Kunst | Gesellschaftskritik in Argentinien: Welt des Schmerzes

Argentinien will ein weißes Land sein. Ein rassistisches Narrativ, das der Künstler Tiziano Cruz in seinen Performances anklagt. Ein Porträt

Auf einem kleinen runden Podest steht ein Mann und bittet um Verzeihung. Bekleidet nur mit einer Unterhose und einem Haufen bunter Bänder um den Hals. „Verzeiht, dass ich mich an den Kunstmarkt verkauft habe. Verzeiht, dass ich vor der Armut geflohen bin und mich ihr nicht gestellt habe. Verzeiht, dass ich Teil einer klassistischen, frauenfeindlichen und homophoben Gesellschaft war.“ Der Mann weint.

Im Saal ist es dunkel, doch durch die Holzwände dringen die Geräusche von draußen herein. Und die könnten kaum in größerem Kontrast zur Stimmung dieses Aktes der Selbstbezichtigung stehen. Musik, Tanz, Restaurants unter freiem Himmel. Das Zürcher Theaterspektakel ist „das schönste Fest des Jahres“, wie es ein Besucher in einem im Vorbeigehen aufgeschnappten Gespräch ausdrückt. Der Abend ist lau, die Landiwiese direkt am Zürcher See ist gut besucht, einige baden, Kinder rennen ausgelassen umher, der Himmel färbt sich rosa.

Und drinnen, in einer der beiden geschlossenen Bühnen dieses Festivals, dieser weinende Mann. „Wieder einmal bin ich weit weg von zu Hause aufgewacht“, sagt er zu Beginn seiner etwa einstündigen Performance. Weiter könnte es kaum sein. Tiziano Cruz wurde 1988 in einem kleinen Dorf in der nordargentinischen Provinz Jujuy geboren. Ironischerweise heißt es San Francisco. Ein Ort, an dem es erst seit Kurzem Zugang zum Internet gibt, wie er im Gespräch erzählt. Das findet zwei Tage nach der Premiere seines Stückes Soliloquio – Ich erwachte und schlug mit dem Kopf gegen die Wand in der Lobby eines Hotels in der Zürcher Innenstadt statt.

Kultur der Leere

Soliloquio entstand aus 58 Briefen, die Cruz an seine Mutter schrieb, während Argentinien im Lockdown war. Es ist eine schamlose Ausstellung der Scham, ein Paradox der Anklage der Kunst durch die Kunst. Ein Zeugnis der Kapitulation und der Kampfbereitschaft zugleich. Es ist ein eindrückliches Beispiel für die Kraft der Kunst, Erfahrungen über Grenzen hinweg spürbar zu machen. Das Zürcher Publikum ist tief bewegt. Langer Applaus, Standing Ovations.

„Ich bin Indio und ein scheiß Homosexueller“, sagt Cruz auf der Bühne. Dass er indigene Vorfahren hat, ist unverkennbar, doch er sei lediglich „Erbe einer Kultur der Leere“, erzählt er im Gespräch. Er spreche weder Aymara noch Quechua, habe kein Land, könne keine andinen Gesänge noch Tänze – Resultat „verschiedener Machtsysteme, die nicht nur auf meinen Körper, sondern auf verschiedene Körper gewirkt haben, sodass all das verloren gegangen ist“.

Seine Kunst sei der Versuch, sich dieser Leere zu stellen. Dazu gehört eigentlich auch immer eine Arbeit mit einer Community vor Ort. In den verschiedenen Städten Argentiniens und Brasiliens, in denen Soliloquio bisher zur Aufführung kam, hat Cruz mit Menschen indigener Herkunft eine Performance für die Straße erarbeitet. Auf den Teil des Projekts hat er für das Zürcher Theaterspektaktel verzichtet. Es läuft lediglich ein Video zu Beginn, das die Performances in den anderen Städten dokumentiert. Das Festival habe zu sehr „Disneyland-Charakter“, da habe die Gefahr bestanden, in die Falle der Exotisierung zu tappen. Doch in Genf, wo Soliloquio kurze Zeit später ebenfalls aufgeführt wird, hat er mit Angehörigen der peruanischen Community die Straße in Beschlag genommen.

