Krise im Kontext VW: Wirtschaftsminister Olaf Lies warnt im Interview vor Schließungen

In Wolfsburg macht das Volkswagen-Management jetzt ernst mit seinen Sparplänen. Die Beschäftigungsgarantie für 120.000 Mitarbeiter und andere Tarifverträge wurden gekündigt. Damit sind betriebsbedingte Kündigungen möglich. Wie beurteilen Sie diese Entscheidung?

Es war leider zu befürchten, dass das passiert. Ich halte es für ein falsches Signal. Besser wäre es gewesen, wenn sich Management und Betriebsrat zusammen­setzen und gemeinsam Lösungen erarbeiten.

Der Vorstand erwägt erstmals in der VW-Geschichte auch in Deutschland die Schließung ganzer Standorte. Kommt man um solche harten Einschnitte herum?

Das Land hat die ganz klare Erwartungshaltung, dass keine Standorte geschlossen werden und man sich stattdessen auf andere Lösungen verständigt. Und VW hat seine bisherigen Krisen auch ohne betriebsbedingte Kündigungen bewältigt. Ich erwarte, dass man auch dieses Mal ohne Entlassungen auskommt.

Wie schlecht steht es eigentlich um das Unternehmen? Geht es um die Existenz, oder redet der Vorstand die Lage mit Blick auf die anstehenden Tarifverhandlungen schlecht?

Ich glaube nicht, dass der Vorstand leichtfertig daherredet. Die Lage ist wirklich ernst. Allein die Stammmarke VW verkauft nach Angaben des Vorstandes 500.000 Autos zu wenig und braucht attraktive Modelle zu attraktiven Preisen. Da gibt es viel Handlungsbedarf. Ich bleibe aber immer zuversichtlich, die neuen Modelle gewinnen wieder Auszeichnungen. Das war zuletzt nicht immer der Fall und zeigt doch, dass es nicht nur Pro­bleme gibt, sondern auch Lösungen.

Olaf Lies (SPD), Wirtschaftsminister von Niedersachsen, spricht bei einer Kundgebung vor dem Werkstor zu der Belegschaft der Meyer Werft.dpa

Wie wollen Sie um Standortschließungen herumkommen, wenn die Auslastung im Werk Osnabrück zuletzt nur bei 18 Prozent lag?

Die Fabrik in Osnabrück verfügt über großartige Fertigkeiten für den Konzern. Die geringe Auslastung hängt mit der Frage zusammen, welche Modelle welchem Standort zugewiesen werden. Der Konzern muss den Werken die passenden Modelle geben. Das ist das Problem solcher Fragen zu einzelnen Standorten: Man muss das ganzheitlich betrachten und sich die Verteilung der Produktion insgesamt ansehen. Diesen Gesamtblick auf alle Werke habe ich als niedersäch­sischer Wirtschaftsminister gar nicht, den hat nur Volkswagen selbst.

Der Gesamtblick besagt, dass die Auslastung der Werke fast überall viel zu gering ist.

Die Lösung ist nicht, jetzt einen Standort nach dem nächsten zu schließen. Das setzt nur eine gefährliche Abwärtsspirale in Gang. Das Problem ist, dass die Nachfrage zu gering ist. Wir müssen unbedingt etwas dafür tun, dass VW wieder mehr Au­tos verkauft, wir müssen den Markt stimulieren. Für mich ist klar, dass das Auto der Garant für individuelle Mobilität bleibt.

Niedersachsen gehören 20 Prozent der VW-Stammaktien. Kümmert sich die Landesregierung nur um die Standorte im eigenen Land? Was ist mit Kassel, was mit den ostdeutschen Standorten Chemnitz, Zwickau und Dresden?

Für das Land Niedersachsen hat der Erhalt aller Standorte absolute Priorität, das endet nicht an der Landesgrenze. Alles andere ist auch nicht unsere Art. Deshalb gibt es auch einen aktuellen und direkten Austausch mit den Wirtschafts­ministern der betroffenen Länder. Die Betriebsräte lassen sich nicht ausspielen. Die Landesregierungen werden sich auch nicht gegeneinander ausspielen lassen.

Können Sie den Mitarbeitern jetzt versprechen, dass keine Standorte geschlossen werden?

