Kriegsalltag | Sorry, ich bin müde: So ringen Ukrainer um ihre Gesellschaft im Krieg

Ein Zucken durchfährt den Raum. Es ist vier Uhr morgens in Kiew, Ende August. Im Keller einer Unterkunft harren etwa zwölf Menschen aus – Ukrainer*innen und Ausländer*innen. Manche haben sich in Decken gewickelt und liegen auf dem kalten Boden, während andere schweigend auf ihre Smartphones starren. Telegram-Kanäle melden im Sekundentakt neue Einschläge. Ballistische Raketen, noch zerstörerischer als die Drohnen, die bereits seit Stunden die Stadt attackieren. Dann eine Detonation, gefolgt von noch einer. Von draußen dringen dumpfe Knallgeräusche in den Keller, der Boden vibriert leicht bei jeder Explosion. Die Menschen haben tiefe Augenringe, ihre Gesichter sind angespannt.

Der Angriff endet erst mit dem Sonnenaufgang. Am nächsten Tag zeigt sich zwei Kilometer entfernt ein Bild der Verwüstung: Ein Wohnhaus ist eingestürzt, die obere Etage ein Haufen Schutt und Mauerreste. Arbeiter*innen räumen Trümmerteile weg, Glassplitter liegen auf der Straße, die Dächer der Autos sind demoliert. Besorgte Anwohner*innen stehen an einem Absperrband der Polizei. Ein Nachrichtensprecher zählt vor laufender Kamera auf: mehr als 600 Drohnen und Raketen. 25 Tote allein in Kiew, darunter vier Kinder. Nebenan schneidet ein Friseur routiniert Haare. Die großen Glasfenster seines Geschäfts sind durch die Explosionen zersprungen, man kann direkt hineinschauen.

Überleben heißt in der Ukraine nicht nur, die Nächte in Kellern zu überstehen. Auch politisch ringen viele um Luft. Trotz Kriegsrechts gingen im Juli Tausende gegen Korruption auf die Straße – die größten Demonstrationen seit Beginn der russischen Invasion. Auslöser war ein Gesetz, das zwei Antikorruptionsbehörden die Unabhängigkeit nahm. Als die Kundgebungen zunahmen und auch die EU Kritik äußerte, ruderte das Parlament zurück. „Die Proteste haben unsere Gesellschaft politisiert“, resümiert Vitaliy Dudin. Der Vorsitzende der demokratisch-sozialistischen Organisation Sotsialnyi Rukh (Soziale Bewegung) sitzt in seinem Kiewer Büro, an der Wand hängt das rote Banner mit einem Zahnrad.

Die linken Aktivist*innen hatten sich an den Protesten beteiligt und dabei versucht, nicht nur Kritik an Korruption, sondern auch an der Macht der Oligarchen und dem kapitalistischen System zu üben. Ihr Fazit fällt gemischt aus: „Einerseits war der Einfluss von neoliberaler Ideologie enorm, die Forderungen gingen auch nicht besonders weit. Andererseits sammelten viele junge Menschen ihre erste Protesterfahrung.“

Der Menschenrechtsaktivist Jewhen Sacharow sieht ein weiteres Problem: die brutalen Zwangseinziehungen von Wehrpflichtigen. Freiwillige melden sich kaum noch. „Männer auf der Straße zu kidnappen, ist illegal“, betont der 72-jährige Vorsitzende der Kharkiv Human Rights Protection Group. Doch dagegen vorzugehen sei kaum möglich – „die Armee hat immer recht“. Autoritäre Tendenzen nähmen zu, sagt er. Doch die zentrale Gefahr gehe immer noch von Russland aus. Ein Bericht über Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine soll erst nach Kriegsende erscheinen, um nicht instrumentalisiert zu werden.

In der Industriestadt sprechen die Menschen Surschyk, eine Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch

Auch der Journalist Serhij Hus kritisiert die innenpolitischen Verschiebungen. „Je länger der Krieg dauert, desto weiter entfernt sich die Ukraine von einer echten Demokratie“, sagt das Mitglied der Journalistischen Ethikkommission der Ukraine. Zensur und andere Einschränkungen nähmen zu. „Die Medien arbeiten zudem größtenteils unter dem starken Druck der Selbstzensur.“

Während die politischen Spielräume schrumpfen, kämpfen die Menschen im Osten des Landes ums wirtschaftliche Überleben. Etwa 450 Kilometer östlich von Kiew liegt eine bedeutende Industrieregion des Landes. Viele Menschen hier sind ärmer und sprechen im Alltag meist Russisch, manche auch Surschyk, eine Mischsprache aus Russisch und Ukrainisch. Statt repräsentativer Bauten prägen vor allem Arbeitersiedlungen aus der Stalinzeit das Bild. Eines der Zentren: Krywyj Rih, eine Industriestadt mit mehr als 600 000 Einwohnern. Von der Flusspromenade aus sind die zahlreichen Schornsteine und Hochöfen gut zu sehen.

