Es ist ein klarer, sonniger Wintertag in Freiburg. Der Stühlinger Kirchplatz, ein großes Areal zwischen dem Hauptbahnhof und der Herz-Jesu-Kirche, wirkt friedlich, die Sandsteinumrandungen des Gotteshauses leuchten hell im Sonnenlicht. Auf der Treppe an der Südfassade sitzen zehn afrikanischstämmige Jugendliche. Es ist 14.20 Uhr, als vier Polizeibusse von zwei Seiten mit hohem Tempo auf den Platz fahren.
Ein afrikanischstämmiger Mann mit rotem Basecap beobachtet, wie die Polizisten aus den Kleinbussen springen. Langsam, aber gezielt geht er in Richtung des Edeka-Marktes. Als er die angrenzende Straße erreicht, beginnt er plötzlich zu rennen. Zwei Polizistinnen nehmen die Verfolgung auf, doch der Mann – mutmaßlich ein Dealer – verschwindet in einer Seitenstraße. Die anderen Polizisten lassen sich unterdessen die Ausweispapiere einiger junger Männer aus Gambia zeigen, die sich ein Nachmittagsbier auf einer Bank gönnen. Mit einer gewissen Routine und Coolness holen die Männer Passdokumente und Aufenthaltsgenehmigungen aus ihren Jeanstaschen. Man merkt, dass sie solche Kontrollen gewohnt sind.
Dass die Stadtbild-Debatte der vergangenen Wochen auch den Stühlinger Kirchplatz wieder erreichte, ist kein Wunder. In Freiburg – einer Universitätsstadt, die sich zu den sonnigsten, liberalsten und ökologisch fortschrittlichsten der Republik zählt – war der Zustand des Platzes schon ein Thema, bevor Angela Merkel 2005 Bundeskanzlerin wurde. Immer wieder gab es städtebauliche Verschönerungsbemühungen. Die Blumenkästen auf der Straßenbahnbrücke, über die man den Platz vom Bahnhof kommend erreicht, waren so ein Versuch. Bis heute sind sie nicht bepflanzt. Schon 2007 wurde für den Stühlinger ein Runder Tisch einberufen. Damals gab es vor allem Probleme mit Alkoholabhängigen.
Zum Rad immer die Rechnung mitführen, rät der Polizist dem Gambier
In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Probleme an dem Platz deutlich verstärkt: Kriminalität, Drogenhandel, Polizeieinsätze, Angst. Wer die Polizeimeldungen verfolgt, liest zum Beispiel: „Gegen 22:26 Uhr kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Männern, in deren Verlauf ein 24-jähriger Mann durch einen Messerangriff verletzt wurde.“ Oder: „Ein Mann wurde mit einer abgebrochenen Flasche angegriffen und verletzt. Tatzeit war 0:40.“ Manchmal sind es pro Woche zwei oder drei solcher Meldungen. An dem Platz hängen Schilder mit großen Piktogrammen: Messer- und Waffenverbotszone.
An diesem Winternachmittag interessiert sich die Polizei am Stühlinger Kirchplatz für ein graues E-Mountainbike, das so neu aussieht, als wäre es direkt aus einer Fahrradwaschanlage gekommen. Es soll überprüft werden, ob der Gambier, der mit dem Rad unterwegs ist, der rechtmäßige Besitzer ist. Ein Zivilpolizist sucht am Rahmen nach der Seriennummer. „Gehört das Rad Ihnen, wo haben Sie das gekauft?“, fragt er. Der Gambier antwortet: „Ich komme gerade von der Arbeit, das Rad habe ich auf der Messe gekauft, ich habe dafür 3500 Euro bezahlt.“ Ein Polizist notiert sich die Seriennummer und bringt sie einem Kollegen im Polizeibus zur Datenbankabfrage.
Bei solchen Kontrollen sichert die Polizei häufig Diebesgut, greift Flüchtlinge auf, gegen die ermittelt wird, oder entdeckt eines der vielen Drogenverstecke, in denen Kleindealer ihre Ware lagern, bis sie einen Kunden gefunden haben. Die Überprüfung des Fahrrads bringt jedoch kein Ergebnis. Der Polizist kommt zurück aus dem Bus und sagt: „Es ist bei uns nicht als gestohlen gemeldet.“ An den Gambier gerichtet, ergänzt er: „Das nächste Mal nehmen Sie doch besser gleich die Rechnung mit.“ Der Mann steckt seine Papiere wieder ein und schiebt das Rad Richtung Straßenbahn.
