Herr Steilemann, Sie sind seit vier Wochen Präsident des Chemieverbands VCI. Wie schlimm steht es um die rund 2000 Mitgliedsfirmen?
Die Lage ist dramatisch. Vor allem im Mittelstand stehen viele Unternehmer mit dem Rücken zur Wand, und zwar fast ausschließlich wegen der exorbitant gestiegenen Energiekosten. Einige berichten uns, dass sie vor der Wahl zwischen Pest und Cholera stehen, was ihre Strom- und Gasversorgung im nächsten Jahr angeht. Entweder sie nehmen die Konditionen an, die ihnen ihr Versorger bietet, obwohl sie die Preise absehbar nicht werden zahlen können. Oder sie stehen zum Jahresende ohne Vertrag da. Beides wird dazu führen, dass sie ihre Produktion mindestens drosseln, wenn nicht vorübergehend ganz abstellen müssen.
Wie verbreitet ist das?
Solche Anrufe erreichen uns jetzt eher täglich als wöchentlich. So etwas hat es in den vergangenen Jahrzehnten in unserer Branche nicht gegeben. Deshalb brauchen wir umfangreiche Hilfen so schnell wie möglich. Die Gaskommission hat dafür gute Vorschläge gemacht. Die Bundesregierung muss sie jetzt umsetzen, genauso wie die Strompreisbremse.
Die Gaspreisbremse für die Industrie soll ab Januar wirken. Reicht das?
Wir brauchen die Preisbremse so schnell wie möglich, um dauerhafte Schäden an unserer an sich gesunden Industriestruktur zu vermeiden. Für Unternehmen, die schon jetzt Schwierigkeiten haben, einen Folgevertrag für Gas oder Strom abzuschließen, muss eine geeignete Überbrückungslösung gefunden werden.
Und was, wenn die Sache am Veto der EU-Kommission scheitert, die darin unerlaubte Staatshilfen sieht?
Das darf nicht passieren. Hier muss die Bundesregierung alle ihre Möglichkeiten aufbieten. Dass es geht, zeigt das Beispiel Frankreich: Unsere Nachbarn schaffen es seit Jahren, Industriestrompreise bei der Kommission durchzusetzen. Industriestrompreise sind nichts anderes als Strompreisbremsen.
So oder so, der Staat wird die Industrie nicht auf Dauer durchpäppeln können.
Das möchte auch niemand. Aber die Kostensteigerungen bei der Energie sind so hoch, dass wir im internationalen Vergleich in vielen Bereichen nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Das muss sich wieder ändern. Sonst wird sich Deutschland deindustrialisieren.
Woher soll die billige Energie kommen, wenn nicht von Putin?
Windkraft, Photovoltaik und Wasserstoff können auch mittleren und kleineren Unternehmen langfristig eine Perspektive in Deutschland geben. Aber dafür müssen wir den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen. Wir wissen, wie viel wir brauchen. Für die Elektrifizierung der gesamten Chemiebranche sind es bis 2045 etwa 500 Terawattstunden im Jahr. Das entspricht dem gegenwärtigen Stromverbrauch der kompletten Bundesrepublik. Die Bundesregierung hat ehrgeizige Ziele. Aber es gelingt uns bisher nicht, das mit der nötigen Geschwindigkeit in die Tat umzusetzen.
Woran hakt es?
Windenergieerzeuger brauchen heute vier oder fünf, manchmal sogar sechs Jahre, um eine einzige neue Anlage zu planen und zu bauen. Das dauert viel zu lange. Wir brauchen eine intelligente Regulierung mit dem Ziel eines schnellen Ausbaus zu Land und zur See, keine immer noch feinstreifigere: lieber grob richtig als exakt falsch. Das ist die Aufgabe der Politik.
Was ist mit den Atomkraftwerken? Reicht der Betrieb bis zum 15. April, oder fängt die Diskussion über neue Brennstäbe im nächsten Frühling wieder von vorne an?
Ich bin überzeugt, dass wir langfristig aus der Atomkraft rausmüssen, genauso wie aus allen fossilen Energieträgern. Aber kurzfristig zählt jedes Watt. Das wird auch nach dem nächsten Frühling noch so sein. Besser wird es wahrscheinlich erst Mitte 2024. Und auch das nur, wenn alles klappt, was wir uns jetzt vornehmen.
