Korruptions-Enthüllungen in welcher Ukraine: Erste Rücktrittsforderung an Wolodymyr Selenskyj

Eine Verteidigungslinie des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hielt bislang besser als die Front im Donbass: das waren seine Umfragewerte. Doch gerade dort sind jetzt ungewohnte Einbrüche zu verzeichnen, wegen des Korruptionsskandals in der Energiebranche um seinen Freund Timur Minditsch.

In frischen Ratings, die noch nicht veröffentlicht sind, sei die Zustimmung für Selenskyj von rund 60 Prozent auf unter 20 Prozent gefallen, sagt der ukrainische Parlamentsabgeordnete Jaroslaw Schelesnjak. Zu Beginn des großen Krieges mit Russland im Februar 2022 hatten noch mehr als 80 und 90 Prozent der Ukrainer Zustimmung zum Präsidenten bekundet.

Nach Ansicht des Parlamentariers spielt beim Absturz der Umfragewerte des Staatschefs auch die Zentralisierung der Macht unter Selenskyj eine verhängnisvolle Rolle. Denn das Parlament, die Werchowna Rada und der Ministerrat würden in der Bevölkerung nur noch als Randgrößen wahrgenommen.

Geheime Abhörprotokolle, rund eintausend Stunden, aufgezeichnet über 15 Monate von der Antikorruptionsbehörde NABU, geben einen Einblick in das Ausmaß von regierungsnaher Kriminalität rund um den Staatskonzern „Energoatom“. Die Protokolle verraten auch, welche schwere körperliche und für die Täter belastende Arbeit mit dem Verpacken und Transportieren von 1,6 Millionen US-Dollar dem Staat gestohlener Finanzmittel ist. Das sei „kein besonderes Vergnügen“, bekennt ein Beteiligter.

Selenskyjs alter Freund und Geschäftspartner Timur Minditsch ist die Schlüsselfigur der Affäre

Hochverdächtig, am Missbrauch von Millionenmitteln maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, ist der frühere Energieminister Herman Haluschtschenko. Schon die Tatsache, dass danach seine Stellvertreterin – und Lebensgefährtin – Svitlana Grynchuk seine Nachfolgerin wurde und er zum Justizminister aufstieg, zeigt, wie effizient die korrupten Seilschaften arbeiteten. Kiewer Journalisten monieren inzwischen, dass beide auch noch Mitglieder des Sicherheitsrates waren und sich damit die Rückendeckung des Geheimdienstes verschaffen konnten.

Die Schlüsselfigur der Affäre ist Timur Minditsch, ein alter Freund und Geschäftspartner von Selenskyj aus der Unterhaltungsbranche. Beide waren Mitbegründer der TV-Produktionsfirma „Kwartal 95“. Da verdienten Selenskyj und Minditsch ihr Geld noch mit Satiren über Politik, kaum ahnend, dass der Spaß aufhören würde, sobald sie über staatliche Ressourcen verfügen würden. Minditsch, der im Umfeld von „Energoatom“ agierte, verstand nie etwas von Stromwirtschaft, aber von Geldströmen.

Sogar der „Spiegel“ wähnt Präsident Selenskyj jetzt „in Erklärungsnot“

Doch anders als Selenskyj hatte Minditsch einen Plan B. Sein israelischer Pass verhalf ihm dazu, dass er jetzt die Berichterstattung über seinen Fall im sicheren Exil verfolgen kann. Denn Israel liefert seine Staatsbürger nicht aus. Minditsch wurden nach ukrainischen Medienberichten offensichtlich aus den Rechtsschutzorganen heraus gewarnt, was auch für deren Korrumpierung spricht.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle des Inlandsgeheimdienstes SBU. Dieser Dienst bekämpfte nicht die Korrupten, sondern die Korruptionsbekämpfer, mit Durchsuchungen im Juli. Damals versuchte Selenskyj, die Antikorruptionsbehörde dem von ihm ernannten Generalstaatsanwalt zu unterstellen. Mit dem Wissen von heute fällt es schwer, dieses Agieren von krimineller Energie zu unterscheiden, die der Vertuschung von Straftaten dient.

Selenskyj wird, wie allen Bürgern der Ukraine, bekannt gewesen sein, dass die Energiebranche des Landes seit den Neunzigerjahren ein breiter und tiefer Sumpf von Korruption war. Jeder schauspielerische Versuch, hier den Ahnungslosen zu geben, wäre in der Ukraine kein Publikumserfolg. Daher konstatiert auch die Hamburger Zeitschrift Spiegel, bislang eher eine Suchmaschine für entlastende Argumente zugunsten von Selenskyj, der Präsident befände sich jetzt „in Erklärungsnot“.

