Lage in welcher Ukraine: Noch gibt es keinen Plan B

Lage in welcher Ukraine: Noch gibt es keinen Plan B

„Habe ich das gesagt? Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe.“ Donald Trumps fehlende Erinnerung daran, wie er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als „Diktator“ bezeichnete und damit drohte, ihn von künftigen Verhandlungen auszuschließen, steht symbolhaft für die Katastrophe, an der die Ukraine vorbeigeschlittert zu sein scheint. Trumps Wiederannäherung an Selenskyj hat die Sorgen wieder verringert, zu denen sich die Ukraine veranlasst sah: dass die USA das Land fallen lassen, die Waffenlieferungen einstellen und sich künftig an den Wünschen Russlands orientieren würden. Auch Starlink, Elon Musks Satellitenunternehmen, wies Befürchtungen zurück, es wolle die Ukraine von seinem Netz ausschließen.

Doch auch wenn sich die diplomatische Krise zwischen der Ukraine und den USA wieder zu beruhigen scheint: Trumps Versuche, den Krieg vor allem durch Absprachen mit Russland zu beenden, laufen weiter. Der US-Präsident bleibt überzeugt von seinem Vorgehen: „Ich denke, wir haben viele Fortschritte gemacht und es geht ziemlich schnell voran.“ Ein Waffenstillstand werde „ziemlich bald“ erzielt, kündigte Trump an. Und ergänzte: „Oder gar nicht.“

Die Debatten der vergangenen Wochen drehten sich kaum noch um die Lage an der Front. Sondern darüber, wer bei den Verhandlungen um einen Waffenstillstand mit am Tisch sitzen darf. Und darüber, wie der Waffenstillstand abgesichert werden soll. Als wäre beides schon beschlossene Sache. Dabei scheitern die Chancen auf Verwirklichung bislang an Gegensätzen zwischen den beteiligten Parteien, die noch lange nicht überwunden sind: Die USA wollen, dass es schnell geht. Die Ukraine fordert, dass ein Waffenstillstand glaubwürdig gesichert wird. Und Russland lehnt, Stand jetzt, beides ab.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei einem Zwischenstopp in Irland auf dem Weg in die USA zu einem Treffen mit Donald Trump

Die Tiefe der Gräben zwischen diesen Positionen wird anhand einer Analyse (PDF) der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) vom Januar sichtbar. Sie geht der Frage nach, wie ein künftiger Waffenstillstand in der Ukraine eingehalten werden kann. Als wichtigstes ungelöstes Problem sehen Politikwissenschaftlerin Claudia Major und Oberstleutnant Aldo Kleemann die Abschreckung – also welche Maßnahmen ergriffen werden müssten, um einen zweiten russischen Angriff auszuschließen. Dass das notwendig ist, zeigen die Erfahrungen aus der Zeit zwischen der Krim-Annexion 2014 und der Invasion 2022. „Solange die politischen Ursachen für den Konflikt fortbestehen“, könne der Frieden nicht ohne Abschreckung gewahrt werden.

Für denkbar halten Major und Kleemann drei Szenarien: entweder eine Aufnahme in die Nato, die Stationierung von westlichen Friedenstruppen oder eine gezielte Stärkung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit sowie eine schleichende Integration in EU- und Nato-Strukturen. Letzteres könne jedoch angesichts des Investitionsbedarfs in das ukrainische Militär länger als ein Jahrzehnt dauern, der Nato-Beitritt wird derzeit ausgeschlossen. Es bleiben: Friedenstruppen.

Doch das wirft wiederum zahlreiche Fragen auf. Die mutmaßlich notwendige Truppenstärke von 150.000 Soldatinnen und Soldaten kann Europa demnach nicht bieten, ohne Nato-Verpflichtungen aufzugeben. Dem Schutz der Ukraine würde der Schutz der Nato-Ostgrenze zum Opfer fallen, heißt es in der SWP-Analyse. Ohne US-Unterstützung wäre so eine Truppe zudem nur eingeschränkt einsatzfähig. Auch gebe es kaum historische Beispiele für einen solchen Einsatz, schreiben Major und Kleemann. In Vietnam gingen die Kämpfe mit dem Abzug der US-Truppen weiter und Südvietnam wurde erobert; auf der koreanischen Halbinsel wird der Waffenstillstand mit Zehntausenden US-Soldaten gesichert; im Kosovo sind die Einsatzbedingungen deutlich andere als in der Ukraine, die 55-mal größer ist. 

