Komponist Helmut Lachenmann: Der unangreifbare Außenseiter

In einer Aufführung von Bruckners Siebter, auf dem Höhepunkt des Adagios, soll Wilhelm Heinrich Riehl, Journalist, angesehener Kulturtheoretiker und Autor der Schrift „Musikalische Charakterköpfe“, laut „Pfui!“ gerufen haben. Und die Dritte rief bei der Uraufführung laut Zeitzeugen eine „zischende und lachende Menge“ auf den Plan. Ein Jahrhundert später hat Helmut Lachenmann ebensolche Aggressionen erlebt. So etwa 1976 in Saarbrücken mit „Accanto“ für Klarinette und Orchester.

Es ist ein klingender Kommentar zu Mozarts Klarinettenkonzert, das inmitten eines Meers von akkuraten Geräuschklängen einige Male wie aus weiter Ferne vom Tonband erklingt. Glaubt man der blumigen Schilderung des Uraufführungsinterpreten Eduard Brunner, so ging danach „jedes Mal der Radau los“. Solche Attacken steckte Lachenmann mutig weg. Seine Einstellung glich derjenigen von Bruckner, der gesagt haben soll: „Die sollen schreien, so viel sie wollen! Wenn das, was ich schreibe, gut ist, wird es bleiben; wenn nicht, wird es zugrunde gehen.“

Zwei Solitäre, die sich vom Unverständnis, das ihnen entgegenschlug, nicht irritieren ließen und schließlich musikalische Marksteine setzten. Mit dem Unterschied, dass Bruckner der einsame Solitär geblieben ist, während Lachenmanns Werke zu Paradigmen eines neuen Komponierens geworden sind. Sein Einfluss auf das Musikdenken des ausgehenden 20. Jahrhunderts war enorm, und spätestens mit der Verleihung des Ernst-von-Siemens-Musikpreises 1997 wurde aus dem geächteten Außenseiter ein mit Preisen überhäufter, perfekt vernetzter und unangreifbarer Komponist. Eine kompositorische und moralische Autorität; einer, der auch heute noch gern in den Ring steigt, wenn es um die Verteidigung der Privilegien für die neue Musik geht. Zum Wandel trug die bei Veranstaltern wachsende Akzeptanz seiner nicht gerade einfachen Musiksprache ebenso bei wie sein begriffsscharfer, bisweilen polemisch zugespitzter Umgang mit der Sprache. Seine Texte, die sich ebenso fundiert mit Fragen zum Metier wie mit Überlebensfragen unserer Musikkultur befassen, füllen inzwischen zwei dicke Bände. Und nebenbei spuren sie auch für die „richtige“ Rezeption seiner Musik post mortem vor; Komponisten wie Wagner und Stockhausen haben es vorgemacht.

Das zur Ware gewordene Werk

Stein des Anstoßes bei „Accanto“ war Lachenmanns Konzept von Schönheit – ein Thema, das von der Avantgarde bis dahin tabuisiert worden war. Seine Thesen hatte er 1976 im Vortrag „Zum Problem des musikalisch Schönen heute“ dialektisch brillant formuliert. In „Accanto“ wird die Theorie quasi hörbar gemacht. „Zerstörerischer Umgang mit dem, was man liebt, um sich dessen Wahrheit zu bewahren“, so beschrieb er sein Verfahren. „Das Mozartsche Klarinettenkonzert ist mir Inbegriff von Schönheit, Humanität, Reinheit, aber auch – und zugleich – Beispiel eines zum Fetisch gewordenen Mittels zur Flucht vor sich selbst.“

In einer Gesellschaft, die ihre humanen Werte verraten habe, sei das Werk zur Ware geworden, und darüber wolle er mit seinem Stück aufklären. Eine Provokation sondergleichen für das philharmonische Publikum, das für derartige Reflexionen unempfänglich war. Aus ihr sprach der kritische Geist des Achtundsechzigers, geschult an den Schriften von Adorno und Lukács. Doch hinter der revolutionären Oberfläche versteckte sich ein der großen Vergangenheit ungerührt nachtrauernder Zeitgenosse, was er 2005 am Beispiel der von ihm bewunderten „Alpensinfonie“ von Richard Strauss verdeutlichte: In ihrer Grandiosität sei sie „eine Abschiedsfeier von einem nur noch scheinbar intakten, zur Attrappe gewordenen Weltbild“.

Ist Helmut Lachenmann ein „politischer Komponist“? Bei seiner 1997 in Hamburg uraufgeführten Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ nach Andersen könnte man das beinahe glauben. Hinter der Gestalt des in der realen – und sozialen! – Kälte frierenden Mädchens lässt der schwäbische Pfarrerssohn Lachenmann momenthaft das Porträt der schwäbischen Pfarrerstocher und Terroristin Gudrun Ensslin aufscheinen. Pietistische Mitleidsgeste und RAF-Epitaph fallen in eins. Bei der kulturellen Linken der alten Bundesrepu­blik hatte die Oper Kultstatus.

Vom tonlosen Blasen bis zum Klappenschlag

Zwar ist Lachenmanns Werk reich an verklausulierten politischen Aussagen, aber er war nie ein Verkündiger politischer Botschaften. Er richtete den kritischen Impuls auf die kompositorische Praxis selbst, auf das klingende Material und seine Wahrnehmungsformen. Gelernt hatte er dieses kompromisslos selbstreflexive Denken im Unterricht bei Luigi Nono in Venedig Ende der Fünfzigerjahre.

Im Zentrum seines Schaffens stand stets die Erforschung des Klang- und Geräuschspektrums der Instrumente jenseits des von ihm als korrumpiert empfundenen „schönen Tons“. Gemeinsam mit Eduard Brunner erkundete er deshalb die Schönheiten des Geräuschs auf der Klarinette, vom tonlosen Blasen bis zum Klappenschlag. Das Resultat ist im Solostück „Dal niente“ von 1970 zu hören. Im Cellosolo „Pression“ wandte er seine Kompositionsmethode erstmals auf ein Streichinstrument an. Damit war ein neuer Typus von Instrumentalmusik geboren. Lachenmann kreierte dafür den Begriff „Musique concrète instrumentale“ und erfand dazu eine Notation, die die Aktionen am Instrumentenkörper mit größtmöglicher Genauigkeit definiert.

Der neuen Musik wurden damit neue Horizonte eröffnet. Eine nachrückende Musikergeneration lernte durch die erweiterten Spieltechniken das Instrument neu entdecken, in den Kompositionsklassen der Musikhochschulen wurde plötzlich nach Rezept „Lachenmann“ unterrichtet – eine Fetischisierung seiner Kompositionspraktiken, die ihm selbst unheimlich wurde. Tausendfach kopiert, sind sie heute alltäglich, ist ihr kritischer Stachel stumpf geworden.

Er selbst hat seine Methoden indes verfeinert. Im Kontext der Geräuschklänge treten vermehrt reine Tonhöhen und diskrete harmonische Wirkungen hervor, unmerklich öffnen sich Fenster zur Tradition. Alles dialektisch gebrochen, versteht sich. In der für das Ensemble Modern geschriebenen Komposition „Concertini“ schimmert das Modell des barocken Concerto grosso durch, in „My Melodies“, dem jüngsten, 2023 revidierten Orchesterwerk mit acht Solohörnern, sorgt der Blechbläsersound für philharmonische Glanzlichter. Anzeichen einer Rückkehr ins traute Heim des „schönen Tons“? Der mit dem heutigen Tage Neunzigjährige würde sich unwirsch dagegen verwahren.

Source: faz.net