Worauf hoffen Sie für 2024?
Ich setze auf die fünf neuen Flüssiggasterminals, die in den kommenden beiden Jahren in Betrieb genommen werden sollen, das erste in Brunsbüttel ja schon in wenigen Wochen. Wenn alle fünf fertig sind, haben wir genug Zugang zu Flüssiggas und können uns von kurzfristigen Hilfsmaßnahmen verabschieden.
Reichen die 200 Milliarden Euro, der Wumms von Kanzler Scholz, zur Überbrückung bis dahin?
Das kommt darauf an. Je weniger Gas wir verbrauchen, desto niedriger wird der Preis sein und desto länger reicht das Geld. Der Leitsatz für die nächsten Monate lautet also: Gas sparen, wo es nur geht. Wenn uns das gelingt, kommen wir mit dem Geld bis ins Jahr 2024 und haben sogar noch etwas für Investitionen übrig. Denn darüber müssen wir uns klar sein: Diese 200 Milliarden Euro sind erst mal nur Konsumausgaben, keine Investitionen. Die brauchen wir aber für die Zukunft auch noch in erheblichem Maß.
Das war das optimistische Szenario. Wie sieht das pessimistische aus?
Das lässt sich leicht ausrechnen. Wenn wir weitermachen wie bisher, ist das Geld wahrscheinlich schon Mitte des ersten Quartals 2023 aufgebraucht.
Bisher sparen vor allem die Firmen Gas, nicht die Privathaushalte.
Die Einsparungen der Industrie sind bisher keine Effizienzgewinne. Es wurden schlicht Teile der besonders energieintensiven Produktion eingestellt, weil die Unternehmen mit jedem Kilo Produkt einen Verlust gemacht haben. Deshalb ist es zu einer enormen Verknappung von Grundchemikalien gekommen, Ammoniak zum Beispiel. Seit einigen Monaten sehen wir folgerichtig, dass sich Wettbewerber aus China und Amerika auf den Weg machen, mit ihren Produkten in Europa Gewinne zu erzielen. Solange die Gaspreise hier so hoch sind, dass sich der Transport lohnt, gelingt ihnen das auch. Produktion, die wir bei uns stilllegen und ans Ausland verlieren, kommt wahrscheinlich nicht mehr zurück. Genauso wenig wie die damit verbundenen Arbeitsplätze.
Hat diese Form des Gassparens dann nicht fatale Folgen für Deutschland als Industriestandort?
Die Frage ist, wie lange das Preisniveau so bleibt wie zurzeit. So lange, dass es sich für die amerikanischen und chinesischen Firmen lohnt, ihre Fertigung außerhalb Europas auszubauen, um künftig noch mehr hierher exportieren zu können? Dann werden sie das tun und langfristig Kunden an sich binden. Dann kommt es zu der Deindustrialisierung, die Sie befürchten. Wenn sich aber herausstellt, dass der Spuk in ein oder zwei Jahren vorbei ist, dann werden Amerikaner und Chinesen von solchen Investitionen Abstand nehmen.
Wie lässt sich das erreichen?
Wir müssen den richtigen Weg finden, Sparanreize zu setzen und zugleich die Preise erträglich zu halten. Das ist zugegebenermaßen nicht einfach, es gibt da einen Zielkonflikt. Ich glaube aber, ein gut gemachter Appell an Bevölkerung und Unternehmen könnte schon viel erreichen. Was wir uns nicht leisten können, ist eine wochen- oder monatelange Diskussion darüber, wie die Vorschläge der Gaskommission noch zu verbessern wären, damit sie gerechter oder zielgenauer werden. Am Ende liegt man dann vielleicht doch gerade daneben. Wir reden von einer akuten Situation, die akut bekämpft werden muss. Da geht Schnelligkeit vor Perfektion.
Wir hatten von unserer hochgelobten Industrie etwas mehr Einfallsreichtum in der Krise erwartet, als schlicht die Maschinen abzustellen. Wo bleiben die Erfindungen, die uns aus der Patsche holen?
