Kommunen | In NRW füllt AfD den Platz, den ihr die SPD überlässt. Wie dies zu ändern wäre

Es ist noch Sommer, als ich in Essen, Düsseldorf, Köln und Duisburg aus der Bahn steige. Zwei Tage werde ich mit Menschen auf der Straße sprechen, was sie politisch bewegt und was sich ändern muss. Meist dauert es einen kurzen Augenblick, bis die Angesprochenen auftauen und Vertrauen zu mir fassen. Dann passieren zwei erstaunliche Dinge.

Erstens freuen sie sich, dass sie nach ihrer Meinung gefragt werden. Meist werden sehr spezifische Probleme artikuliert, die mit der Lebensrealität der jeweiligen Person eng zusammenhängen; die Hundehalterin spricht über Freiflächen für Hunde, Gewerbetreibende artikulieren diesbezügliche Probleme, junge Leute beklagen schlechte Jobaussichten. Einige Themen treten jedoch immer wieder auf: Sauberkeit und Sicherheit in den Städten verbessern, zuverlässiger öffentlicher Personennahverkehr, mehr Tun für das soziale Miteinander, Preise und finanzielle Belastungen senken.

Die zweite Beobachtung ist ein Realitätscheck für alle, die sich täglich mit Politik auseinandersetzen: Allein das Wort „Politik“ nur in den Mund zu nehmen, löst bei den Befragten bereits eine Abwehrhaltung aus. „Was wünschst du dir von der Politik?“ – „Politik? Puh, da kenne ich mich nicht aus“, „Politik … ne, ne … schönen Tag noch.“

Stärkste Partei? Nichtwähler

Dieses Ergebnis meiner nicht repräsentativen Mini-Feldstudie liefert bereits einen Ansatzpunkt für die Wahlbeteiligung zur Kommunalwahl am 14.09. in Nordrhein-Westfalen. Fast 14 Millionen Bürgerinnen und Bürger waren zur Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland aufgerufen. Nur 56 Prozent gingen allerdings tatsächlich an die Urnen. Das ist zwar eine höhere Wahlbeteiligung als bei der letzten Wahl vor fünf Jahren, nichtsdestotrotz wäre die siegreichste Partei die Partei der Nichtwähler.

Die CDU ist klare Wahlgewinnerin mit 33,3 Prozent (-1 Prozent), gefolgt von der SPD mit 22,1 Prozent (-2,2 Prozent). Die Grünen fahren nach einem Allzeithoch die höchsten Verluste ein und landen bei 13,5 Prozent (-6,5 Prozent), während sich die AfD auf 14,5 Prozent verdreifacht (+9,4 Prozent). Der Linken gelingt ein flächendeckender Einzug in die Kommunalparlamente mit 5,6 Prozent (+1,8 Prozent). Das ist eine gute Basis, um 2027 den Wiedereinzug in den Landtag in Angriff zu nehmen, aber weniger, als manche sich kurz vor der Wahl erhofft hatten.

In den Umfragen zur aufkommenden Landtagswahl 2027 rangiert die nordrhein-westfälische CDU unter Ministerpräsident Hendrik Wüst bei 35 Prozent, während die SPD, die bei der Landtagswahl 2022 mit 26,7 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis einfuhr, nur noch bei 18 Prozent steht. Gemessen an diesen Zahlen scheint die Kommunalwahl für die Genossen noch glimpflich ausgegangen zu sein. Füße hochlegen ist allerdings vor allem angesichts des AfD-Ergebnisses nicht angebracht.

Hochburgen der AfD sind Industrieregionen

Bis heute wird die AfD als Problem des Ostens angesehen. Das stimmte vor der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen nicht und nach ihr noch viel weniger. In absoluten Zahlen betrachtet, wählen im Westen deutlich mehr Menschen die AfD als im Osten. Besondere Hochburgen der AfD sind Industrieregionen, die durch Transformation gekennzeichnet sind – und eigentlich Hochburgen der SPD waren oder sind. In Gelsenkirchen etwa holt die SPD 30,4 Prozent, die AfD 29,9 Prozent, was einem Plus von 17 Prozent entspricht. Das ist Wahnsinn.

