Krieg in Nahost: Zwei Feinde, zwei Ideen vom Bösen

Tom Khaled Würdemann schreibt seine Dissertation über palästinensische Geschichte im Graduiertenkolleg „Ambivalente Feindschaft“ der Universität Heidelberg. Er engagiert sich seit mehreren Jahren auch pädagogisch gegen Rassismus, Antisemitismus und Extremismus.

Kürzlich unterhielt ich mich mit
einem israelischen Soldaten. Den jungen Offizier, im zivilen Leben Student,
lernte ich im Juni auf einer universitären Konferenz kennen. Verbittert
berichtete er von seinen Erfahrungen im Krieg: In Gaza sehe man Ausgaben
von Hitlers Mein Kampf. „Sie sind erzogen, uns zu hassen“, sagte er über
die Palästinenser, gegenüber seiner eigenen Gesellschaft war er ebenfalls
desillusioniert: „Den meisten Israelis ist egal, wie viele Menschen in Gaza
sterben.“

Spricht man mit Leuten wie ihm oder
auch mit Geflüchteten aus Gaza, die ihr Aufwachsen unter der Herrschaft der
Hamas reflektieren, wird augenfällig, dass zwei klar unterscheidbare Arten von
Feindschaft den Israel-Palästina-Konflikt prägen. Auf der palästinensischen
Seite folgt sie häufig der dämonisierenden Logik des Antisemitismus: Den Feind sehen
viele Palästinenser als übermächtig und schwach zugleich. Mit seiner Heimtücke
kann es keinen Kompromiss geben, sein Leid wird bejubelt. Auf der israelischen
Seite wiederum folgt Feindschaft oft der dehumanisierenden Logik des Rassismus:
Viele Israelis ignorieren das Leid ihrer Feinde und weisen jede Verantwortung
dafür zurück. Die Vorstellung, Menschen auf beiden Seiten gleichwertig zu
behandeln, tun diese Israelis als Naivität ab.

Der Autor und Wissenschaftler Tom Khaled Würdemann

Wer den Konflikt so betrachtet,
rückt davon ab, starre Täter- und Opfergruppen auszumachen. Oft wird behauptet,
die Situation in Israel und Palästina sei einseitig auf ideologische Motive wie
„Judenhass“ oder „siedlerkolonialen Rassismus“ zurückzuführen. Die bessere
Erklärung ist, dass dort schlichtweg zwei Nationalbewegungen um ein Land
kämpfen. Entstanden ist dieser Konflikt aus dem Zusammenstoß zweier
staatenloser Gruppen in der Phase des Spätimperialismus. Ideologien bilden
jedoch den wichtigsten Treibstoff, der die Flamme des territorialen Konflikts
weiter anfacht. Diese Treibstoffe wiederum unterscheiden sich deutlich:
Idealtypisch folgt ideologische Feindschaft auf der israelischen Seite den
Mustern des Rassismus als eines Ressentiments „nach unten“. Auf der
palästinensischen Seite dagegen dem Antisemitismus als eines Ressentiments
„nach oben“. Das hat ideengeschichtliche Gründe, ist aber auch mit der
asymmetrischen Struktur des Konflikts erklärbar, die jene Ideologien
(scheinbar) bestätigt.

Der moderne Antisemitismus
betrachtet die Verfolgung der Juden als eine Auflehnung gegen die Kräfte, die
unsere Welt im Geheimen kontrollieren. Anderen Menschen sind die Juden in
dieser Ideologie nicht unterlegen, sondern auf dämonische Weise überlegen. Sie
stehen in der antisemitischen Kosmologie im Zentrum der Welt. „Die Juden sind
die heimlichen Feinde aller Völker“, schrieb etwa der türkische Faschist Nihal
Atsız in einem Brief. Das Ende der Juden wäre demnach ein Triumph des Guten,
eine Erlösung der Menschheit. Auch zur Kultur des palästinensischen Dschihadismus
gehört eine Tradition des Jubels über den Tod selbst einzelner Israelis durch
terroristische Attacken. Diese werden gerade nicht verschwiegen, sondern als
Meilensteine auf dem Weg zum immer kurz bevorstehenden Sieg verewigt. Denn
trotz ihrer Macht seien die Juden letztlich schwach gegenüber den vereinten
Kräften des „Volkes“.

Diese Motive prägen den modernen
Antisemitismus, der in Europa entstand. In den Nahen Osten wurde er ab dem
späten 19. Jahrhundert importiert – gerade durch gebildete Schichten, die
Zugang zu europäischen Diskursen hatten. Verfestigt hat er sich vor allem durch
den Israel-Palästina-Konflikt. Dort bot er der arabischen Seite eine
Deutungsschablone, die dem Konflikt um das Land mit der jüdischen
Nationalbewegung einen scheinbaren Sinn verlieh.