Auch ein politisches Mandat wäre laut SWP-Analyse schwierig: Eine Nato-Führung würde
Russland ausschließen, ein UN-Mandat als Vetomacht im Sicherheitsrat
verhindern, für ein EU-Mandat fehle die Einigkeit und die OSZE wäre
ohnehin nicht dazu geeignet. OSZE-Beobachter, die zwischen 2014 und 2022 in
der Ostukraine stationiert waren, konnten dem Kriegsbeginn vor drei
Jahren nur zuschauen. Es bleibe nur eine sogenannte Koalition der Willigen, angeführt beispielsweise von Frankreich, Großbritannien und Deutschland. 

Mitarbeiter der OSZE-Beobachtungsmission verlassen das ostukrainische Donezk am 13. Februar 2022. Elf Tage später begann die Invasion.

Das Problem hierbei: Die Willigen sind nicht willig. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach bei der Friedenstruppe von einer „völlig verfrühten“ Diskussion. Entschlossene Unterstützer der Ukraine wie Polen schließen den Einsatz eigener Truppen aus. „Den Mehrwert einer gesicherten Ukraine für Europas Sicherheit und die internationale Ordnung schätzen sie als geringer ein als die Notwendigkeit der eigenen Absicherung“, schreiben Major und Kleemann über die führenden europäischen Länder. Ohnehin sei es politisch kaum erklärbar, wie ein ukrainischer Nato-Beitritt abgelehnt und zugleich ein Einsatz beschlossen werden kann, der auf militärischen Beistand im selben Ausmaß hinausläuft. Ihr Fazit: „Eine schlüssige Strategie, Russland oder die Ukraine (…) zum Einstellen der Kämpfe zu bewegen, liegt bislang nicht vor.“

All diese offenen Fragen beziehen sich auf das, was derzeit eine Art Plan A zu sein scheint: ein Ende der Kämpfe mit anschließender Hoffnung darauf, dass der Waffenstillstand, sofern er gut genug gesichert wird, zum Frieden wird. Doch was, wenn es nicht erst dazu kommt? Wenn Russland weiter auf zusätzliche ukrainische Gebiete und eine Demilitarisierung der Ukraine besteht – oder die Ukraine darauf, Sicherheitsgarantien zu erhalten, die nicht erst nach Jahren greifen würden? Gibt es überhaupt einen Plan B?

Jede der beteiligten oder betroffenen Parteien hat auf diese Frage eine eigene Antwort. Die USA verneinen sie nahezu vor laufender Kamera. Die EU verspricht eine Fortsetzung der bisherigen – und offensichtlich nicht ausreichenden – militärischen Unterstützung. Und Selenskyj sagte schon vor Monaten: „Wir leben und kämpfen schon im Plan B.“ Doch ewig lässt sich auch das nicht durchhalten.

Das Institute for the Study of War (ISW) sieht in der ukrainischen Antwort – kämpfen, bis Russland nachgibt – dennoch das meiste Potenzial. Allerdings nur, wenn sich die Unterstützung des Landes verstärke, schrieb das Institut vergangene Woche in einem Beitrag (PDF), in dem es Russland eine deutlich schwächere Position bescheinigt, als die derzeitigen Debatten es nahelegten.