Wie soll ich das tun? Ich bin nicht der Konzernvorstand.

Weil das Land laut VW-Gesetz aufgrund seiner Beteiligung Standortentscheidungen blockieren kann.

Ich bin nicht Mitglied des Aufsichtsrats, sondern Wirtschaftsminister. Da gibt es eine ganz eindeutige Rollenabgrenzung.

Sie sind derzeit nicht Mitglied im Aufsichtsrat, weil die grüne Kultusminis­terin den Sitz beansprucht hat. Wäre es fachlich nicht doch besser gewesen, wenn das Wirtschaftsministerium dort vertreten wäre, dass auch die Zulieferer im Blick hat?

Es war eine richtige Entscheidung, dass das Land den Ministerpräsidenten und seine Stellvertreterin, die Kultusministerin, entsendet. Es ist sinnvoll, wenn beide Koalitionspartner im Aufsichtsrat vertreten sind.

Was kann die Politik jetzt tun? Ihr Parteifreund Hubertus Heil hat arbeitsmarktpolitische Instrumente ins Spiel gebracht.

Jetzt ist erst mal die Stunde der Sozialpartner. Arbeitnehmervertreter und Management müssen sich verständigen. Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, an dem ich von außen Vorschläge rein­werfe.

Die Bundesregierung hat vor einigen Monaten abrupt die Förderung für Elektroautos eingestellt. War das ein Fehler?

Welchen Einfluss hat die niedersäch­sische SPD eigentlich beim Bundeskanzler? Beim Industriestrompreis ist man auch gegen eine Wand gerannt.

Mein Eindruck ist, dass man in Berlin die Probleme unterschätzt hat. Die Annahme, man käme schon jetzt ohne Prämien für Elektroautos aus, war ein Trugschluss. Und ich kritisierte auch, dass die Oppo­sition die Verunsicherung schürt, indem sie weiter den Verbrenner als eine Lösung vorschiebt, die er gar nicht sein kann. Jetzt ist es notwendig, eine klare indus­triepolitische Agenda zu verfolgen und Anreize zu setzen. Das ist der Kern der Debatte. Und ich bin verärgert, dass man in Berlin nicht auf unsere Vorschläge eingeht und Teile der Ampelkoalition – und da meine ich nicht die SPD – sagen, dafür sei kein Geld da. Wenn am Ende unsere Industrie am Boden liegt, hilft uns diese Botschaft nicht weiter. Wir reden nicht nur über Probleme bei VW oder in der Automobilindustrie. Die Krise betrifft weite Teile der gesamten deutschen Industrie.

Was schlagen Sie vor?

Wir können sehr unbürokratisch die Strompreise reduzieren, indem wir Netzentgelte senken und über Steuern finanzieren. Das hilft jedem Hausbesitzer mit einer Wärmepumpe, jedem Käufer von Elektroautos und auch der Industrie, dem Mittelstand und dem Handwerk bei den Produktionskosten. Und wir brauchen neue Kaufanreize für Elektroautos, etwa über degressive Abschreibungen. Zudem sollen Tankstellen zum Aufbau von Ladesäulen verpflichtet werden. Auch da gibt es bereits wieder Auflösungstendenzen. Der Weg ist richtig, wir müssen ihn aber konsequent gehen.

Sie verteidigen unbeirrt das Verbrennerverbot der EU im Jahr 2035, obwohl sich die Elektromobilität viel schwächer entwickelt als erwartet. Wie passt das zusammen?

Ich halte die Forderung für in keiner Weise zielführend, jetzt die EU-Regeln für das Jahr 2035 zu kippen. Das ist eine emotionalisierte, ideologisierte Debatte. Das Letzte, was die Industrie jetzt braucht, ist Orientierungslosigkeit – und genau die kriegen wir, wenn wir jetzt die Regulierung ändern. VW hat sich klar zur Elektromobilität bekannt und bereits Mil­liarden investiert. Und was wäre denn die Alternative? Die Industrie kann nicht gleichzeitig in zwei Technologien in­ves­tieren. Und auch die Antwort „E-Fuels“ ist keine, denn die sind teuer, haben ei­nen miserablen Wirkungsgrad, und die Verfügbarkeit ist völlig ungeklärt.