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Die größte Fabrik ist von Arcelormittal, dem größten Stahlproduzenten der Ukraine und Betreiber mehrerer Minen. Dem Unternehmen droht die Schließung – die Energiekosten seien zu hoch, heißt es von der Geschäftsführung. Russische Luftangriffe verschärfen die Lage. „Der Krieg schwächt die Industrie weiter, die aufgrund der Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland bereits im Niedergang begriffen war“, sagt Serhij Hus, der selbst in der Industriestadt Kamjanske lebt. Die Zukunft? „Wer kann, geht nach Europa.“ Männer, die das Land aber nicht verlassen können, hätten nur wenige Alternativen, so Hus. „Sie können entweder zum Militär gehen oder in eine andere Region ziehen – mir fällt die Vorstellung aber schwer, dass es woanders mehr Arbeit geben könnte.“ Einige suchen neue Chancen, in anderen Branchen oder im Ausland. Die Dozentin einer technischen Fachhochschule gibt in ihrer Freizeit Englischunterricht für Interessierte.

Fundraising für die Truppe

Auch im Militäralltag ist das Überleben längst eine Frage privater Initiativen. Fundraising-Kampagnen einzelner Truppenteile ersetzen mittlerweile die staatliche Ausrüstung – bis hin zu Drohnen, Fahrzeugen und Starlink-Systemen. Werbeplakate von Militäreinheiten finden sich immer wieder im Stadtbild, darunter oft auch die der rechtsextrem geprägten Einheiten Asow und Drittes Sturmkorps, die als vergleichsweise gut ausgerüstet gelten.

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In der Millionenstadt Dnipro, zwei Stunden Autofahrt von der Front entfernt, befindet sich in einem unscheinbaren Gebäude eine Bar – benannt nach dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno. Sein Porträt prangt im Konzertsaal. Hier sitzen Daria, 26, und Svetlana, 34. Ihre Nachnamen wollen sie nicht nennen. Früher organisierten sie Soli-Konzerte für Kriegsflüchtlinge. Heute sammeln sie meist Spenden für das Militär mit Veranstaltungen in der Machno-Bar oder über Social Media. „Wir haben keine Wahl, wir wollen überleben“, sagt Svetlana. Doch die Unterstützung lasse nach. „Die Leute sind erschöpft und wollen ihr normales Leben zurück“, sagt Daria. „Wenn mir ein Freund von der Front schreibt, dass er etwas benötigt, kann ich aber nicht einfach sagen: Sorry, ich bin müde.“

Wie misst man Müdigkeit? Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup befürworten 69 Prozent der Ukrainer*innen einen schnellstmöglichen Verhandlungsfrieden – vor drei Jahren waren es 22 Prozent. Anton Hruschezkyj betrachtet diese Zahlen mit Skepsis. Er ist Direktor des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS), das in Abständen von wenigen Monaten die Menschen in der Ukraine immer wieder nach ihren Einstellungen befragt. „Natürlich sind die Leute müde und wollen Frieden“, sagt er. Es komme aber darauf an, welche Folgefragen man ihnen genau stellt – ohne die Klärung der konkreten Bedingungen seien Zahlen wenig aussagekräftig. „In den umkämpften Gebieten gibt es generell mehr Bereitschaft für das Einfrieren der aktuellen Frontlinie und harte Kompromisse“, fasst Hruschezkyi zusammen. „Das liegt einfach daran, dass die Menschen dort am meisten leiden.“ Sein Fazit: „Die Ukrainer*innen sind zunehmend zynischer, pragmatischer und skeptischer geworden.“ In die Verhandlungsinitiativen von US-Präsident Donald Trump setze kaum jemand Hoffnung.