So sieht das ISW den Höhepunkt der russischen Kampfkraft bereits überschritten. Die russische Rüstungsindustrie könne deutlich weniger schwere Waffen produzieren, als die Armee in den Kämpfen verliert. Die Sowjetreserven, die das ausglichen, werden demzufolge spätestens im kommenden Jahr zur Neige gehen. Und die Rekrutierung von Freiwilligen, um einer von Putin gefürchteten Mobilmachung zu entgehen, könne die mehr als 1.000 täglich getöteten oder verletzten Soldaten nicht ersetzen. Schon jetzt geht die Zahl russischer Soldaten in der Ukraine langsam zurück. Auch in anderen Bereichen könne Russland die Ukraine nicht mehr so erdrücken, wie es noch vor einem Jahr der Fall war. Der Munitionsverbrauch der beiden Kriegsparteien sei inzwischen nahezu gleich, schreibt das ISW.

Zerstörte russische Panzer im Februar 2024 in der Region Donezk

Die Entwicklungen an der Front scheinen das widerzuspiegeln. So war der Februar der dritte Monat in Folge, in dem Russlands Vormarsch sich verlangsamt: von mehr als 700 Quadratkilometern im November zu weniger als 200 Quadratkilometern in den vergangenen vier Wochen – bei etwa gleichbleibenden Verlusten. Eine Stabilisierung der Frontlinie gelang dem ukrainischen Militär zwar nach wie vor nicht, doch es ist diesem Ziel deutlich näher als in der zweiten Jahreshälfte 2024.

„Putins Theorie des Sieges basiert auf mehreren Annahmen über Russlands militärische Überlegenheit und Russlands Hartnäckigkeit und Ausdauer“, schreibt das ISW. Nach der Rechnung des russischen Präsidenten kann sein Land die hohen Verluste deutlich länger ertragen als die Ukraine und ihre Unterstützer. Auf bis zu 18 Monate schätzt das ISW den Zeitraum, den die Ukraine überbrücken müsste, bis Russlands Kampf- und Wirtschaftskraft deutlich nachzulassen drohe und Putins Rechnung sich verändere. Ein Zeitraum, der sich durch eine Verstärkung der Militärhilfen an die Ukraine verkürzen lasse.

Damit erklärt das ISW auch Putins Annäherung an die USA, denen er eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen, die Wiederaufnahme gemeinsamer Wirtschaftsprojekte und eine Zusammenarbeit im Rohstoffsektor auf besetztem ukrainischen Gebiet anbot. Der russische Präsident ziele darauf ab, mit Trump auf Augenhöhe zu verhandeln, solange diese Augenhöhe besteht. Je mehr Druck die Ukraine mit westlicher Hilfe an der Front ausüben könne, desto schneller werde dieser Eindruck schwinden und Putin zu einer neuen Rechnung gezwungen werden – in der er Russlands Durchhaltefähigkeit neu und zum eigenen Nachteil bewerten müsste.

Weiter Waffen liefern, weiterkämpfen – das kann kaum ein zufriedenstellender Plan B sein. Doch er scheint der Einzige zu sein, der derzeit existiert.



1.101 Tage


seit Beginn der russischen Invasion


Das Zitat: Ein Mann des Gesetzes

Putin fordert als Mindestbedingungen für einen Waffenstillstand den Abzug der Ukraine aus Gebieten, die er für sich beansprucht – darunter etwa die Großstädte Cherson und Saporischschja. Überlegungen, einen Waffenstillstand an der derzeitigen Frontlinie zu vereinbaren, erteilte Russlands Außenminister Sergej Lawrow eine Absage. Dabei verwies er nicht auf die Forderungen seines Präsidenten, sondern auf das russische Recht:

Wir haben eine Verfassung.

Sergej Lawrow

Russland hatte die Gebiete Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk im Herbst 2022 annektiert und ihren Status als Teil des Landes in der Verfassung verankert – obwohl damals große Teile dieser Regionen nicht von russischen Truppen kontrolliert wurden. Bis auf das inzwischen vollständig eroberte Luhansk hat sich das bis heute nicht verändert. Der Status der annektierten Regionen, die laut ukrainischer und russischer Verfassung Teil des jeweiligen Landes sind, bleibt damit nach wie vor eine der größten formellen Hürden für einen Kompromiss.