Aufenthaltsort für verschiedene Milieus
40 Minuten, so lange hat der Polizeieinsatz gedauert. Im Anschluss versammelt Polizeihauptkommissar Patrick Sator seine Kollegen um sich, analysiert die Lage und wertet den Einsatz aus: 21 Personen wurden kontrolliert, in vier Fällen prüften die Beamten die Besitzverhältnisse von Fahrrädern. Zwei Messer und zwei Pfeffersprays wurden eingezogen. Bei zwei Personen fanden die Beamten Marihuana, allerdings derart geringe Mengen, dass es für ein Ermittlungsverfahren niemals reichen würde. Außerdem konnten die Polizisten zwei Männer aufgreifen, die sich illegal in Deutschland aufhalten. Die normale Bilanz einer Routineaktion. „Die Verfolgung eines Mannes war leider erfolglos, er konnte seine Drogen entsorgen und flüchtete in die Grete-Borgmann-Straße. Er konnte sich trotz intensiver Fahndung entziehen“, sagt Sator.
Der Stühlinger Kirchplatz ist ein Aufenthaltsort für unterschiedliche Milieus. Zumindest tagsüber herrscht eine friedliche Koexistenz zwischen Freiburgern mit liberaler Grundhaltung und unterschiedlichen Gruppen Geflüchteter. In der Mitte des Platzes treffen sich die Gambier, auf dem Spielplatz junge Akademikerinnen mit ihren Kindern, in der Nähe der Wiwilíbrücke und der Radstation stehen Männer aus dem Maghreb beisammen.
Die Gruppe aus Gambia zeigt sich aufgeschlossen und gesprächsbereit und redet auch über ihre Lebenssituation. Der 29 Jahre alte Boucar Mboge sagt, er suche dringend einen Job als Lagerarbeiter. Er erzählt, dass er sich selbst nachts auf dem Stühlinger unsicher fühle: „Die verkaufen hier Gras und andere Drogen, sie kommen von überall her aus der Welt.“ Die jungen Männer aus den Maghrebstaaten ein paar Meter weiter schauen finster, auf freundliche Ansprache antworten sie nur in aggressivem Ton: „Du gehen.“
Ulrich Hildenbrand, Polizeidirektor und zuständiger Revierleiter, kennt den Stühlinger Kirchplatz noch aus seiner Kindheit in den Achtzigerjahren, als sich dort eine Trinkerszene traf. „Die als problematisch wahrgenommenen Gruppen wechselten über die Jahre“, erzählt er. Einige Jahre lang sei das Geschehen von einer Gruppe gambischer Flüchtlinge dominiert worden, einige Gambier hätten mit Cannabis und anderen Drogen gehandelt. Dann habe es mehrere Männergruppen aus Albanien gegeben, die sich dort breitmachten. „Derzeit haben wir Probleme mit jungen Männern aus den Maghrebstaaten, die das Geschehen dominieren“, sagt Hildenbrand.
Der Begriff „Stadtbild“ hilft Polizisten in der praktischen Arbeit wenig, starke analytische Aussagekraft messen viele ihm auch nicht zu. Allein vom optischen Eindruck eines Platzes lassen sich nur geringe Rückschlüsse auf die soziale Problematik und Lösungsmöglichkeiten ziehen. Dafür bietet Freiburg Beispiele: Am Bermudadreieck in der Innenstadt, wo es vor Jahren Probleme mit alkoholisierten Jugendlichen gab, sind andere Lösungen gefragt als auf dem Stühlinger Kirchplatz. Bei der Verbesserung des Stadtbildes am Bermudadreieck halfen ein Alkoholverbot und Videoüberwachung; im Stühlinger könnten die Probleme nachlassen, sobald Menschen mit Bleibeperspektive schneller Arbeit bekämen und die ohne Bleibemöglichkeit mit schnelleren Asylverfahren rechnen müssten.
