Sind die wachen, kritischen, coolen Italiener jetzt alle in Berlin? Neulich postete der Schriftsteller Roberto Saviano auf Instagram, wie er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof die Gräber von Hegel und Brecht besuchte, und das von Fichte, seinem philosophischen Vorbild.
Kurz darauf entdeckten wir in Berlin dieses Plakat: La rappresentante di Lista – live im Franzz-Club.
Vor ein paar Jahren hatten wir sie zufällig beim kleinen Rockfestival von Montespertoli gesehen, einem malerischen Ort auf einem Hügel in der Nähe von Florenz. Der Wein kam von den einheimischen Bauern. Und diese junge Indie-Band, bunte Klamotten, irgendwas zwischen Electro, Pop, Soul und Funk, die wirbelte da auf der Bühne und machte Zirkus, „alles, worauf wir Bock haben, chiaro?“.
Geheimtipp für alternative Italiener – und jetzt berühmt
Solch eine weibliche Stimme hatte man in Italien lange nicht mehr gehört, rotzig und zart, klar und vernebelt, kein Urschrei wie bei Gianna Nannini, irgendwie theatralisch, aber eben kein Pathos. Sie gingen direkt rein, die Melodien, der Bass, die Drums, jedenfalls konnte man einfach nicht mehr gemütlich mit seinem Chianti in der Abendsonne dösen. Sondern musste tanzten.
Nach dem Konzert kamen wir mit der Sängerin, die aus der Toskana stammt, ins Plaudern. Sie erzählte, dass auch sie Brecht liebe, seine Dreigroschenoper. Und dass ihre Großmutter während des Krieges viele deutsche Worte gelernt hatte, sie habe dann später auf dem Gymnasium selbst Deutsch gelernt. Ein Song der Band heißt „Klammern an den Zähnen“. La Rappresentante di Lista – Die Spitzenkandidatin kannten damals noch nicht so viele. Die Band war ein Geheimtipp für die alternative Szene.
Das ist vorbei. Sie waren 2020 in San Remo und haben mittlerweile auf Spotify fast 60 Millionen Streams. Sie werden von der Vogue und La Repubblica interviewt, wenn sie ein neues Album haben. Gerade sind sie auf Europa-Tournee. Am Donnerstag spielten sie in Berlin, im FranzzClub in Prenzlauer Berg, noch so ein besonderer Ort, der die Wendezeit überlebt hat. Die Schlange war lang.
Glückliche Tage? In diesen Zeiten?
Giorni Felici? Glückliche Tage haben sie ihr neues Album genannt. Schon wegen dieses Namens – in diesen Zeiten – nichts wie hin! Natürlich war die italienische Community aus Berlin gekommen, junge Leute zwischen 25 und 35, auch ein paar ältere. Männer in grell-bunten Hosenanzügen, die an Versace in den 80ern erinnerten – Frauen mit grünen Haaren, die sich küssten. Eine Sizilianerin, die in Friedrichshain eine Bar eröffnet hat, hat uns gleich dahin eingeladen. Ein Spanier mit gegelten Haaren sagte, er sei nur wegen eines Liedes hier, wegen „Ciao Ciao!“. Es klingt wie ein Sommerhit.
Dann tritt Veronika Lucchesi auf die Bühne, die Sängerin: Schwarze Haare, schwarzes Oberteil mit weißem Bubikragen, schlicht, feminin, cool. Auch am Schlagzeug sitzt eine Frau, der Bassist Dario Mangiaracina trägt Tattoos auf dem Oberarm als sei er ein italienischer Stürmer, an der Gitarre hüpft eine metrosexuelle Mischung aus Bill Kaulitz und Harry Styles. Es sind Fans gekommen, die meisten singen die italienischen Texte mit.
Queer sein und Mikro-Revolutionen
Es geht in den Songs um Wut, Nostalgie, Unsicherheit, Liebe – man hat das Gefühl, sie wollen der Krise, dem Weltuntergang was entgegensetzen. Kein Eskapismus, eher ein Lautsein gegen das Schweigen, das Blei, das über dem Land, der ganzen Welt liegt. Lebensfreude statt Lethargie!
Sie kritisieren den Zerfall der Politik, die Regierung Meloni mache Angst, weil sie fundamentale Bürgerrechte einschränke, es geht um Ökologie und Feminismus, um prekäres Leben, all die Themen ihrer Generation. Seit ihren Anfängen macht sich die Band für die queere Szene stark und träumt von „Mikro-Revolutionen“ im Alltag.
Kunst und soziale Verantwortung gehört für sie zusammen, ohne dass sie die Menschen belehren wollen, eher sensibilisieren. Schon der Name der Band zeigt, dass sie eine Alternative sein wollen, anders denken, auch die Liebe. „Queer“, das ist in Italien, gerade jetzt, kein einfaches Wort. La Rappresentante di Lista reden öffentlich und sehr direkt über das Recht darauf, zu lieben, wen man will, zu sein, wer man sein will.
Diese Erde wird verschwinden
„Wir lassen uns nicht manipulieren und wir lassen uns nicht kontrollieren“, ruft die Sängerin. Applaus. „Berlino, ti amo!“, ruft sie noch. Es ist ein italienischer Abend, jenseits von Pizzeria und Giovanni Zarella-Show.
Ciao Ciao, der Song, der wie ein Sommerhit klingt, ist eigentlich ein Lied über das Ende der Welt. Es spiegelt die Stimmung, das Unbehagen, die Angst ihrer Generation. Und gleichzeitig hat es große Kraft.
Wie gehts, Mädchen? Wo gehst Du hin heute Abend? Diese Erde wird / verschwinden, im Schweigen der allgemeinen Krise, ich grüße Dich mit / Liebe. Mit den Händen, mit den Füßen, mit dem Kopf: Ciao, Ciao!
Der Saal bebt, sogar die Barkeeper tanzen. Die Lieder handeln vom sozialen Schwindel, Seiltänzern, die komplett alleine über der Leere balancieren. „Diese Leere, die wir gerade leben, das ist die Weltlage, das sind die täglichen Nachrichten“, sagte Lucchesi der linken Zeitung Il Manifesto.
Von Natur aus widerstehen
Es geht ihr um Beziehungen und um Identität, darum, dass wir alle zu Individualisten geworden sind, isoliert. An diesem Abend sind sie eine Community. Die Sängerin wird nicht explizit politisch, aber am Ende singt Veronica Lucchesi, die was Divenhaftes hat, aber trotzdem nahbar wirkt, noch den Song „Resistere – Widerstehen“.
Ich will versuchen, zu widerstehen. Meine Natur ist Widerstehen / es ist mir egal, ob ich verliere, das, was ich jetzt will, ist leben.
Sie redet von Frieden und gegen Waffen. Ein Zuschauer ruft „Viva Palestina“. Bands sind auch immer Projektionsfläche.
Nach dem Konzert stehen die Leute draußen vor dem Club und rauchen. „Wir sehen uns in meiner Bar“, ruft die Sizilianerin vom Anfang. Es sind so kleine Dinge, aber dieser Frühlings-Booster wirkt auch noch am nächsten Morgen. Man liest nicht gleich die Nachrichten, sondern hört ihre Musik.
Ciao e Arrivederci!