte Angst, wie ein Idiot rüberzukommen, aber ich
versicherte ihm: „Du wirst gut aussehen.“

ZEIT ONLINE: Zu Ihren außermusikalischen Abenteuern
gehört, dass Sie einmal versucht haben sollen, zum Nordpol zu trampen.

Anderson: Ich war zu der Zeit oft in Mexiko und
wollte ursprünglich etwas über die USA schreiben. Dann dachte ich mir, ich
fahre jetzt mal zu meinen Nachbarn und von dort aus immer weiter nach Norden.
Dabei entwickelte sich die Idee, den Nordpol erreichen zu wollen. Irgendwann
flog ich sogar als Anhalterin in Postflugzeugen mit.

ZEIT ONLINE: Laurie Anderson, auf Ihrem neuen Album Amelia
geht es um die berühmte Flugpionierin Amelia Earhart, die sehr wahrscheinlich
im Sommer 1937 über dem Pazifischen Ozean verunglückt ist. Im vergangenen Januar
wurde nun das Wrack eines Flugzeugs gefunden, bei dem es sich um jenes handeln
könnte, in dem sie damals abgestürzt ist. Würden Sie überhaupt wollen, dass die
Maschine gefunden wird?

Laurie Anderson: Ich habe im Lauf der Jahre viele Male darüber
nachgedacht. Earhart ist vor 87 Jahren abgestürzt. Vor Kurzem wurde herausgefunden, wie man die Berichte einiger Hobbyfunker von damals decodieren kann. Viele
Leute auf der ganzen Welt haben am 2. Juli 1937 die gleiche Nachricht von
demselben Ort erhalten: „Das Cockpit füllt sich mit Wasser.“
Vermutlich stammte diese Nachricht von Earhart.

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