Der einst in Jaffa tätige Priester
Boulos Abboud beispielsweise klagte im Jahr 1921, der Zionismus strebe die
Alleinherrschaft über das arabische Palästina an. Im damaligen historischen
Moment war das eine korrekte Beobachtung. Abboud verband sie allerdings mit
einer antisemitischen Deutung: Die verächtlichen Juden würden immer Pläne schmieden,
andere Völker zu unterjochen. Nur solange sie keine Macht besäßen, seien sie
gezwungen, diese zu verbergen. Der christlich-arabische Nationalist Naguib
Azouri charakterisierte schon 1905 den beginnenden arabisch-jüdischen Konflikt
als Kampf zwischen Völkern, die „entgegengesetzte Prinzipien“ repräsentierten,
nämlich Gut und Böse. Am Ausgang des Konflikts entscheide sich „das Schicksal
der Welt“. 

Dieses dialektische Muster von
Übermacht und Verächtlichkeit wirkt insbesondere im heutigen Islamismus
ungebremst. „Israel ist schwächer als ein Spinnennetz“ lautet eine Parole der Hisbollah – die Macht der Juden sei letztlich eine Illusion, entstanden durch
Verschwörungen. In diesem Weltbild stellen sich die Juden gleichzeitig als
übermächtiger Feind und als niedrige Opfer dar. Solcher Antisemitismus kennt
keinen Kompromiss mit Israel. Wie kann man Frieden schließen mit den heimlichen
Drahtziehern des Übels, deren Machenschaften doch ein Ende gesetzt werden muss?

Im Gegensatz dazu betrachtet der
moderne Rassismus sein Objekt als minderwertig. Der unterlegene Mensch mag
körperlich stark sein, aber wie den Ochsen auf dem Feld lenkt der überlegene
Mensch ihn mit mittels seiner Klugheit. Ein Zusammenleben ist möglich, solange
die Hierarchie klar ist. Wenn diese Versuche fehlschlagen – oder der
vermeintlich Wilde gar in der Offensive ist –, muss er weichen oder zerstört
werden. Das Gefühl der Bedrohung durch „minderwertige“ Gruppen, ob ethnisch
oder kulturell definiert, äußert sich oft als Angst vor einer „Überflutung“
oder einem „Hereinbrechen der Natur“ in die zivilisierte Gesellschaft, die sich
selbst durch Abgrenzung zu den vermeintlichen Barbaren definiert. 

Der frühe Zionismus blickte
paternalistisch auf die arabische Bevölkerung in Palästina. Theodor Herzl, der
Vordenker der jüdischen Nationalstaatsbewegung, glaubte, dass die Araber den
Zionismus mit Dankbarkeit empfangen würden. Die Herablassung ist darin bereits
angelegt; vor dem Zionismus hätten die Araber wie „Vieh“ gelebt, schrieb Herzl
in seinem Roman Altneuland von 1902. Die vom britischen Kolonialismus
unterstützte zionistische Bewegung der 1920er-Jahre entwarf ebenfalls eine
positive Vision des zukünftigen Zusammenlebens. Trotzdem sprach sie – noch vor
dem Aufkommen von Teilungsplänen – der arabischen Mehrheit in Palästina, die zu
dem Zeitpunkt 85 Prozent der Bevölkerung im Mandatsgebiet Palästina betrug, ein
politisches Selbstbestimmungsrecht in ihrem Land ab. Oft sprachen die frühen
Zionisten abwertend von den Palästinensern als „unzivilisierte Beduinen“ und „ignorante
Fellachen“.

Tom Khaled Würdemann schreibt seine Dissertation über palästinensische Geschichte im Graduiertenkolleg „Ambivalente Feindschaft“ der Universität Heidelberg. Er engagiert sich seit mehreren Jahren auch pädagogisch gegen Rassismus, Antisemitismus und Extremismus.

Kürzlich unterhielt ich mich mit
einem israelischen Soldaten. Den jungen Offizier, im zivilen Leben Student,
lernte ich im Juni auf einer universitären Konferenz kennen. Verbittert
berichtete er von seinen Erfahrungen im Krieg: In Gaza sehe man Ausgaben
von Hitlers Mein Kampf. „Sie sind erzogen, uns zu hassen“, sagte er über
die Palästinenser, gegenüber seiner eigenen Gesellschaft war er ebenfalls
desillusioniert: „Den meisten Israelis ist egal, wie viele Menschen in Gaza
sterben.“

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