Krankschreibung: Ist „Krankfeiern“ in Deutschland zu leicht?

Rein betriebswirtschaftlich ist es für Unternehmen immer ärgerlich, wenn sich Arbeitnehmer krankmelden und nicht zur Arbeit kommen. Aber natürlich liegt es auch in ihrem Interesse, dass Betroffene eine Krankheit nicht verschleppen oder Kollegen anstecken, was womöglich auch ökonomisch noch größere Schäden nach sich zöge. Etwas anders liegen die Dinge aber, wenn ein vager Verdacht besteht, dass sich womöglich der eine oder andere Arbeitnehmer per Krankmeldung mehr bezahlte Mußetage verschafft.

Nährstoff für Diskussionen über einen solchen Verdacht liefern seit einiger Zeit zwei Faktoren: Zum einen weisen Statistiken verblüffend hohe Krankenstände der Ar­beit­nehmer aus. Und zum anderen gab es Re­geländerungen, die diesen Anstieg womöglich erklären können. Dazu zählt die Option, durch blo­ßen Anruf beim Arzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erhalten. Sie wurde in der Corona-Pandemie zunächst nur befristet eingeführt. Inzwischen aber ist die „telefonische Krankschreibung“ als dau­er­hafte Regelung festgeschrieben.

In der Wirtschaft und in den Unionsparteien regt sich nun wachsender Widerstand dagegen. Auch mit Hinweis auf viele andere Belastungen, die Unternehmen derzeit hätten, werden klare Forderungen nach einer Streichung dieser Regelung laut. „Offenbar sind die Hürden für eine Krankschreibung zu niedrig“, sag­te die Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsunion (MIT), Gitta Connemann, dazu der F.A.Z. „Dieses Relikt aus Corona-Zeiten muss abgeschafft werden.“ Es gebe auch „sinnvolle und zeitgemäße Lösungen wie Videosprechstunden, die eine exaktere Diagnose ermög­li­chen“.

Trotz entspannter Infektionslage viel Krankschreibungen

Ein aktueller Vorstandsbeschluss der MIT unterstreicht, wie dringlich die Mittelständler den Vorstoß einstufen. Und er trifft auch in der Unionsfraktion im Bundestag auf offene Ohren, wie deren stellvertretender Vorsitzender und Gesundheitspolitiker Sepp Müller deutlich macht. Man solle „in eine offene Debatte darüber gehen“, sagte er der F.A.Z. Diese Regelung sei in der Pandemie richtig gewesen. Inzwischen aber seien die Krankmeldungen auch bei deutlich entspannter Infektionslage weiter gestiegen. Es sei „richtig, zu hinterfragen, wie groß der Vorteil ist, den wir aus der telefonischen Krankschreibung ziehen“, urteilt Müller.

Tatsächlich weist das Ge­sund­heits­mi­ni­ste­ri­um für 2023 einen durch­schnitt­li­chen Krankenstand von 6,07 Prozent der Ar­beitnehmer aus – mehr als 2021 und 2022. Werte von mehr als 5 Prozent hatte es davor nur in den 1990er-Jahren gegeben. Auch für die ersten Monate dieses Jahres zeigt die Statistik einen erhöhten Krankenstand. In Teilen lasse sich dies durchaus mit substanziellen Gründen wie dem Krankheitsbild Post-Covid erklären, räumt Connemann ein. Aber es trage auch die telefonische Krankschreibung dazu bei.

Ein Drittel geht im Zweifel sicher zur Arbeit

Hinweise darauf gibt auch eine Erhebung, die die Betriebskrankenkasse Pronova BKK zu Jahresbeginn vorgelegt hat. Sie kam zu dem Ergebnis, dass sich 59 Prozent der Arbeitnehmer hin und wieder krankmelden, auch wenn sie eigentlich arbeitsfähig sind. Auf die Frage „Wie oft kommt es bei Ihnen vor?“, antworteten 10 Prozent mit „häufig“, 23 Prozent mit „manchmal“ und 26 Prozent mit „selten“. Lediglich gut ein Drittel gaben an, die sogenannte „Bettkantenentscheidung“ beim Aufstehen niemals in Richtung „Blaumachen“ zu treffen.

Direkte Vergleiche zu früheren Jahren erlaubt die Erhebung nicht, da die Frage erstmals so gestellt wurde. Es gibt aber Indizien, dass die Neigung der Beschäftigten abgenommen hat, trotz erträglicher Leiden zu arbeiten. Der BKK zufolge gingen 2018 gut 50 Prozent der Beschäftigten mit leichten Infekten zur Arbeit, 2023 nur noch 34 Prozent. Und der Anteil derer, die trotz Rückenschmerzen ihre Tätigkeit ausübten, sank von 57 auf 46 Prozent.

Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sieht die telefonische Krankschreibung schon lan­ge kritisch – umso mehr, als nicht einmal erfasst werde, ob Krankschreibungen nach persönlicher Vorsprache beim Arzt, nach einer Videosprechstunde oder telefonisch erfolgten. Letztere Option sei „in der akuten Pandemiesituation eine praktikable Ausnahmeregelung“ gewesen, sagt eine BDA-Sprecherin. „Dass sie nach dem Ende der Pandemie nun zum Dauerzustand geworden ist, ist eine Fehlleistung.“

Kein Nachteil für wirklich kranke

Basis der seit 2023 unbefristet festgeschriebenen Regelung ist eine Richtlinie des „Gemeinsamen Bundesausschusses“, eines Gremi­ums aus Ärzte- und Kassenvertretern, das den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung bestimmt. Er beschloss die Telefonoption aber nicht aus freien Stücken, die Ampelkoalition hatte ihn per Gesetz beauftragt.

Die Verbände legen Wert darauf, nicht etwa wirklich kranke zur Arbeit drängen zu wollen. Die aber, so betont die MIT in ihrem Beschluss, hätten „durch die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung keinen Nachteil: Sie sollten im eigenen Interesse eine Arztpraxis aufsuchen oder sich im Rahmen einer Videosprechstunde ärztlich untersuchen lassen.“

Statistischer Grund für den Anstieg?

Wie sehr der ungewöhnlich hohe Krankenstand die Gesamtwirtschaft belastet, zeigen auch Berechnungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Seiner Analyse zufolge war deswegen die Wirtschaftsleistung in Deutschland in den beiden vergangenen Jahren jeweils rund 1 Prozent niedriger als möglich. Die Ökonomen setzen darauf, dass mit einer Normalisierung der Krankenstände mehr Ar­beitskräfte zur Verfügung stünden, was die Wachstumsaussichten verbessern würde.

Jenseits aller medizinischen und ökonomischen Überlegungen gibt es indes noch einen Verdacht, was auch hinter den gestiegenen Krankenständen stecken könnte: Als Schritt zum Bürokratieabbau wurde 2022 ein elek­tronisches Meldeverfahren eingeführt – mit der möglichen Folge, dass nun schlicht mehr Krankmeldungen statistisch registriert werden als früher.

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