Krimi | Schurke im Tweed-Anzug: Joachim Feldmanns Bösewichte der Saison

„Aber welch ein Gesicht war das! Sobald ich es erblickte, fielen mir die eigenartigen Züge ein, welche der geniale Stift Gustave Dorés dem Teufel verliehen hatte.“ Sein erster Eindruck sollte Old Shatterhand nicht täuschen. Harry Melton, der im ersten Kapitel des weniger bekannten Romans Die Felsenburg aus der nimmermüden Feder Karl Mays als Mormonenprediger getarnt auftaucht, ist ein Bösewicht par excellence. Dass sich der Teufel gelegentlich als Mann des Friedens tarnt, ist also nicht erst seit Bob Dylans Song Man of Peace bekannt.

Cesare Lombrosos Thesen vom geborenen Verbrecher, den man auch an seinen physiognomischen Merkmalen erkennen könne, prägt hier das Werk eines Schriftstellers, der selbst nicht nur einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Dass May die Theorie des italienischen Arztes (1835 – 1909) aktiv rezipiert hat, ist nicht unwahrscheinlich, immerhin findet sich dessen Buch Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte in der Bibliothek des sächsischen Großmystikers. Die Vorstellung, von den Gesichtszügen eines Menschen auf seinen Charakter schließen zu können, ist bekanntlich bis heute weit verbreitet, naturgemäß auch in der aktuellen Kriminalliteratur.

„Zum ersten Mal bemerkte Charlotte, dass in seinem Gesicht etwas nicht stimmte. Sein Lächeln war freundlich, doch sein Blick hatte etwas Kaltes, Durchdringendes.“ Wer hier ein junges Mädchen an einem warmen Spätsommertag frösteln lässt, ist Andreas Bichel, die sinistre Hauptfigur in Andrea Maria Schenkels neuem Roman Der Erdspiegel. Dass es sich bei dem oberflächlich freundlichen, redseligen Mann um einen triebgesteuerten Mörder handelt, ist vom ersten Kapitel an bekannt. Mit fantastischen Geschichten von einem „Erdspiegel“, der es ermögliche, in die Zukunft zu blicken, erschleicht er sich das Vertrauen seiner naiven, vom Leben gebeutelten Opfer: junge Mädchen, die von einem besseren Leben träumen. Charlotte entkommt ihm nur durch Zufall.

Andrea Maria Schenkel, deren literarisches Debüt Tannöd 2006 zum Überraschungsbestseller wurde, nimmt auch diesmal einen historischen Stoff als Grundlage. Vom Fall des Serienmörders Andreas Bichel hat die Autorin in der Sammlung Merkwürdige Criminal-Rechtsfälle, 1811 von dem Juristen Anselm von Feuerbach herausgegeben, gelesen. True Crime also, verarbeitet zu einer milieustarken Erzählung, die ihre Spannung nicht aus der Frage nach dem Täter, sondern aus dem Mitgefühl für dessen Opfer bezieht. Die Darstellung erfolgt aus der Figurenperspektive, während der Stil in seiner betonten Sachlichkeit an die Kalendergeschichten des 19. Jahrhunderts erinnert. Dass der dämonische Bichel und seine Motive ein Mysterium bleiben, mag man für eine Schwachstelle dieser historischen Kriminalgeschichte aus der bayrischen Provinz halten, ihrer nachhaltigen Wirkung tut das keinen Abbruch.

Spannungsliterarische Trends

Gleich einem ganzen Kollektiv von Verdächtigen und Tätern steht die psychisch derangierte Ermittlerin Marta Milutinovic gegenüber. Aber das weiß sie noch nicht, als sie erholungsbedürftig den Posten als Leiterin der Polizeidienststelle im (fiktiven) fränkischen Städtchen Schwarzbach antritt. Nahe der tschechischen Grenze mag der Hund verfroren sein, doch der Handel mit synthetischen Drogen blüht. Aber das ist längst nicht alles. Ein ganzer Verbrechenspfuhl tut sich auf, von ländlicher Ruhe keine Spur. Das muss so sein.

Jochen Rauschs als Auftakt zu einer Reihe gedachter Polizeiroman Im toten Winkel liegt ganz im aktuellen spannungsliterarischen Trend. Und so wundert es nicht, dass das Oberhaupt einer lokalen Religionsgemeinschaft, von dem nur als „unser Herr“ gesprochen wird, so einiges zu verbergen hat. Denn dass der Mann, dessen Haupt ein „schlohweißer Haarkranz“ krönt, „Eleganz und Würde“ ausstrahlt, verdankt sich vor allem seinem „Tweedanzug“ und den wahrscheinlich blank polierten „Lederschuhen“.

Offensichtliche Tarnung, daran lässt der routinierte Autor keinen Zweifel. Das böse Ende ist unvermeidbar.

Clanboss Said Abou-Qadig hingegen hat es geschafft, „eine weiße Weste“ zu behalten. Das wissen auch die Kriminalbeamten, die den gebürtigen Libanesen in seinem Wettbüro im Berliner Bezirk Wedding aufsuchen. Zwar kann sie die „Wärme“ in seinen „tiefbraunen Augen“ ebenso wenig täuschen wie „sein taubengrauer Anzug von erlesener Qualität“, doch nachzuweisen ist dem charmanten Herrn nichts. Der Großkriminelle im edlen Zwirn ist auch nur eine Nebenfigur in Die Schuld, die uns verfolgt, einem geschickt geplotteten und rasant erzählten Großstadtkrimi des Autorenduos Thi Linh Nguyen und Alexander Oetker. Da bieten sich die aus zahllosen Fernsehproduktionen bekannten Stereotype an, um eine vertraute Atmosphäre zu schaffen.

