Der EU-Rat will Kindesmissbrauch dadurch verhindern, dass Messenger wie WhatsApp oder Signal verschlüsselte Nachrichten vor dem Senden scannen. Datenschützer und Kinderrechtler schlagen Alarm
Wenigstens liest die EU ihre Chats bald mit
Foto: Fajrul Islam/Getty Images
Was zunächst einmal lobenswert klingt, macht Kritikern große Sorgen: Am 14. Oktober wird die EU-Kommission über einen Gesetzesvorschlag zur „Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“ abstimmen. Manche befürchten, dass das Vorhaben nie dagewesene Möglichkeiten für Überwachung, Kontrolle und Zensur schafft, ohne dabei auch nur ein einziges Kind vor sexuellem Missbrauch zu schützen.
Zum ersten Mal vorgelegt hat die EU-Kommission den Entwurf schon im Mai 2022. Seine Gegner haben dem Vorhaben den Namen „Chatkontrolle“ gegeben. Denn genau darum soll es gehen: Messenger wie WhatsApp oder Signal, aber auch E-Mail- und Cloudprovider sollen verpflichtet werden, Nachrichten automatisch und anlasslos zu scannen.
Schon jetzt prüfen Tech-Konzerne die öffentlichen Inhalte auf ihren Plattformen millionenfach und filtern Missbrauchsdarstellungen und Gewalt heraus. Die EU-Kommission will aber, dass in Zukunft auch private Nachrichten und Bilder gescannt werden. Automatische Filter sollen neben sexueller Gewalt und nackter Haut auch Cybergrooming erkennen, wenn also Täter online Vertrauen zu Kindern aufbauen, um sie später sexuell auszunutzen.
Bisher sind solche Scans unmöglich, weil Inhalte auf WhatsApp und Co. Ende-zu-Ende-verschlüsselt sind. Das bedeutet, dass außer dem Sender und dem Empfänger niemand sonst darauf zugreifen kann, nicht einmal die Dienstanbieter. Für die Chatkontrolle würden die Plattformen aber Hintertüren einbauen müssen, damit Nachrichten vor dem verschlüsselten Senden gescannt werden können.
Chatkontrolle wäre mit Grundrechten nicht vereinbar
Laut Constanze Kurz vom Chaos Computer Club gibt es noch keinen Vorschlag, wie das gehen soll – zumindest ohne dass man die Verschlüsselung so unterminiert, dass sie nutzlos wird: „Das wäre ein tiefer Eingriff in den Kernbereich der privaten Lebensgestaltung. So heißt die Intimsphäre im Grundgesetz. Massenüberwachung in diesem Bereich hat es bisher noch nie gegeben.“
Auch Gutachten vom wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, vom EU-Rat und vom EU-Parlament kommen zu dem Ergebnis: Die Chatkontrolle wäre mit Grundrechten nicht vereinbar, etwa mit dem Fernmeldegeheimnis oder dem Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.
Hinzu kommt, dass die vorgeschlagenen Scans äußerst ineffektiv und fehleranfällig wären. Das kritisiert ein offener Brief, den über 700 Wissenschaftler unterschrieben haben. Automatische Scans seien zwar gut darin, Computerviren zuverlässig zu erkennen. Aber Missbrauchsdarstellungen seien nicht so klar definierbar wie Viren, sie seien kontextabhängig. Wie soll eine Software wissen, ob Missbrauch vorliegt – oder einvernehmliches Sexting unter Teenagern, medizinische Bilder oder Urlaubsfotos?
Pauschale Überwachung ist kein Kinderschutz
Constanze Kurz gibt zu bedenken: „Wenn die das durchdrücken und alle Telefone scannen, haben sie immer noch kein einziges Kind geschützt.“ Dieser Meinung ist selbst der deutsche Kinderschutzbund. Vizepräsident Joachim Türk schreibt auf Anfrage: „Wir sehen in pauschaler Überwachung von Kommunikation keinen wirksamen Kinderschutz.“
Kinder bräuchten beides, schreibt sein Verein in einer Stellungnahme: das Recht auf körperliche Unversehrtheit, aber auch das Recht auf geschützte Kommunikation. Der Fokus auf eine technische Lösung sei zu einseitig und bleibe demgegenüber blind, dass Kindesmissbrauch ein gesamtgesellschaftliches Problem ist.
Als Polen Anfang 2025 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, schlug das Land einen Kompromiss vor: keine verpflichtenden allgemeinen Scans, keine Unterminierung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Mitgliedstaaten könnten aber auf freiwilliger Basis Erkennungsmaßnahmen schaffen. Eine Mehrheit von 16 Ländern stellte sich im EU-Rat aber gegen diesen Vorschlag.
Jetzt hat Dänemark die Ratspräsidentschaft und möchte am 14. Oktober erneut über den ursprünglichen Vorschlag zur verpflichtenden EU-weiten Chatkontrolle abstimmen. Dabei müsste eine qualifizierte Mehrheit von mindestens 15 Staaten zusammenkommen, die mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung abdeckt. Noch gibt es eine Sperrminorität – ob die bestehen bleibt, hängt allein von der Bundesregierung ab. Anders gesagt: Es obliegt dem deutschen Innen- und Justizministerium, ob die EU-weite Chatkontrolle im EU-Rat eine Mehrheit bekommt.
Auf Deutschlands Entscheidung kommt es an
Die Ampelregierung stellte sich in der Vergangenheit gegen eine verpflichtende Chatkontrolle. Doch dieser Damm könnte jetzt brechen. Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat sich bisher nämlich nicht klar positioniert. Zwar soll eine Vertreterin des BMI erklärt haben, dass man den dänischen Vorschlag nicht zu 100 Prozent mittragen könne – so steht es in einer Pressemeldung zu einer nicht öffentlichen Sitzung des Digitalausschusses. Aus Kreisen des Ausschusses heißt es jedoch: Die Aussage, die von BMI-Staatssekretärin Daniela Ludwig (CSU) stammte, könne man nicht als Kritik an dem Vorhaben verstehen. Bei dem Termin habe sich Ludwig positiv zur Chatkontrolle geäußert.
Für Jeanne Dillschneider, Obfrau im Digitalisierungsausschuss der Grünen, ist die Zurückhaltung des BMI ein Alarmsignal. Sie sagt: „Der Innenminister ist in den letzten Monaten vor allem damit aufgefallen, ein Fan fragwürdiger Sicherheitslösungen zu sein.“
Auch Justizministerin Stefanie Hubig (SPD) hat sich zu dem Vorhaben bisher nicht geäußert – obwohl die SPD in den Koalitionsverhandlungen eigentlich forderte, dass die Koalition eine Beschränkung der Verschlüsselung oder den verpflichtenden Einbau von Hintertüren ablehnen soll. Es ist also nicht auszuschließen, dass die SPD ihre früher kritische Position bei der aktuell laufenden Kompromisssuche mit der CDU noch ändern könnte.
Constanze Kurz ist jedenfalls besorgt: „Ich glaube, viele verstehen nicht, wie kurz davor wir sind, dass eine verpflichtende Chatkontrolle eingeführt wird.“