Der Kampf gegen die Leere und für die Erinnerung ist dabei vor allem ein persönlich-biografischer. Soliloquio ist der zweite Teil einer Trilogie. Im ersten Teil Adiós Matepac – Essay über die Erinnerung des Abschieds beschäftigt sich Cruz mit der Beziehung zu seinem Vater und dem „Abschied von der aristotelischen Theatertradition“, wie er sagt. Soliloquio widmet sich dem Verhältnis zu seiner Mutter und dem indigenen Erbe. Im dritten Teil, den er derzeit im Rahmen eines einmonatigen Stipendiums in Barcelona erarbeitet, soll es um die Beziehung zu seinen Geschwistern gehen.

All diese Verhältnisse sind belastet. Cruz’ Eltern trennten sich, als er noch ein Kind war. Die Mutter zog in die nächstgrößere Stadt, Libertador General San Martín, etwa zweieinhalb Stunden entfernt und „um eine Zuckerfabrik herum errichtet“, wie er mit feinem Gespür für historisch-materielle Gegebenheiten erwähnt.

Seine Mutter putzte Schulen; um mehr als ein Zimmer gemeinsam zu bewohnen, reichte es jedoch nie. Dann, eines Tages, kam er nach Hause und das Zimmer war leer. „Sie waren gegangen. Sie hatten mich vergessen.“ Da war er 13 Jahre alt und verstand, „dass ich zu niemandem gehöre“. Er schlug sich bis zum Schulabschluss durch, den Kontakt zur Familie stellte er irgendwann wieder her. Er mache ihr keine Vorwürfe; seine Stücke sind auch Teil dieser Annäherung und des Heilungsprozesses.

Seine Schwester starb 2020 bei der Geburt ihres Kindes. Sie war 18 Jahre alt. Sein Vater führt seither einen juristischen Kampf gegen das Krankenhaus und die verantwortlichen Ärzte. „Sie haben sie sterben lassen“, sagt Cruz. Manche Körper seien weniger wert als andere. Aus rassistischen Motiven und strukturellem Versagen sei ihr nicht die nötige medizinische Hilfe gewährt worden.

Es ist diese Welt des Schmerzes, die er zur Sprache bringt. Eine Welt, aus der er sich entfernen wollte – nur um festzustellen, dass der Schmerz nicht geringer wird, wenn man in ein besseres Leben flieht.

Schon als Kind merkte er, dass es eine andere Welt jenseits des Dorfes gibt. In San Francisco verliefen alle Leben gleich. „Du wirst geboren, gehst zur Schule, findest eine Partnerin – es ist immer eine Partnerin, Platz für Homosexuelle gibt es nicht –, hast ein Haus, bekommst Kinder und dann stirbst du.“ Doch es kamen immer wieder Missionare ins Dorf, Menschen aus der Mittel- und Oberschicht, die für Sozialprojekte in die armen Gegenden des Landes reisen, um die Rolle der katholischen Kirche als „Psychologin der Armen“ zu erfüllen, wie er es ausdrückt. Und da habe er gemerkt: „Es gibt andere Lebensformen, jenseits der Berge.“

Nach dem Schulabschluss zog er nach San Miguel de Tucumán. Die Hauptstadt der weiter südlich gelegenen Provinz Tucumán ist von Buenos Aires aus gesehen immer noch ein weit entfernter, provinzieller Ort. Doch es gibt eine Universität. Dank der Unterstützung seines Bruders, der in die Armee ging, studierte Cruz hier Kommunikation und – zunächst heimlich – Theater; neben dem Doppelstudium putzte er in Hotels.

