Es wird derzeit viel gefühlt in der Kunstkritik. Rezensenten großer Kultursender „vermissen“ mindestens so viel, wie sie sich „wünschen“ – beziehungsweise „wünschen würden“ oder „gewünscht hätten“ („Ich hätte mir einen Roman mit einfachen Hauptsätzen gewünscht“) –, gefolgt von Bedauern: „dass die Hauptfigur nicht genauer ausgearbeitet ist“. Der Filmexperte vom Kultursender fühlt sich „nicht abgeholt“, die Kunstkennerin beim Anblick der Gemäldeserie gar „alleingelassen“.
Ist diese gefühlsbetonte Erwartungspädagogik, welche an Eltern erinnert, die beim Anblick des Halbjahreszeugnisses zu verstehen geben, sie seien „nicht böse, nur enttäuscht“, der richtige Stil für Kunstkritik? Ich vermisse unseren mittlerweile verstorbenen Hund. Ein Freund erzählt mir von seinem Bedauern über das Scheitern seiner Ehe. Und Wünschen? Diese unaufdringliche, fast kindlich-träumerische Art des Begehrens soll also herhalten für einen so feigen, selbstentlastenden Kunstgriff? Einen, der Dominanz tarnt durch Empfindsamkeit, was darüber hinaus den Kritiker selbst unangreifbar macht („Ich sage ja nur, was ich fühle“). Die schonend-sanfte Formulierung, eingeweicht im Konjunktiv II und gern ergänzt durch ein „Ich persönlich“ ( ja, wer denn sonst? Die neuseeländische Löffelente?), schafft einen emotionalen Airbag und entzieht sich der Verantwortung.
Was so bescheiden in Ich-Botschaft daherkommt und den Eindruck erweckt, man hätte sich ins Behandlungszimmer eines Paartherapeuten verirrt („Ich vermisse Dein Bedauern darüber, mir meine Wünsche nicht erfüllt zu haben“), birgt Egozentrik und Überheblichkeit: Wer an einem Kunstwerk etwas „vermisst“, scheint ja sehr genau zu wissen, wie man es hätte besser machen können und stellt sich über die Autonomie des Werkes.
Nur noch Vermisstenanzeigen
Bei so viel Privatheit liegt die Grenzüberschreitung nahe. Kürzlich belehrten die Herausgeberinnen einer Kunst-Zeitschrift einen Büchnerpreisträger über dessen vermeintlichen „Machtgestus“ und erklärten ihm, was die Zeitschrift – die Fragestellerinnen selbst versteckten sich dabei hinter ihrer Zweiheit – in seinem vor 24 Jahren erschienenen Roman „vermisst“ habe. Als dieser schließlich den überheblichen Ton der beiden ansprach, folgte die Frage, ob der Schriftsteller nicht „projiziere“.
Zudem offenbart dieser Sprachgestus Konsumdenken und macht den Künstler zur persönlichen Servicekraft. So forderte ein Vertreter einer Filmförderstelle vor wenigen Tagen, man solle sich stärker an den „Wünschen des Publikums“ orientieren, welches sich Filme wünsche wie „Das Kanu des Manitu“. Dies ist nicht Aufgabe der Kunst; sie ist bekanntlich Raum für Irritation, Verstörung, Unlogik und konsequente Nichterfüllung.
An dieser unästhetischen Mischung aus Pseudo-Demut und impliziter Autorität vermisse ich – also, ich ganz persönlich – Analysefähigkeit, Kenntnis und Sachlichkeit und würde mir wünschen, dass jene, die sich in der Position sehen, die Qualitätsfahnen der Kultur hochhalten zu dürfen, mehr Stilbewusstsein entwickeln würden als Amazon-Rezensenten. Ein Anfang wäre, tatsächlich auf sich zu nehmen, was man von sich gibt – und die private Wunschliste an den Weihnachtsmann zu schicken.
Kirstin Warnke ist Schauspielerin, Regisseurin und Autorin. Zuletzt erschien von ihr „Sei nicht so“ (2024).
Source: faz.net