Krise dieser Autoindustrie: Zeitenwende zu Händen die Autobosse

Die Hauptstadt ist die Kulisse des ewigen Stimmungstiefs. Im Estrel in Berlin-Neukölln, halb Bettenburg, halb Kongresszentrum, musste sich der krisengeplagte Volkswagen-Vorstandsvorsitzende Oliver Blume in dieser Woche vor seinen Managern auf einer Führungskräftetagung erklären. Im Kanzleramt wiederum liefern die Autogipfel zwar regelmäßig schöne Bilder, doch Durchbrüche können Blume und seine beiden Vorstandskollegen, Ola Källenius von Mercedes und Oliver Zipse von BMW, dort selten verzeichnen.

In Berlin-Mitte am Gendarmenmarkt geht es herrschaftlich zu, dort residiert der Autolobbyverband VDA in einem wilhelminischen Prachtbau. Die drei Autobosse bekommen dort ihre Positionen indes nur so mühsam zusammen, dass sich selbst das Aus des Verbrennerverbots nach jahrelangem Kampf eher nach Erschöpfung als nach Triumph anfühlt.

Chinesen blicken nüchtern nach Deutschland

Was in Berlin so zäh errungen wird, gilt aus chinesischer Sicht längst als strukturelle Schwäche. Aus der Distanz Tausender Kilometer wird Deutschlands Industrie nicht mehr mit Ungeduld, sondern mit nüchterner Abgeklärtheit betrachtet.

In einer aktuellen Befragung der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit diagnostizieren chinesische Manager in Deutschland einen Reformstau, geringe Risikobereitschaft und vor allem mangelndes Tempo. Es fehle „an Flexibilität, an Geschwindigkeit und vor allem an Kundenorientierung“, heißt es nüchtern. Was lange funktionierte, passe nicht mehr zu den heutigen Märkten – ein mentales wie technisches Upgrade sei überfällig.

Deutschland steckt damit in einer Krise: Manche sprechen sogar von der tief­sten Krise, seit es sich Autoland schimpft. BMW, Mercedes und VW stehen an einem Wendepunkt, und mit ihnen eine ganze Generation von Führungskräften, die in der Gewissheit groß geworden ist, dass ihre Unternehmen die besten Autos der Welt bauen.

Beinahe langweilige Biografien

Ola, Oliver und Oliver verbindet mehr als die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen: Sie sind Kinder der Sechzigerjahre, groß geworden in behüteten westeuropäischen Verhältnissen, studierten Wirtschaft oder Ingenieurwesen und durchliefen die Kaderschmieden der Konzerne, die sie heute führen – geradlinige, beinahe langweilige Biographien sind das.

Zipse übergibt nach der BMW-Hauptversammlung im Mai das Steuer an Produktionsvorstand Milan Nedeljković. Und für Blume und Källenius wird das kommende Jahr zur Bewährungsprobe: Ihre Unternehmen stecken so tief in der Krise, dass für beide die berufliche Zukunft zur Disposition steht.

Chinas Automanager seien nicht nur schneller, sagt ein deutscher Unternehmensberater mit exzellenten Kontakten in die chinesische Autoindustrie: „Sie sind auch viel risikobereiter.“ Rasantes Entwicklungstempo, weniger Prüf- und Validierungsschleifen, Fokus auf Software: Viele Entwickler, so berichtet er, kämen aus der Unterhaltungselektronik und seien von dort eine brutal enge Taktung gewohnt.

Deutsche Unternehmen dagegen, so sehen es viele Rivalen aus Fernost, werden von inkrementell denkenden Vorstandschefs geführt, die sich im komplizierten Dickicht aus Großaktionären, Gewerkschaften und Politik bewegen müssen. So wird das bevorstehende Jahr 2026 auch geprägt sein vom Kampf der Unternehmenskulturen. Es wird ein Härtetest für den deutschen Korporatismus – jenes Modell aus Staat, Arbeitnehmern und Konzernführungen, das den Standort über Jahrzehnte geprägt hat.

Aufsteiger aus einer anderen Welt

Hinter BYD, Xiaomi, Xpeng oder Geely stehen Unternehmer, die oft in einfachen Verhältnissen im damals noch bitterarmen China aufwuchsen. Wang Chuanfu, der Gründer und Chef von BYD, ist zwar ähnlich alt wie die deutschen Autobosse, kommt aber aus einer anderen Welt.

Er stammt aus einem Dorf in der ärmlichen Provinz Anhui, wurde von seinen Geschwistern aufgezogen, weil seine Eltern früh starben. Bis heute schickt sein Unternehmen monatlich allen älteren Menschen in dem Dorf eine Art BYD-Rente. Einzige Bedingung: Sie müssen Wang mit Nachnamen heißen. So erzählten es einige der Wangs im Sommer der F.A.Z.