Und dann – Buenos Aires. Cruz arbeitet heute in einem Kulturzentrum in Recoleta, einem der vornehmsten Stadtteile. Er ist dort ein Fremdkörper; anfangs sagt er, er komme aus Tucumán, das klinge mehr nach Zentrum als Jujuy.

Verdrängte Geschichte

Obwohl das Inland Argentiniens und vor allem der Norden stark vom indigenen Erbe geprägt sind, wird es bis heute kulturell ausgeblendet. Noch vor wenigen Jahren fand sich auf dem 100-Peso-Schein das Konterfei des Präsidenten Julio A. Roca (1880 – 1886 und 1898 – 1904), der mit einem euphemistisch „Wüstenkampagne“ genannten Feldzug die indigene Bevölkerung Patagoniens vernichtete. Die Tatsache, dass in Buenos Aires – im Großraum leben etwa 13 der 47 Millionen Einwohner des Landes – ein Großteil der Bevölkerung von Einwanderern abstammt, sorgt für eine verzerrte Selbstwahrnehmung als „weiße“ Nation. Noch im vergangenen Jahr sorgte Präsident Alberto Fernández für Empörung, als er davon sprach „wir Argentinier kommen von den Schiffen“. Zu Beginn von Soliloquio ist auf der Leinwand zu lesen: „Welchen Platz hat Körperkunst in einem Land, in dem mein Körper verschwindet angesichts der Sehnsucht nach einer weißen Gesellschaft?“

Vor diesem Hintergrund sind Menschen wie Tiziano Cruz „Migranten auf unserem eigenen Territorium“. In Buenos Aires gehen viele davon aus, wer indigene Gesichtszüge hat, muss aus Bolivien oder Paraguay sein; der Rassismus ist virulent. Cruz merkt ihn auch im Arbeitsalltag. Zum Beispiel, wenn Gesprächspartner sich prinzipiell nicht an ihn, sondern an den gleichrangigen (aber besser bezahlten) weißen Kollegen wenden.

Auch aufgrund seiner Sexualität stößt er immer wieder auf Ressentiments oder gar Hass. Dabei ist er schwul mit einer Selbstverständlichkeit, die überraschen mag vor dem Hintergrund seiner Herkunft aus einem kleinen, katholisch geprägten Dorf. Doch wie alles in seinen Berichten hat diese Selbstverständlichkeit ihre dunkle Seite. Seit er klein war, sei seine Homosexualität offensichtlich gewesen. „Ich glaube, in den unteren Klassen wird Sexualität nicht so viel gedacht, sondern gelebt.“ Damit liegen Zuneigung und Gewalt sehr eng beieinander. Mehrfach sei er als Kind vergewaltigt worden. Er spricht darüber mit der verblüffenden Ungezwungenheit desjenigen, der seine Verletzungen genau kennt – aber auch seine Fähigkeiten, zu heilen. Bis heute falle es ihm schwer, Beziehungen zu führen. Er habe nur gelernt, Objekt der Begierde für jemanden zu sein. „Ich, ein Künstler und Verlierer in der dunklen Nacht dieser Stadt, habe Trost gesucht, in öffentlichen Toiletten, in Kellern, auf Straßen, Bahnhöfen und in Parks, ganz gleich, woher jene Zärtlichkeit kommt“, heißt es in Soliloquio.

Nach dem Aufenthalt in Barcelona wird er zum Festival Iberoamericano de Teatro nach Cádiz reisen. Dort soll Soliloquio mit seinen beiden Teilen, dem kollektiven und dem individuellen, aufgeführt werden. Der Weg der Gruppenperformance soll dabei vom Hafen zum Theater führen – jener Hafen, in dem einst die spanischen Schiffe in See stachen, um Gold und Silber aus den Bergwerken der Kolonien zu holen. Bergwerke, in denen sich indigene Zwangsarbeiter zu Tode schufteten. „Damals brachen sie von dort nach Amerika auf. Jetzt kehren wir zurück, um zu erzählen, dass wir immer noch existieren.“

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