Zum Glück hat der Roman noch mehr zu bieten. Hintergrund der Handlung sind nämlich auch die Geschichte der vietnamesischen Vertragsarbeiter in der DDR nach der Wiedervereinigung und die anschließenden Machtkämpfe im organisierten Verbrechen in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Und das ist ausgesprochen spannend.

Prediger als Klischee-Schurken

Es bleibt die Frage, was man tun soll, wenn sich Bösewichte schon nicht mehr an ihrem Blick erkennen lassen. James Lee Burke, einer der Großmeister des Genres, dessen ausschweifende Romane um den vielgeprüften Ermittler Dave Robicheaux aus New Orleans längst den Rahmen traditionellen Krimischaffens sprengen, hat sich für einen seiner übelsten Schurken etwas Naheliegendes ausgedacht. Der soziopathische Killer Asa Surrette in Angst um Alafair mag sich zwar wie Karl Mays Harry Melton als Prediger tarnen, doch sein übler, nicht zu übertönender Geruch, dessen Herkunft ungeklärt bleibt, verrät ihn immer wieder. Das ist ebenso bizarr wie vielsagend, denkt man an die angeblichen schwefligen Ausdünstungen Satans. Der offenbar auch dann noch sein Unwesen treibt, wenn der Glaube an Gott verschwunden ist.

Diesen Eindruck zumindest hinterlässtdie Lektüre von Kathedralen, einem radikal religionskritischen Roman der argentinischen Autorin Claudia Piñeiro. Lía, die als Buchhändlerin in einer Art Exil im spanischen Santiago de Compostela lebt, verlor den Glauben, als ihre jüngere Schwester Ana auf brutale Weise ermordet wurde. Als Atheistin fühlte sie sich frei, zum Unverständnis ihrer Familie. Das ist 30 Jahre her. Carmen, die älteste der drei Schwestern, ist hingegen noch immer streng katholisch, ebenso ihr Mann Julián, der einst Priester werden wollte. Als die beiden auf der Suche nach ihrem verschwundenen Sohn Mateo nach Spanien reisen, kommt es zur Wiederbegegnung und zur sukzessiven Aufklärung des Verbrechens. Dafür bedient sich die Autorin sieben erzählender Monologe der beteiligten Figuren. Die Wahrheit ist letztendlich wenig überraschend, schockiert aber dennoch aufgrund der zutage tretenden konsequenten Bösartigkeit, die keine individuelle ist, sondern einem religiösen System in wahnhafter Ausprägung geschuldet. So wird der Roman zu einer äußerst effektvollen Anklageschrift gegen die verheerenden Auswirkungen christlicher Doppelmoral.

Dass es des Leibhaftigen in menschlicher Gestalt nicht bedarf, damit Menschen einander Furchtbares antun, zeigt Dinge, die wir brennen sahen, der Debütroman der australischen Schriftstellerin Hayley Scrivenor.

In der Kleinstadt Durton, irgendwo im Outback, verschwindet ein zwölfjähriges Mädchen auf dem Weg von der Schule nach Hause. Polizisten aus Sydney übernehmen die Ermittlungen und finden Spuren. Jemand wird festgenommen, doch seine Schuld ist zweifelhaft. Dann findet man die Leiche, und langsam klärt sich auf, was tatsächlich geschehen ist. Und das ist so banal wie schrecklich.

Hayley Scrivenor erzählt die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, vom kollektiven „wir“ bis hin zu einzelnen Figuren, Kindern wie Erwachsenen. Dabei überlappt die Darstellung des komplexen Geschehens auf faszinierende Weise. Es kommen Dinge ans Tageslicht, die man gerne verborgen gehalten hätte, ohne dass dabei gängige Krimiklischees bedient würden. So entwickelt der Roman eine ganz eigene, sehr realistische Tragik, die berührt. Und zu der es überhaupt nicht passen würde, wenn man die Bösen, spielten sie hier denn ein Rolle, bereits an ihrem kalten Blick erkennen könnte.

Der Erdspiegel Andrea Maria Schenkel Kampa 2023, 192 S., 22 €

Im toten Winkel Jochen Rausch Piper 2023, 304 S., 24 €

Die Schuld, die uns verfolgt Thi Linh Nguyen, Alexander Oetker Piper 2023, 320 S., 18 €

Angst um Alafair James Lee Burke Jürgen Bürger (Übers.), Pendragon 2023, 672 S., 26 €

Kathedralen Claudia Piñeiro Peter Kultzen (Übers.), Unionsverlag 2023, 320 S., 24 €

Dinge, die wir brennen sahen Hayley Scrivenor Andrea O’Brien (Übers.), Eichborn 2023, 368 S., 22 €

Zur Person

Joachim Feldmann lebt in Recklinghausen und war bis zum letzten Sommer Lehrer für Deutsch und Englisch. Seit vielen Jahren schreibt er über Kriminalliteratur, unter anderem für das CrimeMag und die Literaturzeitschrift Am Erker. Er ist Mitglied in der Jury des Deutschen Krimipreises

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