Kolumne Hanks Welt: Im Kaufhaus, dem Paradies welcher Damen

Warum meine Tante sagte, wir gingen zum Schocken, wo das Kaufhaus in der Stuttgarter Eberhardstraße doch den Namen „Horten“ trug, verstand ich nie. „Wir gehen zum Schocken.“ Als Kind fragt man nicht. Als Kind hatte ich gelernt: Wenn die Tante „Schocken“ sagte, dann meinte sie den „Horten“.

Als Erwachsener habe ich mir zusammengereimt, Schocken müsse wohl ein jüdischer Unternehmer gewesen sein, dessen Kaufhäuser von den Nazis enteignet wurden und irgendwann an den Herrn Horten gefallen waren. Und für meine Tante, die seit den Dreißigerjahren in Stuttgart lebte, wäre der Horten halt immer noch der Schocken. So hätte es sein können. Doch so war es nicht.

Nachdem ich jetzt die große Biographie des Nachkriegsunternehmers Helmut Horten der beiden Historiker Peter Hoeres und Maximilian Kutzner gelesen habe („Der Kaufhauskönig“), bin ich schlauer. Salman Schocken (1877–1959) und sein Bruder Simon (1874–1924) hatten Ende des 19. Jahrhunderts das große Potential erkannt, das das Geschäftsmodell Kaufhaus barg. Die mit dem „Au Bon Marché“ 1852 in Paris begonnene Erfolgsgeschichte der Kaufhäuser hatte den Einkauf, wenn nicht demokratisiert, so doch immerhin für den kleinen Geldbeutel erschwinglich werden lassen.

Die geniale Horten-Kachel

Wer wissen will, wie Kommerz und Marketing damals funktionierten, muss Émile Zolas Roman „Im Paradies der Damen“ („Aux Bonheur des Dames“), 1882 erschienen, lesen. Das Buch entführt uns in die schillernde Welt eines Pariser Warenhauses, beleuchtet Architektur, Interieur und Sozialgefüge der Angestellten, aber auch die Auswirkungen auf den gewachsenen Mikrokosmos der angrenzenden Stadtviertel.

Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Expansion der Brüder Schocken in größere deutsche Städte. Die ersten Kaufhäuser wurden in Stuttgart und Ingolstadt errichtet. Hier zielte man nicht mehr nur auf Arbeiter als Kunden. Es fanden sich in den Auslagen auch höherpreisige Waren. 1931 gab es über 30 Schocken-Filialen im Deutschen Reich. Das Stuttgarter Kaufhaus wurde 1928 von dem bekannten jüdischen Architekten Erich Mendelsohn gebaut. Das Gebäude war beeinflusst von Mendelsohns expressionistischem Architekturverständnis. Sein Design mit halbrundem gläsernen Treppenturm, Fensterbändern und Flachdach hob es deutlich aus dem gründerzeitlichen Stuttgart der Vorkriegszeit heraus.

Mit der Machtübernahme der Nazis änderte sich die wirtschaftliche Situation für die jüdischen Kaufhausbesitzer. Der Aufruf „Kauft nicht bei Juden!“ tat seine verheerende Wirkung. Von 1933 an trennte Schocken sich schrittweise von seinen Kaufhäusern und emigrierte zunächst nach Palästina, dann in die USA. Der Verkaufspreis der Häuser lag deutlich unter Marktwert.

Ein „Nutznießer“ der Arisierung

Nach dem Krieg, im Jahr 1949, erhielt Schocken 51 Prozent seines Konzerns zurück und legte all seine Energie in den Wiederaufbau der Warenhäuser. Das heißt: Nach dem Krieg war Schocken in Stuttgart tatsächlich wieder Schocken. Allerdings nur bis Anfang der Fünfzigerjahre, als Schocken sein Eigentum an Helmut Horten für 12,5 Millionen DM verkaufte. Was ihn zum plötzlichen Verkauf trieb, dazu finden sich laut Historiker Peter Hoeres keine Quellen.