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Überleben heißt für viele Ukrainer*innen nicht nur, zwischen Kompromiss und Hoffnung abzuwägen – sondern ein Dach über dem Kopf zu finden. Rund 3,8 Millionen Menschen sind Binnenflüchtlinge. In der Stadt Kamjanske mit etwa 240 000 Einwohner*innen, etwa sechs Autostunden östlich von Kiew, leben derzeit etwa 40 000 Geflüchtete, verteilt auf sechs Geflüchtetencamps. Ein kleineres, staatlich finanziertes beherbergt rund 180 Menschen, vorwiegend Familien und Ältere. Dutzende weiße Container sind über das Areal verstreut, verbunden durch Kieswege. Das Notwendigste wird von Behörden gestellt, Freiwillige und Nothilfeorganisationen bringen gelegentlich weitere Unterstützung.

Bei Plänen für die Zukunft kommen ihr die Tränen

In einem der Container wohnen Yulia und Deniz mit ihren zwei Kindern auf sechs Quadratmetern; ihren vollen Namen wollen sie nicht veröffentlicht sehen. Sie sind seit anderthalb Monaten im Camp und flüchteten aus der Stadt Dobropillja, etwa zehn Kilometer von der Front entfernt. „Wir waren die letzten, die mit unseren Autos die Stadt verlassen konnten“, sagt Yulia. Luftangriffe und Überwachungsdrohnen hätten danach weitere Evakuierungen unmöglich gemacht. Auch bei ihnen sei es knapp gewesen. Deniz zeigt auf seinem Smartphone ein Bild von einer russischen Rakete, die durch das Dach des Hauses seiner Mutter schlug und nicht explodierte. Hat die Familie Pläne? Yulia kommen die Tränen bei dieser Frage.

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Im Nachbarcontainer wohnt die 78-jährige Svetlana aus Bachmut. Sie ist allein und hat keinen Ort mehr, wo sie hingehen kann. Sie verlor ihren Sohn bei den Kämpfen, ihr Mann starb schon Jahre zuvor.

Was passiert mit den Menschen, die nicht mehr fliehen konnten? Rund 20 Prozent der Ukraine sind von Russland besetzt. Onysiia Syniuk vom Kiewer Menschenrechtszentrum Zmina beschäftigt sich mit den Folgen für die dortige Zivilbevölkerung. „Es geht nicht nur um einen Regierungswechsel, und die Menschen leben weiter wie zuvor“, sagt die Juristin. Sie berichtet von willkürlichen Verhaftungen, Folter und dem Verschwindenlassen von Regimegegner*innen in den besetzten Gebieten. Eine freie Zivilgesellschaft existiere nicht mehr, das betreffe etwa Journalist*innen, Gewerkschafter*innen und auch religiöse Gruppen. „Entweder ist eine Organisation vom Regime kontrolliert und unkritisch – oder sie muss in den Untergrund.“

Die Zusammenarbeit mit Menschen in Russland sei möglich

Zwischen Repression, Flucht und Müdigkeit bleibt die Frage: Kann es überhaupt eine Zukunft geben – und wie könnte Versöhnung aussehen? „Russland müsste dafür als Erstes anerkennen, dass es Fehler gemacht hat“, sagt Onysiia Syniuk. Erst dann könne man über Rechenschaftspflicht, Reparationen und Sicherheitsgarantien sprechen. „All das sehe ich derzeit aber nicht.“

Jewhen Sacharow von der Kharkiv Human Rights Protection Group betont, dass eine Zusammenarbeit mit Menschen in Russland möglich sei. In der Kampagne „People first“ hatte er sich gemeinsam mit russischen Menschenrechtsanwält*innen für die Freilassung aller Gefangenen eingesetzt. „Es gibt im Land Menschen, die helfen wollen und ukrainische Gefangene unter hohem Risiko unterstützen“, sagt er. Diese Gewissheit stütze sich auf viele Jahre gemeinsamer Kämpfe.

Doch die Kämpfe toben anderswo. Anfang September folgt erneut ein russischer Luftangriff – der heftigste seit Kriegsbeginn. Mehr als 800 Drohnen und Raketen schlagen ein. Wieder suchen Menschen Schutz, etwa im Keller in Kiew. Im Morgengrauen steigt Rauch von einem Regierungsgebäude auf, Dutzende Häuser brennen. Drei Menschen sterben, darunter eine Mutter und ihr Baby. Die einzige Gewissheit: der Wunsch, zu überleben.

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