Entscheidend ist der Faktor Zeit. Es gibt kurzfristige Projekte, um die bereits hohe Energieeffizienz unserer Anlagen noch weiter zu steigern, ein paar schon für den nächsten Winter. Da geht es um Produkte, wo der Effekt kleiner Verbesserungen am stärksten durchschlagen würde. Nur dass wir dafür großtechnische Anlagen verändern müssen, die dann auch wieder neue behördliche Zulassungen brauchen. Das müssen wir beschleunigen. Dasselbe gilt für kleine Verbesserungen, mit denen sich Standorte stärker vernetzen lassen, damit die Energie, die am einen Ort abfällt, am anderen genutzt werden kann.
Und langfristig?
Deutschland ist hoch innovativ. Aber diese Innovationskraft muss gestärkt werden und zwar dauerhaft. Der Staat hat seine Forschungsförderung seit 1990 deutlich gesenkt, in China sind die Fördersummen hochgegangen. Wir brauchen Bildung; wir brauchen aber auch Deregulierung, kürzere Genehmigungsverfahren für Industrieanlagen und Forschungsvorhaben. Wenn die Chemie das Kreislaufsystem der deutschen Wirtschaft darstellt, dann ist dieser Kreislauf zurzeit ziemlich stark von der Bürokratie belastet. Wir leiden an einer Art Arterienverkalkung.
Die Pharmakonzerne haben auf der Suche nach einem Corona-Impfstoff eng zusammengearbeitet und Großes damit erreicht. Wie viel Zusammenhalt gibt es in der Chemiebranche, um der Energiekrise zu trotzen?
Pharma ist auch zum großen Teil Chemie: Das Impfstoffwunder und auch die von uns schnell organisierte Notversorgung der Bevölkerung mit Desinfektionsmitteln sind Erfolge unserer Chemie- und Pharma-Branche. Zudem ist die Produktion im Verbund nichts Neues für uns. Die chemische Industrie arbeitet im Netzwerk, so lange sie existiert, das gilt auch unternehmensübergreifend. Am Niederrhein, auch in Frankfurt-Höchst sind Dutzende Firmen in Chemieparks eingebunden. Sie sind rechtlich eigenständig, nutzen aber über langfristige Lieferverträge untereinander Stoffströme und verwenden auch Abfallströme weiter.
Welche Rolle spielt Wasserstoff für die Zukunft der Chemieindustrie?
Ich glaube, er wird eine wichtige Rolle spielen, nicht nur für die Speicherung und Verteilung von erneuerbaren Energien, sondern auch als Ersatz für den Werkstoff Erdgas, den wir bisher zur Herstellung vieler Produkte einsetzen. Die chemische Industrie in Deutschland erzeugt schon jetzt rund 12,5 Milliarden Kubikmeter Wasserstoff im Jahr. Der Bedarf könnte sich in absehbarer Zeit verfünffachen. Die Frage ist, wo kommt dieser zusätzliche Wasserstoff her? In Deutschland brauchen wir gewaltige Energiemengen, um den heutigen Strommix in Richtung Erneuerbare zu bringen. Deshalb bieten sich für die Wasserstoffproduktion eher Australien und Teile Amerikas an, wo Photovoltaik- und Windkraftanlagen einen deutlich höheren Wirkungsgrad haben. Aber sollen wir ihn dann wirklich über so große Entfernungen nach Deutschland transportieren und dafür wiederum Energie verbrauchen? Das wäre nicht effizient. Eher werden sich ganze Wertschöpfungsketten dort ansiedeln, wo es günstig Wasserstoff gibt. Dann werden wir nicht Wasserstoff importieren, sondern die damit gefertigten Produkte.
Das wäre dann noch ein Schlag für den Standort Deutschland. Gibt es keine günstigere Idee, wie die Chemiebranche nach 2024 aussieht?
