Die Deutsche Bahn hat in diesem Herbst mal wieder ihren eigenen Unpünktlichkeitsrekord übertroffen: Im Oktober lag die „Pünktlichkeit“ bei 51,5, im November bei 54,5 Prozent. Das heißt: Nur jeder zweite Zug gelangt rechtzeitig an sein Ziel, wobei ein Zug dann als pünktlich gilt, wenn er weniger als sechs Minuten Verspätung hat. Unsere Klassenlehrerin am Stuttgarter Dillmann-Gymnasium wäre da weniger großzügig gewesen.
Sieht man sich auf der Plattform X oder bei Facebook um, den Stammtischen unserer Zeit, fällt die Antwort meist eindeutig aus, wer verantwortlich sei für die katastrophale Bilanz: „Der Mehdorn war’s.“
Hartmut Mehdorn war von 1999 bis 2009 Bahnchef; ziemlich lang her. Mehdorn, so heißt es, habe die Bahn „kaputtgespart“, um das Unternehmen für einen Börsengang schön zu machen. Dabei sei die Infrastruktur auf der Strecke geblieben, was bis heute zu verrosteten Weichen und einstürzenden Brücken führe.
Bis heute im Staatsbesitz
Der Schuldspruch hat mir noch nie eingeleuchtet. Warum sollte ein marodes Unternehmen für potentielle Aktionäre attraktiv sein, die doch steigende Kurse und Dividenden erwarten? Ohnehin wird eine Kleinigkeit meist übersehen: Mehdorn hat die Bahn gar nicht privatisiert.
Sie ist bis heute zu hundert Prozent in Staatsbesitz, was man schon daran sehen kann, dass es Verkehrsminister Patrick Schnieder war, der jüngst Bahnchef Richard Lutz gefeuert hat und an dessen Stelle Evelyn Palla inthronisierte. Beim Daimler kann der Verkehrsminister nicht den Vorstand entlassen.
Kürzlich waren wir in Japan. Keiner unserer Freunde, die vor uns in Japan waren (eigentlich waren alle schon vor uns da), hatte versäumt, uns von dem berühmten Shinkansen vorzuschwärmen, jenem Hochgeschwindigkeitszug, der quer durch Japan braust und stets pünktlich sei. Wobei, wohlgemerkt, in Japan ein Zug schon dann als unpünktlich gilt, wenn er mehr als eine Minute von der geplanten Abfahrts- oder Ankunftszeit abweicht.
Disziplin und Gelassenheit
Tatsächlich trafen wir in Japan alles so an, wie man es uns beschrieben hatte: Die Schnellzüge gleiten auf die Minute in die Bahnhöfe ein. Dort warten die Fahrgäste in Reih und Glied genau vor jener Waggontür, die ihren reservierten Plätzen am nächsten ist. Lautlos steigen die einen aus, dann sieht das Bahnpersonal kurz nach dem Rechten, bevor wir lautlos einsteigen.
Und schon geht es fahrplanmäßig los. Disziplin und Gelassenheit der Fahrgäste sind jedenfalls mitverantwortlich dafür, dass der Bahnverkehr in Japan so reibungslos funktioniert. Könnten die Deutschen das auch lernen? Früher – „Preußen“, sagt man – waren sie für ihre Disziplin berühmt.
Dass es auch noch andere Dinge sein müssten als kulturell-habituelle Unterschiede, dämmerte uns, weil wir beim Umsteigen immer wieder von einem zu einem direkt angrenzenden anderen Bahnhof wechseln mussten. Wozu braucht man zwei Bahnhöfe nebeneinander? Klingt eher umständlich.
In Japan belebt Konkurrenz das Geschäft
Nachfrage bei der in aller Regel zuverlässigen Encyclopedia Britannica. Dort gibt es eine kleine Lektion in Bahngeschichte und ökonomischer Theorie. Die Japan Railway Group (JR) entstand 1987 aus der Zerschlagung und Privatisierung der Staatsbahn. Die nämlich war hoch verschuldet und ineffizient, also wurde sie in sieben private Firmen getrennt; sechs Personenverkehrsgesellschaften und eine landesweite Güterbahn.