BYD-Gründer Wang Chuanfuddp

Der Xiaomi-Gründer Lei Jun traute sich, was der Apple-Vorstandschef Tim Cook nicht wagte, und ging als Technologiekonzern in die Automobilbranche. Dieser Mut katapultierte ihn in die Rangliste der fünf reichsten Chinesen, und er überholte damit sogar den BYD-Gründer Wang.

Lei dürfte damit nach Elon Musk der reichste Autounternehmer der Welt sein. Und mit knapp 30 Millionen Fol­lowern auf Weibo dürfte er auch der zweitpopulärste Autounternehmer in den sozialen Medien sein, auch wenn ihm das chinesische X-Äquivalent Weibo nicht gehört, anders als Musk, der den amerikanischen Kurznachrichtendienst vor gut drei Jahren komplett übernahm.

BYD steckt in einer beispiellosen Expansion

Die chinesischen Unternehmer stehen für mutige, radikale Entscheidungen, die sich kaum ein Konzernchef in Europa leisten könnte, aber auch für einen gewissen Eigensinn. BYDs Autos wurden jahrzehntelang belächelt, doch Wang hielt durch. Dann verabschiedete sich BYD schon vor knapp vier Jahren von reinen Verbrennermodellen und wurde zum größten Elek­troautohersteller der Welt.

Das Unternehmen schaffte sich eine eigene Schiffsflotte an und befindet sich mitten in einer globalen Expansion, wie sie die Autowelt noch nicht gesehen hat. Es ist eine Wette, die schiefgehen kann. Aber ein Unternehmer, der keinen Mut hat, ist bald keiner mehr. Und nirgendwo gilt dieses Motto in solcher Reinform wie in China, wo die wachsende Zahl junger Hersteller längst die einst dominierenden westlichen Rivalen an den Rand gedrängt hat.

Innerhalb von nicht einmal einem Jahrzehnt hat diese chinesische Gründergeneration den globalen Automarkt auf den Kopf gestellt. In der Volksrepublik, dem mit Abstand größten Automarkt der Welt, waren zuletzt nur noch zwei von fünf verkauften Autos reine Verbrennermodelle. „Sind wir geliefert?“, betitelte der amerikanische Techblogger Marques Brownlee kürzlich ein Video, in dem er das Elektroauto von Xiaomi testete. „Noch nicht“, sagt er in dem Video – zumindest, solange das Auto nicht in den Vereinigten Staaten verfügbar sei.

Organisationstalent mit technokratischem Blick

Von der Radikalität ihrer chinesischen Kollegen sind die deutschen Autobosse so weit entfernt wie Wolfsburg von Peking. Sie sind auch ganz anders sozialisiert. VW-Chef Oliver Blume spielte Fußball in Braunschweig, studierte Maschinenbau und arbeitete sich im Wolfsburger Autokonzern Schritt für Schritt nach oben; ein Organisationstalent mit kräftigem Händedruck und technokratischem Blick.

Das Software-Chaos seines Vorgängers Herbert Diess ersetzte er durch Partnerschaften und klarere Abläufe. Doch die reine Elektrostrategie des Sportwagenherstellers Porsche, den Blume lange parallel zu VW führte, erwies sich als Irrweg.

Nun fließen Milliarden in die Weiterentwicklung der Verbrennermodelle. Die Aktionärsfamilien Porsche und Piëch sind hochnervös, und intern ist schon von „Beschwichtigungen“ die Rede, mit denen Blume die nötige Kehrtwende zu lange hinausgezögert habe – ein Alarmsignal für den 57 Jahre alten Manager. Denn seine Autorität wird dadurch weiter untergraben. Zum Jahreswechsel gibt er nun den Chefposten von Porsche in Stuttgart ab und konzentriert sich ganz auf VW in Wolfsburg. Dort setzt ihm die starke Mitbestimmung enge Grenzen, schnelle Kehrtwenden wie in China erscheinen kaum möglich.

Auch Källenius hat nie etwas anderes kennengelernt als die starre, unflexible Welt europäischer Großkonzerne. Direkt nach seinem Wirtschaftsstudium, unter anderem an der Elite-Universität St. Gallen, fing er bei Daimler an, verbrachte abgesehen von einer kurzen Stippvisite beim Motorsport-Rennstall McLaren seine gesamte Karriere bei dem Stuttgarter Traditionsunternehmen und arbeitete an seinem Aufstieg durch die Hierarchien in den Vorstand.

Der 56 Jahre alte Manager lernte dabei genau das, was ihn im Wettbewerb mit der agilen asiatischen Konkurrenz so unbeweglich macht, das Austarieren der Interessen. Für die Politik gehört ein Mercedes-Chef zu den ersten Ansprechpartnern, er muss Investoren genauso bei Laune halten wie Arbeitnehmer, die ihm durch mannigfaltige Möglichkeiten der Einflussnahme das Leben schwer machen.