Wir müssen wieder die Zukunft in den Blick nehmen, sonst kann man sich in dieser Krise verlieren. Damit möglichst viele Unternehmen überleben, brauchen wir jetzt schnell die Energiepreisbremse und dann das Flüssiggas. Danach kommt die Elektrifizierung der gesamten Industrie mithilfe der erneuerbaren Energien. Es muss aber noch etwas dazukommen. Wir müssen Kohlenstoffquellen jenseits von Gas- und Ölfeldern erschließen. Da ist nach meiner Ansicht die Kreislaufwirtschaft der Schlüssel. Wir müssen das, was unsere Endkunden nicht mehr brauchen, viel stärker als bisher wiederverwerten. Damit können wir uns weniger abhängig von Rohstoffimporten machen und zum Vorbild für andere Weltgegenden werden.
Welche Zukunft haben die besonders energieintensiven Chemiezweige hierzulande noch?
Das ist eine Frage der Versorgungssicherheit. Je mehr ich mich von Importen abhängig mache, um so mehr lege ich mein Schicksal in die Hand anderer Staaten und Systeme. Wie bei den Computerchips – oder wie in der Corona-Krise bei den Masken und Impfstoffen – müssen wir auch bei den Grundchemikalien darüber nachdenken, wie wir unseren Bedarf sicherstellen.
Mit welcher Konsequenz?
Vielleicht folgt daraus, dass wir Wertschöpfungsketten für bestimmte Chemikalien in Deutschland halten, und damit eine Teilautarkie unserer Wirtschaft und gleichzeitig die Versorgung mit Grundstoffen sichern. Gerade, wenn die Industrie unter den gegebenen Bedingungen auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig ist.
Ist das ein Subventionsantrag?
Nein. Es ist eine mögliche industriepolitische Perspektive.
Sie sind nicht nur VCI-Präsident, sondern auch Chef des Kunststoffherstellers Covestro. Wäre es da nicht richtig innovativ, wenn Sie die Verbraucher anleiten würden, weniger von Ihren Produkten zu nutzen?
Unsere Produkte kauft ja niemand nur, weil wir das gern so hätten. Sondern weil unsere Kunden darin einen Nutzen sehen. Zum Beispiel weil sie Zugang zu exzellent geschützten Lebensmitteln haben möchten, zu sicher anwendbaren Impfstoffen, zu Dialysegeräten zur Behandlung von Diabetes oder zu Batterietechnologie und Leichtbauteilen für Elektroautos.
Der Preis dafür ist, dass Öl zu Plastik umgewandelt wird und im schlimmsten Fall jahrzehntelang die Umwelt verschmutzt.
Es stimmt, dass wir ölbasierte Produkte erzeugen. Aber 93 Prozent von allem Öl und Erdgas, das auf der Welt gefördert wird, werden schlicht verbrannt. Nur 7 Prozent gehen in die Kunststoffherstellung. Dazu kommt, dass die allermeisten Produkte, die wir herstellen, den CO2-Ausstoß und Ressourcenverbrauch an anderer Stelle senken. Unsere Aufgabe ist es, langlebige Produkte zu entwickeln, die man gut im Kreislauf führen kann, die in ihrem Leben mehr nutzen, als sie durch ihre Produktion schaden. Und als Gesellschaft müssen wir unser Konsumverhalten in Richtung Kreislaufwirtschaft lenken. Aber ich sehe es nicht als meine Aufgabe, jemandem dazu Vorschriften zu machen.
Macht eine Firma Gewinn, bekommen die Manager Boni. Wenn der Staat die Industrie vor dem Untergang rettet, müssten Manager wie Sie dann auf Gehalt verzichten?
Über die Vergütung von Managern entscheiden Aufsichtsrat und Aktionäre. Ich glaube nicht, dass mehr Regeln zu Verbesserungen führen würden.
Nach dem 200-Milliarden-Wumms könnten auch die Steuerzahler ein Wörtchen mitreden wollen.
Jetzt tun Sie so, als ob die Industrie eine milde Gabe bekommen soll. Ich sehe das anders. Die Unternehmen, geführt von ihren Managern, haben dem Staat in der Vergangenheit erst die Steuereinnahmen beschert, die ihm nun den finanziellen Spielraum für die Hilfen geben. Es ist doch sinnvoller, jetzt den Industriestandort mit gut bezahlten Arbeitsplätzen zu sichern, als später Menschen zu unterstützen, die ihre Arbeit verloren haben.