Aha! Japan hat also jenes „neoliberale“ Programm durchgesetzt, das Hartmut Mehdorn hierzulande wollte, was ihm aber am Ende angesichts der Weltfinanzkrise 2008/9 nicht zuletzt von der SPD-Fraktion (!) im Deutschen Bundestag verwehrt wurde. Oder kurz gesagt: Nicht die Privatisierung ist verantwortlich für den Zustand der Deutschen Bahn, sondern die unterlassene Zerschlagung.
Der Shinkansen rast ungestört
Das ist nicht alles. Während es in Deutschland auf der Schiene wenig Wettbewerb gibt, belebt in Japan die Konkurrenz das Geschäft. Da kommt unsere Verwunderung über die beiden Bahnhöfe ins Spiel. Der Shinkansen fährt auf eigenen Hochgeschwindigkeitsstrecken, getrennt von langsamen Personen- oder Güterzügen. Die in Deutschland notorische Durchsage – „wegen eines vorausfahrenden Güterzuges müssen wir jetzt so langsam fahren“ – wäre in Japan nicht denkbar.
Der Shinkansen rast ungestört. Weil die Trassen mit Zäunen oder hohen Mauern abgesichert sind, gibt es auch fast keine Durchsagen, „wegen eines Personenschadens auf der Strecke“ sei der Zug auf unbestimmte Zeit zum Stillstand gekommen.
In Ballungszentren – Tokio, Osaka, Nagoya – konkurrieren mehrere Bahngesellschaften, die auf eigenen, parallelen Netzen unterwegs sind – oft teilweise überlappend in denselben Korridoren. Das hört sich kompliziert an, ist es aber nicht. Die Fahrgäste können vielerorts die verschiedenen Gesellschaften über einheitliche Chipkarten nutzen; die gebräuchlichste heißt Suica.
Die privaten Gesellschaften Japans wetteifern untereinander nicht nur bei Pünktlichkeit, Schnelligkeit und Sauberkeit. Die Bahngesellschaften sind mehr als nur Zugbetreiber. Sie sind integrierte Infrastrukturgesellschaften, denen auch Immobilien (zum Beispiel Bahnhöfe) gehören. Auch das merkt man.
Während ich deutsche Bahnhöfe nicht wirklich schnuckelig finde – ich denke an den Frankfurter Bahnhof oder den Bahnhof Zoo in Berlin –, sind japanische Bahnhöfe Orte, an denen Menschen sich gerne aufhalten. Man kann dort einkaufen, gut essen und trinken und Freunde treffen. Und alles ohne Stress. Denn niemand muss auf die Durchsagen achten, ob sein Zug verspätet ist oder auf Gleis 20 anstatt auf Gleis 7 abfährt. Oder am Ende ganz gestrichen wurde.
Privater Wettbewerb hat sein Gutes
Vor exakt zweihundert Jahren fuhren in England die ersten Eisenbahnen. Schnell gab es konkurrierende Gesellschaften mit eigenen Netzen, die die gleichen Städte (Liverpool–Manchester, London–Birmingham) verbanden. Später hieß es dann, die Bahn sei ein sogenanntes natürliches Monopol, müsse vom Staat betrieben werden und könne nicht dem Wettbewerb ausgesetzt werden.
Japan zeigt, dass die Gründerväter der Eisenbahn gar nicht so blöd waren. Privater Wettbewerb bei strenger staatlicher Aufsicht hat auch auf Schienen sein Gutes: Konkurrierende Bahnen haben Interesse an guter Infrastruktur, entwickeln verschiedene Ticketprodukte oder Taktungen.
Ein zweites oder gar drittes Schienennetz für Deutschland? Gute Idee, praktisch nicht realistisch. Das Geschrei („not in my backyard“) wäre groß. Und falls doch, würde es dauern. Die erste „Machbarkeitsstudie“ (schönes Wort) für Stuttgart 21 wurde 1995 vorgestellt. Vorletzte Woche, also dreißig Jahre später, weigerte sich die neue Bahnchefin, ein Datum für die Inbetriebnahme des Stuttgarter Bahnhofs zu nennen. Man wolle jetzt „keinen Schnellschuss“ abgeben. Na dann!