Bisher gibt es zwar keine Indizien, dass Selenskyj sich persönlich bereichert hat. Offene Fragen aber betreffen seinen Administrationschef Andrij Jermak, Selenskyjs rechte Hand. Auf seinem 50. Geburtstag gehörte Minditsch zu den Gästen. Was verbindet Jermak, den starken Mann im Selenskyj-Apparat, mit Minditsch?

Welche Rolle spielen Rustem Umerow und Andrij Jermak?

Gegen Jermak formiert sich inzwischen eine Fronde in den Reihen der Parlamentsfraktion der Präsidentenpartei „Diener des Volkes“, berichtet die unabhängige Internetzeitung Ukrainska Prawda. In der Fraktion der „Volksdiener“, so das Blatt, begehren vor allem junge Liberale gegen den autoritären Führungsstil von Jermak auf. Der Verdacht einer Nähe Jermaks zu Minditsch gibt den Frondeuren Futter. Fiele Jermak, dann wäre auch Selenskyjs Stellung geschwächt. Die Ukrainska Prawda, mit ihrer Redaktion erfahrener Rechercheure, geht davon aus, der Fall Minditsch sei nur „die Spitze eines Korruptionseisberges“. Die Affäre habe überdies bereits zur „völligen Demoralisierung des Systems, einschließlich des Parlaments“ geführt.

Die Korruptionskrise, urteilt die renommierte Kiewer Wochenzeitung Serkalo Nedeli, habe den „Kern der gegenwärtigen Macht“ um Selenskyj getroffen. Dieser Kreis habe noch im Juli durch die Ausschaltung der Antikorruptionsbehörde versucht, „die Ermittlungen in einem Blitzkrieg für immer zu beenden“. Die Macht des Präsidenten aber stehe für ein „verfaultes System“ und einen „völlig von Korruption durchsetzten Staat“. Dies sei in der Situation des Krieges besonders bedrohlich, „in einem der kritischsten Momente für die Erhaltung der Staatlichkeit“.

Minditsch sei „nicht der einzige Offizier dieser Korruptionsarmee“, schreibt die ukrainische ZeitungSerkalo Nedeli“

Serkalo Nedeli nennt Indizien, die dafür sprechen, dass auch der jetzige Chef des mächtigen Sicherheitsrates, Rustem Umerow, in seinem Amt als Verteidigungsminister bis Juli 2025 in Geschäfte mit Minditsch verwickelt gewesen sein könnte. Umerows jetzige Auslandsreisen in die Türkei und die USA, argwöhnt die Zeitung, könnten auch ein Versuch sein, sich Ermittlungen zu entziehen.

Timur Minditsch, warnt das Blatt, sei „nicht der einzige Offizier dieser Korruptionsarmee“ gewesen. Diese sei kopfstark und gestaffelt. Um die Korruption wirksam zu bekämpfen, so die Zeitung, müsse das Parlament, die Werchowna Rada, überhaupt erst wieder zum „politischen Subjekt“ werden. Denn bislang war sie, auch durch Jermaks Bemühungen, vor allem eine Abstimmungsmaschine des Präsidentenbüros.

Der Parlamentsabgeordnete Oleksij Gontscharenko schreibt: „Selenskyj sollte zurücktreten, um das Land zu retten“

Das Gesamtbild, das die wenigen unabhängigen ukrainischen Medien in diesen Tagen von ihrem Land zeichnen, ist das eines autoritären, von korrupten Clans durchsetzten Staates. Das Budget der Ukraine, so scheint es, wird zwar seit Jahren von Steuerzahlern westlicher Demokratien alimentiert. Funktionierende Kontrollmechanismen aber, mit einem System von Checks and Balances, sind dadurch nicht geschaffen worden.

Der Korruptionsskandal wird in der Ukraine schon „Minditschgate“ (Ukrainska Prawda) genannt, in Anspielung auf die Watergate-Affäre in den USA, die im August 1974 den Präsidenten Richard Nixon zu Fall brachte. Sind das mehr als nur rhetorische Parallelen?

Erstmals fordert jetzt ein oppositioneller Parlamentsabgeordneter den Rücktritt des Präsidenten. Oleksij Gontscharenko, 45-jähriger Abgeordneter der Werchowna Rada aus der Fraktion „Europäische Solidarität“, sagt angesichts des Minditsch-Skandals: „Es gibt keinen anderen Ausweg aus der Krise als den Rücktritt Selenskyjs. Er sollte zurücktreten, um das Land zu retten.“

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