Die Explosionen sind dumpf und laut. An Schlaf ist plötzlich nicht mehr zu denken. Das Handy mit der Alarm-App war noch auf stumm gestellt, um den Ballettabend in der Oper von Kiew wenige Stunden zuvor nicht zu stören. Das Publikum hatte dem „Grand Kyiv Ballet“ bei der Aufführung von „Don Quichotte“ begeistert zugejubelt – voller Dankbarkeit für die Ablenkung. Nun aber beginnt für die ukrainische Hauptstadt das Kontrastprogramm durch Putins Bomben.
Die Warnungen der App zu überhören – ein Anfängerfehler in der Ukraine! Auf meinem Handy-Bildschirm stauen sich schon die Nachrichten über die Angriffswellen durch Drohnen, ballistische Raketen und Marschflugkörper. Insgesamt 450 solcher Flugobjekte gehen in dieser Nacht auf Samstag auf die ukrainische Hauptstadt nieder.
Badezimmer oder Schutzraum?
Zunächst entscheide ich mich, im neunten Stock meines Hotels im Stadtzentrum erstmal im Badezimmer auszuharren. Doch die Explosionen und die Stimme der Warn-App geben keine Ruhe. Also dann lieber doch in den Aufzug, der dank der Ersatz-Generatoren auch funktioniert; danach den roten Pfeilen folgen, die auf jedem Flur den Weg in den Schutzraum im Keller des Hotels weisen. Dort ist es schon richtig voll, mehrere Dutzend Menschen kauern auf Sitzsäcken, sitzen auf Stühlen oder haben sich auf einem der bereitgestellten Klappbetten ausgestreckt.
In dem verwinkelten Raum ist es eng, stellenweise schummrig oder gleißend hell wegen der Neonröhren. Doch verglichen mit den Schutzräumen der meisten Kiewer ist es ein Luxus-Shelter. Das Personal hat sogar für Bettbezüge, Kopfkissen und Decken gesorgt. Es ist auch nicht kalt. Alle schweigen, starren auf die Telegram-Nachrichten über die sich nähernden Gefahren; einzelne verlassen nach einer Weile wieder den Raum, ich bleibe vier Stunden. Zehn Minuten nach dem Aufheben des Luftalarms um fünf Uhr morgens ist die Hotelrezeption schon wieder besetzt und grüßt freundlich.
Sechs Tote, dutzende Verletzte
Es war einer der schwersten Angriffe der vergangenen Wochen mit sechs Toten und mindestens zwei Dutzend Verletzten. Der Zermürbungskrieg Putins geht weiter. In der Bevölkerung richtet er nicht nur Schäden an Leib und Leben an, sondern auch psychologische Leiden, die ihrer Gesamtheit wohl noch gar nicht absehbar sind. Dennoch scheint ein großer Teil der Bevölkerung von Kiew gelernt zu haben, damit umzugehen – den Umständen entsprechend. Die unterirdischen Schutzräume sind der Schlüssel fürs Überleben, sei es in der Metro oder in Parkgaragen.
Private Universitäten, die vergleichsweise wohlhabend sind, setzen die Vorlesungen in ihren Kellerräumen fort. Die Aufführungen im Opernhaus beginnen schon um 17 Uhr, damit Zeit für Unterbrechungen durch Luftalarm bleibt. Der Lebensmittelmarkt an der U-Bahnstation Lukianivska, neben dem in unmittelbarer Nähe ein Haus schwer zerstört wurde, ist am Freitag schon wieder ein belebter Ort. Ein Süßwarengeschäft hat geöffnet, obwohl es keine Fenster mehr hat; die Verkäuferinnen sitzen in dicken Jacken an den Kassen. Nebenan werden die geborstenen Scheiben durch Holzspanplatten ersetzt.
Manche Kiewer verweigern sich der Disruption. Sie suche keinen Shelter auf, denn sie wolle Putin nicht den Gefallen tun, ihr Leben so auf den Kopf zu stellen, berichtet eine Professorin. Für andere ist der nächste Schutzraum auch zu weit entfernt. Ein Wirtschaftsprofessor schildert, wie er die zahlreichen Warn-Apps über die heranfliegenden Objekte so genau studiere, dass er abschätzen könne, von welcher Seite sie kommen. Dementsprechend begibt er sich in die am weitesten entfernte Ecke seines Appartements. Natürlich beachtet er dabei die Grundregel: Wegbleiben von den Fenstern!
Tennisspielen dreißig Kilometer von der Front
Weiter im Osten und im Süden des Landes sind die Ukrainer noch mehr Angriffe gewöhnt. Im Zug nach Kiew berichtet ein Wirtschaftsprüfer aus dem 30 Kilometer von der Front entfernten Saporischschja, dass er in seinem Büro schon zigmal die Fenster austauschen musste, dennoch gehe er dreimal die Woche vor der Arbeit Tennisspielen. „Das brauche ich für meine mentale Gesundheit, das lass‘ ich mir nicht nehmen.“ Als früherer Tennismeister der Stadt, der trotz seiner sechzig Jahre auf hohem Niveau spiele, gingen ihm wegen der zahlreichen Auswanderer allerdings die Gegner aus. Das Land verlassen will er jedoch nicht. Neben der Familie und der Heimatverbundenheit nennt der Mann auch einen wirtschaftlichen Aspekt: In seinem Geschäftsfeld habe er jetzt viel weniger Konkurrenten und könne über mangelnde Aufträge somit nicht klagen.
Am Tag nach dem Angriff geht das Stadtleben in Kiew also wieder seinen Gang. Die Busse sind gefüllt, die Straßen befahren, Studenten gehen zu den Vorlesungen, die Menschen zur Arbeit. Stromausfälle sind häufig, weil die Russen die Energieversorgung der Ukraine besonders stark ins Visier nehmen. Doch die Ukrainer werden über Apps präzise und aktuell informiert, in welchen Stunden sie Strom haben und in welchen nicht. Etliche Ecken der Stadt haben kaum noch Außenbeleutung, doch vor vielen Geschäften und Restaurants rattern die Generatoren für die private Stromerzeugung. „Das ist allerdings sehr teuer geworden“, klagt eine Restaurantbetreiberin und warnt ihre Gäste, dass die Lichter bald ausgingen. Dafür bringt sie Kerzen. Die sechs Restaurants ihrer Kette zu schließen, komme nicht in Frage. „Wir sind gut besucht. Die Menschen gehen weiter aus. Sie sagen sich, lass‘ uns im Jetzt leben, so gut es geht.“ Etliche ihrer Freunde seien ins Ausland gegangen, sie glaubt aber nicht, dass sie dort glücklich seien. Auswandern komme für sie nicht in Frage: „Hier ist meine Heimat, auch Putin kann mir das nicht nehmen“.