Die Stärke der AfD in den Industrieregionen hängt mit dem Strukturwandel zusammen, mit abgebauten oder gefährdeten Arbeitsplätzen – vorrangig am Standort Duisburg stehen aktuell bei Thyssenkrupp erneut 11.000 Arbeitsplätze zur Disposition. Bei der Stichwahl zum Bürgermeister wird der SPD-Kandidat Sören Link mit einem AfD-Mann um das Amt ringen. Link hat allerdings mit 46 Prozent einen großen Vorsprung vor der AfD mit 19,7 Prozent. In Gelsenkirchen steht Andrea Henze von der SPD mit einem AfD-Politiker in der Stichwahl. Henze holte mit 37 Prozent zwar mehr als ihre Partei, der AfD-Kandidat kratzt allerdings ebenfalls an den 30 Prozent. Damit kann der AfD an einzelnen Orten quasi Volksparteistatus zugeschrieben werden.

Nicht nur Nichtwähler und enttäuschte Unionsanhänger, auch vormalige Stammwähler der SPD setzen zunehmend ihr Kreuz bei der AfD. Es sind also gar nicht so sehr die Geringverdiener oder Prekären, die AfD wählen, sondern jene, die verglichen mit dem Dienstleistungsproletariat besser bezahlte Industriejobs haben. Ökonomische Unsicherheiten, mangelnde Perspektiven und die Angst vor dem Abstieg machen das klassische Arbeitermilieu anfällig für die AfD, wie zahlreiche soziologische Studien immer wieder nahegelegt haben.

Marode Schulen, Lehrermangel, kaputte Straßen, miserabler Nahverkehr

Dass Arbeiter in von Transformationsprozessen betroffenen Regionen rechts wählen, muss kein Naturgesetz sein. Als entgegenwirkende Vorschläge liegen eine aktive Industriepolitik, die die Transformation auch beschäftigungspolitisch gestaltet, und strategische Beteiligung der öffentlichen Hand in Schlüsselindustrien und Unternehmen auf dem Tisch. Auch auf Automatisierung und künstliche Intelligenz, was vor allem Jobs im mittleren Qualifikationssegment gefährdet, hat die Politik noch unzureichende Antworten gefunden. Die AfD mobilisiert dann schlicht Nostalgie, Abwehrreflexe und Ressentiments.

Zahlreiche Probleme, die in Umfragen aus Nordrhein-Westfalen als wichtig benannt werden, haben mit mangelnden Investitionen zu tun: marode Schulen und Lehrermangel, kaputte Straßen und Infrastruktur, miserabler Nahverkehr. Bei diesen Problemen reale Verbesserungen umzusetzen, kann kulturkämpferischen Ablenkungsmanövern den Wind aus den Segeln nehmen. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam. Hinzu kommen die roten Zahlen der meisten Kommunen in NRW, die Gestaltungsspielräume stark einschränken. Dass sich, egal welches Kreuz auf dem Wahlzettel, nichts wirklich ändert, ist ein maßgeblicher Grund für Politikverdrossenheit – und vermutlich auch für die Denkzettelwahl.

Man könnte nun sagen, dass es auf die paar AfD-Ratsherren in Nordrhein-Westfalen nicht ankommt. Allerdings wird die Rechtsaußenpartei und ihre Weltsicht über die kommunale Ebene viel stärker normalisiert als über ein entferntes Parlament wie den Bundestag. Der AfD-Stadtrat ist plötzlich der nette Onkel von nebenan, vielleicht ist man seit Jahren im selben Verein unterwegs. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass die Brandmauer zur CDU gerade auf kommunaler Ebene äußerst brüchig ist. In der Kommunalpolitik kann viel mehr durch das direkte Gespräch, persönliche Bekanntschaft und Sympathiewerte geregelt werden. Das ist das Beunruhigende.

SPD: Partei für Rentner?