Die Polizei kennt die Ursachen der Kriminalität besser als die Politiker. Erfahrene Ermittler wissen, dass nicht die Herkunft die Ursache für Kriminalität ist, sondern spezifische Probleme: fehlende Perspektiven, Drogenabhängigkeit, Gewalterfahrungen auf der Flucht und im Herkunftsland. „Auf einem innerstädtischen Platz in der Nähe eines Bahnhofs geht es nie völlig gewaltfrei zu“, erklärt Hildenbrand. „Aber durch die maghrebinischen Männer nahmen die Rohheitsdelikte zu. 2020 oder 2021 waren es zwanzig bis dreißig Rohheitsdelikte pro Jahr, 2023 dann schon siebzig und im vergangenen Jahr sogar 104.“
Die kriminellste Stadt Baden-Württembergs
Freiburg ist die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate in Baden-Württemberg. Seit 2017 besteht eine Sicherheitspartnerschaft zwischen Stadt und Land, die 2024 verlängert wurde. Sie beinhaltet zum Beispiel, dass das Polizeipräsidium mit zusätzlichen Stellen ausgestattet wird. Für die besondere Situation Freiburgs gibt es strukturelle Gründe: die Lage an den Grenzen zur Schweiz und zu Frankreich, die Kriminellen schnelle und zahlreiche Rückzugsmöglichkeiten bietet. Die hohe Zahl an Einpendlern und Touristen. Der Status als Oberzentrum inmitten einer ländlichen Region, die sich tief in den Schwarzwald und in die Rheinebene hineinzieht, weshalb die Stadt auch Partyhochburg für Jugendliche aus den umliegenden Dörfern und Kleinstädten ist.
Außerdem gibt es in Freiburg eine Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge, der Anteil an Geflüchteten an der Stadtbevölkerung ist deshalb höher als in vielen anderen Kommunen. „Geflüchtete aus Syrien, der Ukraine und Afghanistan tauchen in der Statistik zur Gewaltkriminalität weniger auf, Gambier etwas häufiger“, sagt Hildenbrand. „Oft handelt es sich um kulturelle Konflikte, Revierkämpfe, die Opfer stammen häufig aus der eigenen Klientel.“ Von 2023 an hätten tätliche Angriffe auf Passanten und Raubdelikte deutlich zugenommen.
Seit Herbst 2024 gibt es ein neues, soziokulturelles Stadtentwicklungskonzept für den Stühlinger Kirchplatz, das langsam Wirkung zeigt. Das Areal ist jetzt besser ausgeleuchtet, die Hecken sind geschnitten. In der Nähe der Straßenbahnbrücke werkeln drei Männer an einem neuen Kulturkiosk. Sie arbeiten für „Schwere(s)Los!“, einen Verein mit soziokulturellen Angeboten, der Menschen in prekären Lagen hilft. Der Kiosk wird mit Platznutzern und Anwohnern gemeinsam gebaut, er bekommt auch eine Kleinkunstbühne und soll helfen, unterschiedliche Menschen am Rande des „lebendigen und konfliktreichen“ Platzes – wie es auf der Homepage des Vereins heißt – zusammenzubringen.
„Der Stühlinger Kirchplatz ist für viele Menschen eine Angstzone. Deshalb bieten wir den Kulturkiosk als Begegnungs- und Schutzraum an“, sagt Jens Burde, Kulturleiter von „Schwere(s)Los!“. Er kennt die Probleme des Quartiers seit vielen Jahren. „Es gibt Überlegungen der Stadt, die Straßenbahnbrücke nachts cool zu beleuchten, um hier Möglichkeiten zu schaffen, sich respektvoll zu begegnen. Damit wäre viel gewonnen“, findet Burde. Gegenseitiger Respekt, das sei es, was auf dem Stühlinger manchmal fehle. Er ergänzt: „Wir hatten im letzten Jahr nach meiner Erinnerung zehn aggressive Auseinandersetzungen, das heißt, es gab Konflikte, bei denen eine Flasche auf den Boden geschleudert wurde oder es auch zu Handgreiflichkeiten kam.“
Wenn man auf die Menschen offen zugehe, erreiche man sie auch, sagt Burde. Die vielen Kontrollen der Ordnungshüter seien da nicht unbedingt förderlich. „Für diejenigen, die hier viele Jahre leben und aus Syrien oder Afrika gekommen sind, sind die ständigen Polizeikontrollen natürlich auch eine Belastung und eine Geste des Misstrauens.“
Keine Mehrheit für Videoüberwachung
Neben „Schwere(s)Los!“ gibt es noch den Verein „Capoa“, gegründet von Ababacar Kèbè, einem aus Kamerun stammenden Streetworker, der seit dreißig Jahren in Freiburg lebt. 2014, als immer mehr Flüchtlinge aus Afrika nach Deutschland kamen, habe er den Verein gegründet, sagt Kèbè. Heute berate man 15 Klienten am Tag. „Die Schwarzafrikaner haben bis heute kein Vertrauen in Weiße, die glauben, dass jeder Weiße mit der Polizei zu tun hat“, sagt Kèbè.
