Kriegsdienstverweigerung | Ob Russe oder Ukrainer: Wer nicht kämpfen will, muss fliehen

Wer sich nicht am Krieg in der Ukraine beteiligen wollte, so hatten deutsche Politiker_innen aller Fraktionen im Mai vergangenen Jahres den Schulterschluss geübt, könnte in Deutschland Schutz finden. Die Bilder kilometerlanger Staus an den Grenzübergängen zu den südlichen Nachbarländern Russlands gingen durch die Medien und sind noch in guter Erinnerung. Nachdem der russische Präsident Wladimir Putin im September 2022 die Mobilmachung von 300.000 Reservisten verkündet hatte, verließen laut Forbes innerhalb von zwei Wochen mehr als doppelt so viele Menschen, vor allem Männer, ihr Heimatland.

Ein Russe weniger ist ein Russe weniger mit dem Gewehr in der Hand. Ein Russe weniger ist ein Russe weniger, der für Putin kämpft. So sieht das Alexander T. Bei seinen morgendlichen Streifzügen durch die Kriegskanäle bei Telegram freut er sich über jeden gefallenen russischen Soldaten. Gleichzeitig erschrickt er auch über sich selbst und über diesen Hass, der mit dem Schmerz in ihm wächst. Die Stimme des in Deutschland tätigen Grundschullehrers zittert, als er das preisgibt: „Ich bin Ukrainer.“ Das hat er wahrscheinlich nie so gefühlt wie jetzt. „Ich bin 56 Jahre alt, und ich hätte nie gedacht, dass dieser Krieg mein Leben, meinen Charakter so verändert.“

Damit er aufhört, dieser Krieg, wünscht sich Alexander T. für die ukrainische Armee schnell so viele Waffen wie möglich. Kampfjets, Phosphorbomben – alles nur Vorstellbare. Er sei seit der Annexion der Krim und von Teilen des Donbass 2014 kein Pazifist mehr. Ihm steigen Tränen in die Augen. Seitdem sammle er Geld für Ausrüstung, Munition und Waffen. Er drückt den Rücken durch, sagt so entschieden wie möglich, dass er ganz fest an den Sieg glaube. Die Bilder der toten Russen am Morgen, bevor er zur Schule geht, würden ihn bestärken.

Was der Verein Connection tut

„Wer sich jetzt einer Einberufung gegenübersieht und nicht Teil einer Armee der Kriegsverbrechen sein will, stellt sich gegen das System Putin“, sagte im September 2022 der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Johannes Vogel. „Wir Europäer sollten russischen Regimegegnern ebenso wie unschuldigen Deserteuren jetzt schnell Asyl gewähren.“ Doch Pro Asyl beklagt, dass viel zu wenig passiert sei. Im Februar meldete die Hilfsorganisation Connection in Offenbach die erste Ablehnung eines russischen Staatsbürgers, der sich mit seiner Flucht von Russland nach Deutschland einer möglichen Einberufung entziehen wollte. „Die fallen formal durchs Raster“, erklärt Connection-Geschäftsführer Rudi Friedrich. Bessere Chancen habe, wer einen Einberufungsbescheid vorlegen könne oder bereits desertiert sei.

Das BAMF prüft laut eigenen Angaben derzeit die „Entscheidungspraxis“ bei russischen Kriegsdienstverweigerern. Im vergangenen Jahr lag die sogenannte Schutzquote bei gerade mal 11,5 Prozent, insgesamt wurden im genannten Zeitraum rund 2.594 Asylanträge aus der Russischen Föderation abgeschlossen. 2023 fielen bis Ende Februar 563 Entscheidungen, die Schutzquote beläuft sich auf 8,7 Prozent.

Friedrich fordert eine bessere Perspektive für Militärdienstentzieher und Kriegsdienstverweigerer in Deutschland. „Spätestens seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gilt Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. Es stellte fest, dass das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 9 der europäischen Menschenrechtskonvention Teil der Gewissensfreiheit sei“, so Friedrich. In Russland und in der Ukraine wurde dieses Recht aufgehoben beziehungsweise eingeschränkt. Mit seinem Verein unterstützt Friedrich Kriegsdienstverweigerer und Deserteure.