Genau die von der AfD angestrebte gesellschaftliche Verankerung ist eine Ressource, von der die SPD trotz Erosionen bis heute zehrt. Nicht selten sind städtische Persönlichkeiten des kulturellen und sozialen Lebens, wie etwa Vereinsvorsitzende, SPD-Genossinnen und -Genossen. Zu lange hat sich die SPD auf diese Multiplikatoren und nostalgische Erinnerungen an alte Stärke in NRW verlassen, statt für die Zukunft neue Potenziale aufzubauen. Die Mitgliedschaft der NRWSPD ist im Durchschnitt um die 60. Dass die SPD entsprechend überdurchschnittlich Rentnerinnen und Rentner als Wähler erreicht, ist kein Fehler, allerdings fehlt ihr ein glaubwürdiges Angebot realer Verbesserung für die arbeitende Mitte und sozialdemokratische Erneuerung für die Jüngeren.

Die Grünen bleiben in ihrem urbanen und besser situierten Milieu zu Hause, verlieren stärker in der Peripherie als in den Großstädten. Ihre Hochburgen sind Münster und Köln. In der viertgrößten Stadt Deutschlands am Rhein befindet sich mit Berivan Aymaz eine grüne Kandidatin in der Stichwahl um das Amt der Oberbürgermeisterin. Die Grünen-Politikerin könnte die erste kurdischstämmige Person in diesem Amt in Deutschland werden. Dass die Grünen aus der rechten Bubble und der CDU ständig zum Feind Nr. 1 erklärt werden, hat sicher auch zu ihren Verlusten beigetragen. Die AfD geschwächt hat es jedenfalls nicht. Es bleibt spannend, wie lange die CDU auf diesem Irrweg beharren will.

Bei der Linken hätte man nach der Bundestagswahl vielleicht erwartet, dass sie stärker zulegen würde. Ihr fehlt allerdings die reale kommunale Verankerung, die über den Hype hinausgeht. Die Frage, welche kommunalpolitische Funktion sie hat, ist unzureichend beantwortet. Überdurchschnittlich häufig nennen Linke-Wähler das Thema Wohnen und Mieten als wahlentscheidend. Die Partei hat ihre besten Ergebnisse und merklichen Zuwächse in den Städten. Bis zur Landtagswahl könnte sie sich als die Mieterpartei profilieren.

Erosion der Sozialdemokratie

Wie bereits frühere Wahlen in Deutschland und anderswo zeigen, wählen die Frauen eher die Parteien links der Mitte, die Männer eher die rechten (laut Nachwahlbefragung von Infratest Dimap). Da die jüngere Generation gerne den Boomern die Schuld an allem Möglichen gibt, sei hier erwähnt, dass laut einer WDR-Umfrage vor der Wahl die AfD in der Generation der über 64-Jährigen lediglich drei Prozent Zutrauen für die Lösung kommunaler Probleme erfährt. Bei den 16- bis 35-Jährigen hingegen landet die AfD mit 15 Prozent knapp hinter der Union. Im fortgeschrittenen Alterssegment sind generell die alten Volksparteien CDU und SPD stärker, die Parteienbindung ausgeprägter. Das ist allerdings eine aussterbende Sicherheitsreserve, auf die man sich nicht ewig verlassen kann.

Zittern die demokratischen Parteien vor der braunen Gefahr, so senden sie damit die klare Botschaft: Mit einem Kreuz bei der AfD kann man dem Politikbetrieb so richtig Angst einjagen. Übernehmen die Unionsparteien weiter freudigst die politische Agenda der AfD, angeblich um sie kleinzuhalten, zeigt das den AfD-Wählern: AfD wählen wirkt. Sie müssen nicht mal regieren.

Es wäre nun die gänzlich falsche Reaktion auf die portionsweise Erosion der Sozialdemokratie in ihrer einstigen Herzkammer, dass diese auch noch in den Chor des rechten Agenda-Settings einsteigt. Nötig wäre eine soziale und demokratische Politik, die für die Mehrheit einen realen Unterschied macht – im Geldbeutel, bei den Lebensperspektiven und bei der Stimmung. Denn auch gefühlte Ängste vor dem wirtschaftlichen Abstieg sind reale Ängste, die konkrete politische Konsequenzen haben.

Daphne Weber ist Kulturwissenschaftlerin und hat über strategische Kommunikation in politischen Mobilisierungen an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Zurzeit arbeitet sie an einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung zu gewerkschaftlicher Kampagnenkommunikation der extremen Rechten

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