Deshalb müsse man um Vertrauen in den deutschen Staat werben. „Wer in Deutschland bleiben will, der muss die Wege gehen, die Deutschland anbietet, das ist doch klar. Die meisten hier sind zwischen 20 und 28 Jahre alt, und natürlich wollen die weg von den Drogen.“ Sein Verein helfe bei Behördengängen, der Wohnungs- und Arbeitssuche. „Wir haben schon viel erreicht, mit Kokain und Ecstasy wird hier weniger gehandelt, das kriegt man heute doch eher an der Dreisam.“
Es habe lange gedauert, sagt Polizeidirektor Ulrich Hildenbrand, bis die Freiburger Kommunalpolitiker ein Konzept für den Stühlinger Kirchplatz gefunden hätten. Zwar kann er mit den Zahlen aus der Kriminalitätsstatistik kaum zufrieden sein, doch Hildenbrand glaubt, dass die negative Entwicklung überwunden ist. Endlich. Mit dem neuen Konzept stimme jetzt die Richtung, findet der Beamte – wenn auch noch nicht in jedem Detail. „Unser Wunsch ist noch, den Platz mit Videokameras zu überwachen“, sagt Hildenbrand. „Wenn wir den Platz 24 Stunden überwachen könnten, wären wir schnell mit Einsatzkräften dort.“ Und wenn die Taten per Videoaufnahme dokumentiert seien, stehe vor Gericht nicht Aussage gegen Aussage, die Strafverfolgung werde effizienter. Doch für die Videoüberwachung gibt es im Gemeinderat bislang keine Mehrheit.
An der Südseite des Stühlinger Kirchplatzes, gegenüber dem Edeka-Markt, gibt es einen Kinderspielplatz mit einem Brunnen und neuen Spielgeräten. Eine Mutter, die als medizinisch-technische Angestellte am Uniklinikum arbeitet, beaufsichtigt an diesem Tag ihre Kinder an der Schaukel. Seit drei Jahren sei sie fast täglich auf dem Platz, erzählt sie. „Ich hatte hier bislang nullkommanull Angst. Oft bin ich noch um 20 Uhr hier, weil dann der Supermarkt noch offen hat.“ Auch dann habe sie keine Angst, sagt sie.
Im Schutz der anbrechenden Dämmerung wird ein Mann mit grauen Haaren im blauen Anorak von einem Gambier in ein Verkaufsgespräch verwickelt. Sehr schnell werden sie sich einig, tauschen Bargeld gegen ein kleines Plastiktütchen. Auf die Frage, was er gekauft habe, sagt der Mann nichts und läuft schnell weg.
Eine 32 Jahre alte Klinikärztin hat das beobachtet. Sie kommt vom Einkaufen und überquert den Platz, die kleine Tochter einer Freundin an der Hand. „Bis 23 Uhr würde ich mich hier immer frei bewegen“, sagt sie. „Was die Polizei macht, ist manchmal auch schon unfair, die fahren mit zehn Autos auf eine kleine Gruppe von Geflüchteten zu.“ Sie kenne den Platz schon viele Jahre und sei noch nie bedroht worden. „Ich werde schon mal angesprochen. Die sagen dann: Wie geht es dir, willst du was? Wenn man klar sagt: ‚Nö‘, ist es auch in Ordnung.“
Source: faz.net