Helmut Hortens Karriere wurde – wie die vieler Unternehmer des westdeutschen Wirtschaftswunders – in der Nazizeit grundgelegt. Als „Nutznießer“ der Arisierung war er kein ideologischer Nazi, aber profitgieriger Opportunist, der die Zukunft der Kaufhäuser erkannt hatte. Mit der Schocken-Übernahme wurde er mit einem Schlag einer der großen Spieler im Einzelhandel der frühen Bundesrepublik, mit zuletzt 29.000 Angestellten, 51 Warenhäusern und zwei Milliarden DM Umsatz. Im Ranking der großen Warenhäuser hielt er Platz vier nach Kaufhof, Karstadt und Hertie.

Als genial gilt die Erfindung der sogenannten Horten-Kacheln: ein stilisiertes „H“, erst aus Keramik, dann aus Aluminium, entworfen von dem Architekten Egon Eiermann. Zur Fassade der Kaufhäuser wurde eine Wabenstruktur dieser Kacheln, die den Zweck hatte, den Horten-Kaufhäusern ein einheitliches Erscheinungsbild zu verpassen. Horten forderte den Abriss des Mendelsohn-Baus, weil es darin keine Rolltreppen und keine Klimaanlage gab. In Stuttgart regten sich große Widerstände gegen diese „Verschandelung des Stadtbildes“. Letztlich setzte sich Horten durch, der Bau wurde 1960 abgerissen, der Eiermann-Bau wurde – geliebt und gehasst – zum Ausdruck des amerikanischen Konsumismus in einer „autogerechten“ Stadt.

Luxusleben dank Steuerschlupfloch

Erst von 1961 an, so kann man es sagen, war damit aus Schocken Horten geworden – und nicht schon in den Dreißigerjahren, wie ich fälschlich vermutet hatte. Für meine Tante blieb es aber bis zu ihrem Tod „der Schocken“.

Helmut Horten lebte von 1909 bis 1987. Nach Lektüre der Biographie von Hoeres und Kutzner war er ein ziemlicher Unsympath, aber klüger als René Benko. Rechtzeitig vor der ersten großen Krise der Kaufhäuser in den Siebzigerjahren hatte er Kasse gemacht, das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt und sich mit einem Milliardengewinn „unter legaler Ausnutzung eines Steuerschlupfloches“ (Peter Hoeres) ins Tessin abgesetzt, wo man ihn mit offenen Armen und niedrigen Steuersätzen aufnahm. Fortan widmete er sich seiner 32 Jahre jüngeren Frau Heidi, dem Kauf von Kunst, der 20.000 Hektar großen Jagd in der Steiermark (wahlweise auch in den Karpaten und in Afrika) sowie der erfolgreichen Vermehrung seines großen Vermögens. Eiserne Disziplin – der Arbeitstag begann um 6.30 Uhr und endete spät in der Nacht – hatte ihn groß gemacht. Jetzt erlaubte er sich, im Luxus zu schwelgen.

Die feineren Sachen kauften wir Stuttgarter natürlich nicht beim Schocken, sondern beim Breuninger. Da gab es sogar eine Abteilung, die hieß „Exquisit“, und später auch noch ein Schwimmbad auf dem Dach. Das ist alles lang her. Kaufhäuser braucht im Zeitalter von Amazon niemand mehr. Auch der Breuninger steht jetzt zum Verkauf. Unternehmerische Haudegen wie Helmut Horten, Georg Karg (Hertie), Josef Neckermann, Berthold Beitz (Krupp) findet man heute eher in Kalifornien. Horten habe viel erreicht, meinen seine Biographen: Er hat Mode und Stil für jedermann ermöglicht, die Kulinarik ins Warenhaus geholt und die Deutschen mit frischem Fisch versorgt. In seiner Branche sei er der Ehrgeizigste und in der langen Boomphase nach dem Krieg der Waghalsigste gewesen. Wie die Horten-Kachel die Fassaden der Kaufhäuser undurchsichtig machte, gestattete Helmut Horten keinen Einblick in sein Innenleben und vernichtete viele Spuren seiner Existenz.

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