Krieg | „Sand und Zeit“ von Alexander Kluge: Die Baustelle welcher Vernunft

Manche Filme von Alexander Kluge blättern sich förmlich wie Bücher auf, sehr ordentlich „lesbar“, wie man so sagt, und manche Bücher von Alexander Kluge laufen eher wie ein Film vor einem ab, als Fluss von Wahrnehmungen und Gefühlen. Es ist ein nur auf den ersten Blick sehr einfacher Trick: Alexander Kluge behandelt Bilder, als wären es Texte, und Texte, als wären es Bilder.

Und wenn man das beides übereinanderlegt, entsteht etwas ganz Eigenes, eine Art Bilderdenken, das sich über die gewohnten Medienregeln hinwegsetzt. Übrigens kommt ein Drittes hinzu, auch in diesem Buch, eine Form des Gesprächs, das nichts mit „Interviews“ oder „Statements“ zu tun hat, sondern es ermöglicht, Menschen beim Denken zuzuhören.

Sand und Zeit ist ein KopfKinoBilderBuch mit Texten, und mit ganz direkten Verlinkungen zu Filmen. Und es ist natürlich ein philosophisches Buch, sonst hätte die Heidegger-Travestie ja wenig Bedeutung. Hat sie aber. Aus dem abstrakten, aber fest behauptbaren „Sein“ ist der sinnliche, aber verwehende Sand geworden. Oder etwas, das noch weniger als Sand ist, ein Staub, der sich nicht einmal mehr für Spielplätze als Rohstoff eignet. Etwas, das zu nichts mehr zu gebrauchen ist, so gründlich zerstören die Waffen in Gaza und Kiew.

Und Alexander Kluge, der Listenreiche, nimmt uns nun mit auf eine Reise hinter die Erstarrungen zwischen Propaganda und Empörung, die uns angesichts der aktuellen Ereignisse befallen mag: der Aufstieg neuer imperialer Mächte, die Kriege, die in ihrem Namen oder in ihrem Schatten geführt werden, der Niedergang der im 17. und 18. Jahrhundert begonnenen „Baustelle der Vernunft“ namens Aufklärung, die große Verblendung der autokratischen Reaktion. Nur dass man hier einen Schritt zurücktritt, manche Dinge von Weitem sieht (wie etwa den Krieg, die Macht, die Ausbeutung), aus der Geschichte, aus den Bildern, aus den Ideen. Um zu verstehen, was mit uns geschieht, derzeit, muss man sich vielleicht auf die eine oder andere Irrfahrt des Denkens und der Empfindungen einlassen.

Manches knüpft an ein vorheriges, mehr textbasiertes Projekt an, allerdings auch das eine „Materialsammlung“. Wenn Die Republik der Tiere in uns etwas Aus dem Bauhaus der Natur (Wallstein 2025) erzählte, dann geht es in Sand und Zeit noch einmal ins „Bauhaus der Vernunft“, so beklagenswert sein Zustand sein mag. Leitmotive aus Alexander Kluges umfangreichem Werk tauchen auch jetzt wieder auf, wie der Elefant („Werkzeug“ im Krieg zwischen Rom und Karthago, der genauso sinnlos war wie die Kriege der Gegenwart), der festen Boden unter den Füßen signalisiert, im Gegensatz zu den Trapezkünstlern, die „glauben machen wollen, sie könnten fliegen“.

Dies wiederum führt zum Reformzirkus im Film Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos aus dem Jahr 1968. In Alexander Kluges Denken, glaube ich, haben die Dinge eine enzyklopädische Beziehung zueinander. Sie sind durch ihr Nebeneinander-Stehen bestimmt, und beständig beobachtet man dabei, wie sie näher aneinanderrücken, oder sich voneinander entfernen. Bilder zum Beispiel. Sein berühmter Satz von den Dingen, die umso ferner zurückschauen, je näher man sie ansieht (Deutschland zum Beispiel), lässt sich auch umkehren: Manche Dinge muss man von Ferne anschauen, um sie deutlicher zu sehen (den Krieg zum Beispiel).

Man sollte sich derzeit auf die eine oder andere Irrfahrt des Denkens einlassen

Beide Projekte beginnen mit etwas, das man zunächst beinahe als Trost in dieser finsteren Zeit ansehen kann. Das Bauhaus der Natur mit Adornos Satz aus der negativen Dialektik: „Im Einzelnen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als (…) so zu leben, dass man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein“. Das „Bauhaus der Vernunft“ in Sand und Zeit steht im Zeichen der Versicherung: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert.“

Die Bilder, Fundstücke, Zitate, Pastiches, manches mit Kluges „virtueller Kamera“ der KI erzeugt, die Textpassagen, das längere Gespräch mit dem Historiker Pedro Barceló über das Bild Die Übergabe von Breda von Diego Velázquez fügen sich, unter Mitarbeit der Lesenden und der Sehenden, zu einer Gegenerzählung zur herrschenden Medienflut von der endzeitlichen Destruktion. „Der wahre Herrscher ist derjenige, der langfristig und dauerhaft gesicherte Verhältnisse gewährleisten kann. Es geht um die Machtlosigkeit der Waffen trotz aller Zerstörung, die sie anrichten können.“ (Barceló)

Ein anderer Bezugspunkt für Sand und Zeit ist die „Kriegskartothek“, die einst Aby Warburg angelegt hat, eine umfangreiche Sammlung von Bildern zum Ersten Weltkrieg, die später zu großen Teilen Opfer des Zweiten wurde. Vom „Schiffsuntergang der Zivilisation“ bleiben Bilder von dorischen Säulen, die von Maschinengewehren durchlöchert wurden, Pferden mit Gasmasken, einem Maschinengewehr, das die äußere Form einer Stechmücke hat, dazwischen der Kriegselefant als Modell für den Panzer. Vielleicht muss man die Bildersprache des Krieges verstehen, wenn man an der Baustelle der Vernunft an einem Gegenmodell arbeiten will, das über die plötzliche Militarisierung der Wahrnehmung und die ratlose Empörung hinausgeht.

Sand und Zeit, das aus der im Untertitel benannten „offenen Baustelle der Vernunft“ stammt, ist ein dringend benötigtes Mittel gegen die Empfindung der Ohnmacht, eine Aufforderung, sich der allfälligen Kriegsproduktion entgegenzustellen: „Nichts weniger als solche Neuproduktion von Geist und Praxis, also ein ERWEITERTES BAUHAUS, ist Anti-Kriegs-Produktion. Kriege sind etwas Produziertes – von niemandem und keinem Ziel beherrschte Produktion. Der Gegenpol sind nicht Wünsche und guter Wille wie im Pazifismus. Es geht um GEGENPRODUKTION: (1) Gegenöffentlichkeit, (2) Gegenerzählung, (3) Gegenpraxis, (4) Anti-Kriegs-Produktion. Wie es im Roman heißt: ‚Das ist ein weites Feld.‘“

Und so wenige Menschen, es zu bestellen! In finsteren Zeiten ist die Baustelle der Vernunft ein prekärer Ort.

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