Große Teile der Industrie fordern aber ge­nau das, auch viele Zulieferer in ihrem Land, die am Verbrennungsmotor hängen. Zählen die gar nicht?

Da muss man sich auch die Frage stellen: Warum machen die Zulieferer das? Dahinter steckt natürlich der Wunsch, mit den eigenen Produkten länger am Markt bleiben zu können. Aber Fakt ist: Niemand wird im Jahr 2035 Verbrennerautos kaufen, nur damit die Zulieferindustrie weiter produziert. Die Chinesen drängen mit billigen Elektroautos nach Europa, und die E-Fuels sind viel weniger wirtschaftlich. Was wir brauchen, ist ein Transformationsweg, der uns auf Dauer wirtschaftlich absichert, auch wenn er he­rausfordernd ist.

Nach Jahrzehnten des Erfolgs in China ist VW dort in der E-Mobilität abgehängt worden. Hat man die Risiken in China wirtschaftlich und politisch unterschätzt?

Während Corona hat sich China mit einer Geschwindigkeit verändert, die alle überrascht hat. Das ist nicht mehr dasselbe Land wie vor Corona. China hat diese Zeit genutzt für eine Flut neuer Elektroautos und eine klare Fokussierung auf die E-Mobilität. Das ist eine Herausforderung, der sich die Vorstände auch bei VW jetzt stellen müssen. Und China bleibt ein wichtiger Markt, denn wir produzieren ja nicht nur vor Ort, sondern exportieren auch dorthin.

Niedersachsen rettet gerade auch die Meyer Werft. Nun herrscht Krise in Wolfsburg, und es gibt viele andere Beispiele für Unternehmen in Schwierigkeiten. Ist der Industriestandort Deutschland in Gefahr?

Ich bin seit 2013 Minister in Niedersachsen und habe mir seither noch nie so große Sorgen gemacht wie jetzt. Wir haben grünen Stahl, wir haben grüne Chemie, wir haben Elektroautos. Technisch beherrschen wir das alles, wir sind zukunftsfähig, eigentlich doch erst mal eine gute Aussicht. Aber mit der Wettbewerbsfähigkeit haben wir ein massives Problem. Da spielen die Energiepreise ei­ne Rolle, aber eben nicht nur. In der Offshore-Windkraft sehen wir jetzt erste Projekte mit chinesischen Turbinen. Dabei sollten wir doch eigentlich ganz klar zur Auflage machen, dass wir den Einsatz von grünem Stahl und damit euro­päischer Technologie erwarten und nicht nur dem finanziell besten Angebot den Zu­schlag geben. Was ist das bitte für eine Industriepolitik? Die muss schlüssig sein und nicht nur Transformation als Selbstzweck sehen, sondern auch Wertschöpfung in Deutschland und Europa in den Blick nehmen, sichern und entwickeln.

Niedersachsen hat ein großes Portfolio an Staatsbeteiligungen. Neben VW zählt zum Beispiel auch der Stahlkonzern Salzgitter dazu – und bald auch die Meyer Werft. Das bedeutet für das Land große finanzielle Risiken.

Das Argument kann ich als Wirtschaftsminister nicht nachvollziehen. Die Meyer Werft würde es ohne unsere geplante Beteiligung nicht mehr geben, sie wäre längst in der Insolvenz und zusammengebrochen. Wenn ein Dritter bereit gewesen wäre, dort als neuer Partner einzusteigen, hätte ich damit gar keine Schwierigkeiten gehabt, im Gegenteil – das wäre die präferierte Lösung gewesen. Das war aber nicht der Fall. In zwei, drei Jahren, wenn wir mit dem Sanierungsprozess wei­ter sind und wieder in ruhigerem Fahrwasser unterwegs, werden wir eine andere Situation haben. Wir planen hier ganz klar ein Engagement auf Zeit. Bei VW und Salzgitter ist die Lage eine andere: Das sind dauerhafte, strukturelle Beteiligungen, über die nie diskutiert wird, wenn es den Unternehmen gut geht. Wenn es anders läuft, kommt reflexartig der Vorwurf, dass es ein Problem geben muss mit der öffentlichen Hand. Wir sind ja nicht Teil eines Problems, sondern Teil der Lösung.

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