Källenius beschwört den „Schwaben Speed“

Källenius kennt die Defizite, die sich für ihn und für Mercedes durch diese Sozialisation ergeben. Nicht zuletzt deswegen beschwört er immer wieder den „Schwaben Speed“, der dem „China Speed“ in nichts nachstehe. Doch aus dem Korsett auszubrechen, vermag er trotzdem nicht: Die Entscheidungen von Mercedes sind zu langsam. Källenius schaffte es nicht, Strategien schnell aufzusetzen und sie bei sich verändernden Gegebenheiten anzupassen. Beispiel ist nicht nur die Luxusstrategie, ein Wort, das der Mercedes-Chef schon gar nicht mehr in den Mund nimmt. Viel zu lange hielt Källenius an der einseitigen Fokussierung auf den Top-Bereich fest.

Niemand wird BMW-Chef Zipse nachsagen, zu lange an falschen Strategien festgehalten oder strategische Entscheidungen zu langsam getroffen zu haben. Aber auch bei den 1916 gegründeten Bayerischen Motorenwerken ist „China-Speed“ noch immer ein Fremdwort.

Zipse hat bei BMW eine lupenreine Schornsteinkarriere hingelegt, die ihn im Alter von 56 Jahren auf den Chefposten führte. Seit 2019 steuerte er BMW mit eiserner Disziplin durch alle Krisen. Ob Chip- und Rohstoffknappheiten oder Strafzölle in Amerika, die Münchner kamen und kommen besser klar als ihre Konkurrenten in Wolfsburg und Stuttgart. Ganz nebenbei hat Zipse rund zehn Milliarden Euro in eine Modellpattform investiert, die sogenannte Neue Klasse, und den Konzern so auf die Zukunft der elektrischen und autonom fahrenden Autos vorbereitet.

Keine Antwort auf die chinesische Herausforderung

Aber bei BMW sollen Vorstände im Alter von 60 Jahren aufhören, so wollen das die Eigentümerfamilien Klatten und Quandt. Bei dem heute 61 Jahre alten Zipse machten sie zunächst eine Ausnahme und genehmigten die Verlängerung. Im Mai muss Zipse dann doch für den fünf Jahre jüngeren Nedeljković Platz machen.

Der gebürtige Serbe ist in Ulm aufgewachsen, liebt Basketball – und hat im übrigen eine Karriere hingelegt, die der seines Vorgängers fast aufs Haar gleicht. Bei BMW tritt er ein vordergründig wohlgeordnetes Erbe an. Doch auf die Herausforderung aus China hat auch Nedeljković, so viel kann man jetzt schon sagen, keine Antwort. Die drei Modelle, die BMW von seiner Neuen Klasse eigens für den chinesischen Markt anbieten wird, werden zwar in China gebaut, wurden aber in Deutschland entwickelt.

Lernen von den Chinesen: In der Provinz Anhui hat VW ein Entwicklungszentrum samt Testrecke aufgebaut.Picture Alliance

Wie es schneller geht, zeigt ausgerechnet der viel gescholtene Wettbewerber VW. In der chinesischen Stadt Hefei hat der Konzern ein neues Entwicklungszentrum aufgebaut, die „Volkswagen China Technology Company“, kurz VCTC. In der Zehn-Millionen-Einwohner-Metropole, die unweit des Heimatdorfs von BYD-Gründer Wang in der Provinz Anhui liegt, arbeiten die Ingenieure in „China Speed“. Die Entwicklungszeit sinkt um ein Drittel, die Kosten sollen um die Hälfte reduziert werden. Auf dem VCTC-Campus sitzen Tausende Softwarent­wickler und arbeiten am autonomen Fahren und digitalen Cockpit. Fachleute sprechen schon von einem „befreiten Labor“, das losgelöst von Wolfsburger Zwängen für den chinesischen Markt Fahrzeuge entwickelt.

Profitieren von der Staatsregierung

Ein früherer BMW-Manager lobte das Hefei-Projekt von VW gegenüber der F.A.Z. Künftig müsse es für BMW in die gleiche Richtung gehen. Allerdings nur in China. Denn chinesische Verhältnisse, das weiß Nedeljković ebenso wie Blume und Källenius, lassen sich nicht 1:1 auf Deutschland übertragen. Weder entwickeln deutsche Ingenieure von neun Uhr morgens bis neun Uhr am Abend, noch können etablierte Konzerne mit der Radikalität eines Start-up-Gründers geführt werden.

Chinas Autobosse profitieren vor allem davon, dass in der Volksrepublik von der Staatsregierung ein Umfeld geschaffen wurde, in dem man neue Autounternehmen gründen und sich dafür hoch verschulden kann. Und im Land ist ohnehin schon vorhanden, was Deutschland einmal ausmachte: Das dichte Netz an Lieferanten für alles, was ein Auto braucht. Hierzulande waren das einst Kolben und Zylinderköpfe, in China sind es heute die größten Batteriehersteller der Welt und die Zulieferer für selbstfahrende Autos. Es ist, wenn man so will, die Kulisse des Aufstiegs.

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