„Für viele Russen, die versuchen, sich der Einberufung zu entziehen, gibt es leider kaum eine Perspektive, nach Europa zu kommen. Um noch mehr Leute davon zu überzeugen, die Waffen niederzulegen, braucht es sichere Häfen außerhalb Russlands“, sagt der 44-jährige Gregory Sverdlin. Er sah sich kurz nach der russischen Invasion selbst gezwungen, Russland zu verlassen. Letztlich auch, um sich der Einberufung zu entziehen. Er hatte in St. Petersburg an Protesten gegen den Überfall auf die Ukraine teilgenommen und war kurz vor seiner Festnahme gewarnt worden. „Den Mund zu halten, war unrealistisch“, sagt er am Telefon. Seine Flucht habe er als schmerzhaft empfunden, das sei wie eine Kapitulation vor Putins Russland gewesen. Doch die Aussicht auf mehrere Jahre Gefängnis, Lager oder Kriegsfront war noch unerträglicher. So stieg Sverdlin in sein Auto und fuhr Richtung Westen, über die Grenze nach Estland und schließlich in einem weiten Bogen über Mittel- und Südosteuropa nach Georgien.

Exodus von 900.000 Russen

Von dort aus arbeitet Sverdlin auf seine Weise daran, den russischen Angriffskrieg zu beenden. Er hat eine Demobilisierungskampagne mit Freund_innen, Bekannten und Freiwilligen gestartet, damit möglichst wenige bei diesem „blutigen russischen Krieg“ mitmachen und „den Abzug betätigen“. Die Kampagne iditelesom.org ist nicht mehr als eine Homepage für Spendenaufrufe und ein Telegram-Kanal, über den potenzielle russische Kriegsdienstverweigerer und Deserteure Hilfe erhalten können. Dazu gehören Rechtsberatung, psychologische Begleitung, logistische und finanzielle Unterstützung für die Flucht. Nach eigenen Angaben hat die Initiative im vergangenen halben Jahr rund 5.000 Kriegsdienstverweigerern geholfen, das Land zu verlassen oder sich in Russland zu verstecken, um der Rekrutierung zu entgehen. Zusätzlich habe man rund 100 Soldaten zur Fahnenflucht verholfen und rund 60 bei ihrer Entscheidung unterstützt, sich den ukrainischen Truppen zu stellen, um nicht weiterkämpfen zu müssen.

In der Ukraine leben rund 40 Millionen Menschen, Russland zählt 140 Millionen Einwohner_innen. Rund 30 Millionen Männer zwischen 20 und 49 Jahren, schätzt der Moskauer Arbeitsmarktforscher Wladimir Gimpelson, waren in Russland bisher von der Mobilmachung betroffen. Nach Angaben des ukrainischen Militärs vom Februar 2023 sind seit Beginn der Invasion knapp 140.000 russische Soldaten ums Leben gekommen. Dagegen haben nach Angaben unterschiedlicher Medien 900.000 Russen ihre Tasche gepackt und seit Februar 2022 ihr Land verlassen. Die Washington Post spricht von einem „historischen Exodus“. Auf 150.000 schätzt Connection die Zahl der Verweigerer und Deserteure insgesamt, vergleichsweise wenig. Es dürften allerdings mehr sein, als bislang bei der Invasion in der Ukraine umgekommen sind.

Gregoy Sverdlin hat den Vorteil, nicht nur einen russischen, sondern auch einen israelischen Pass zu besitzen, der ihm einige Grenzen öffnet. Faule Kompromisse mit Putin kommen für ihn nicht infrage. Nur eine Demobilisierung in großem Stil wäre ein Game Changer, denn für jeden toten Russen zahlen vor allem Ukrainer_innen mit ihrem Leben. Krieg ist ein Body Count, daran hat sich nichts geändert. Und irgendwann sind die Verluste zu hoch.

Alexander T.s Neffe, für dessen fronttaugliche Schuhe und einen sogenannten taktischen Rucksack er 2014 gesammelt hat, ist bei den Kämpfen um das Stahlwerk in Mariupol angeschossen worden und danach verblutet. Sein Onkel hält die Trauer von sich weg: „Ich bin unglaublich stolz auf ihn.“ Er selbst könnte das nicht, „Menschen erschießen“.

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