Russischer Außenminister Sergej Lawrow nach einem Treffen mit seinem US-Amtskollegen Marco Rubio am 18. Februar in Riad

Waffenlieferungen und Militärhilfen: Drohnen, Flugabwehr und Munition

  • Norwegen hat der Ukraine 51 Millionen Euro für den Kauf und die Entwicklung von Drohnen zugesagt. Zudem will Norwegen die Waffenproduktion in der Ukraine mit 300 Millionen Euro fördern.
  • Dänemark hat der Ukraine Militärhilfen im Wert von 270 Millionen Euro zugesagt, ohne Details zu den damit finanzierten Waffen zu nennen.
  • Schweden sagte der Ukraine 110 Millionen Euro für den Kauf von Flugabwehrsystemen zu.
  • Estland hat eine Lieferung von 10.000 Artilleriegranaten angekündigt.


OK, America? – Klaus Brinkbäumer und Rieke Havertz erklären die USA
:
Donald Trumps Putin-Verehrung


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-52:20


Unterm Radar: Ineffiziente Bomben?

Zu einem der größten Probleme für die ukrainischen Truppen an der Front hatten sich in den vergangenen zwei Jahren Freifallbomben aus sowjetischen Beständen entwickelt. Nachdem es Russland gelungen ist, die schweren Bomben kostengünstig mit Gleitvorrichtungen und Navigationssystemen auszustatten, werden sie aus einer Distanz von mehreren Dutzend Kilometern abgeworfen – nach ukrainischen Militärangaben manchmal mehr als 100 Bomben am Tag. Die Trägerflugzeuge bleiben dabei in relativer Sicherheit. Die Bomben können praktisch nicht abgewehrt werden und spielten eine zentrale Rolle bei der russischen Eroberung der Städte Awdijiwka und Wuhledar.

Doch an der derzeitigen Hauptfront südlich von Pokrowsk werden die selbst von ukrainischen Militärbloggern als russische „Wunderwaffe“ bezeichneten Bomben offenbar nur wenig eingesetzt. Russische Militärblogger nannten in den vergangenen Tagen erstmals einen Grund dafür: Die Ukraine habe den Einsatz von Störsendern deutlich verbessert und sei nun in der Lage, die Navigation der Bomben zu stören. „Die Ära der göttlichen Gleitbomben blieb kurz“, schrieb der Telegramkanal Fighterbomber, der Russlands Luftwaffe nahesteht: „Sie treffen nicht.“ Nur etwa jede zehnte Bombe erreiche noch ihr Ziel.

Überreste einer russischen Gleitbombe nach einem Angriff in der Region Charkiw im Juni 2024

Sollten sich die Angaben der Militärblogger bestätigen, wäre das eine deutliche Erleichterung für die ukrainischen Truppen, deren Befestigungsanlagen den Bomben nicht standhalten können. Für Russlands Luftwaffe würde der Einsatz hingegen schwieriger, da deutlich mehr Trägerflugzeuge in der Luft sein müssten, um den bisherigen Effekt zu erzielen. Allerdings sind die Angaben noch unbestätigt. Das Analyseteam CIT und weitere Beobachter sagten dem exilrussischen Investigativmedium Agentstwo, es gebe noch nicht genug Daten, um die mutmaßlichen Fortschritte der Ukraine bei der Abwehr der Bomben einzuschätzen.


Der Ausblick: Keir Starmers Strategieberatung

In dieser Woche haben Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer in den USA Donald Trump getroffen. Sie sprachen gewissermaßen als Repräsentanten Europas mit dem US-Präsidenten, der die Hauptlast bei der Friedenssicherung in der Ukraine den Europäern auftragen will. Über die Ergebnisse seines Treffens mit Trump will Starmer am Sonntag weitere EU-Regierungschefs unterrichten. 

An dem Gipfeltreffen in London nimmt unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz teil, dazu der Nato-Generalsekretär Mark Rutte und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Es werde darum gehen, „jetzt die Position der Ukraine zu stärken“, teilte Starmers Büro mit. Vor dem Gipfel trifft Starmer in London auch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj – der zuvor ebenfalls in Washington mit Trump spricht.

Den Rückblick auf die vergangene Woche finden Sie hier.

Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine in unserem Liveblog.

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