Kolumbien: Der Friede liegt gen welcher Intensivstation

Als Diego Tovar, Deckname: Federico Montes, vor
fast neun Jahren seine Waffen niederlegte, glaubte er an die Chance auf
Frieden. Er war Mitglied der Farc, der damals größten Guerilla Kolumbiens, bis
deren Anführer mit der damaligen Regierung des Landes ein Friedensabkommen
schlossen. Von da an widmete Tovar sich der gewaltlosen politischen Arbeit. Sein
Ziel war es, das Abkommen zu verwirklichen.

Heute gehört er zu den Führungspersönlichkeiten
der Partei Comunes, die aus der Farc hervorging, und ist Mitglied der
Kommission
, die die Umsetzung des Abkommens in Kolumbien
kontrolliert. Alle drei Monate berichtet er dem UN-Sicherheitsrat über den
Stand der Dinge. Das Gremium unterstützt den Friedensprozess in Kolumbien
einstimmig – angesichts der gegenwärtigen Weltlage sei das etwas Besonderes,
sagt Tovar. „Man nennt Kolumbien auch den glücklichen Fall, denn er ist
der einzige, in dem die 15 Mitglieder des Sicherheitsrats sich einig sind, ganz
anders als zum Beispiel über die Krisen in Haiti, der Ukraine oder
Syrien.“

Doch in Kolumbien selbst eskaliert nun erneut die
Gewalt. Vom Friedensprozess ist nicht mehr viel übrig. Im Januar begann
die ELN in der Region Catatumbo an der nordöstlichen Grenze Kolumbiens zu
Venezuela eine Offensive gegen eine konkurrierende bewaffnete Splittergruppe
der Farc. Dutzende
Menschen starben
, Zehntausende flohen, Tausende waren in ihren
Dörfern von der Außenwelt abgeschnitten, weil bewaffnete Gruppen alle
bedrohten, die sich herauswagten. Im Februar blockierte die ELN die Region Chocó an der Pazifikküste. Tagelang
waren die Geschäfte geschlossen und der Verkehr lahmgelegt.

Ehemalige Farc-Guerilleros, die wie Diego Tovar
den Friedensvertrag unterzeichneten, leben in Gefahr. Im laufenden Jahr wurden laut dem Institut für Studien zu Entwicklung und Frieden (Indepaz) bereits dreizehn
von ihnen ermordet, dazu 32 lokale Führungspersonen, die sich für Menschenrechte und den Friedensprozess engagierten.
Und nicht nur in Catatumbo und Chocó: In vielen Regionen Kolumbiens kämpfen
bewaffnete Gruppen um die territoriale Kontrolle. Die Geschehnisse in Catatumbo
seien „die sichtbaren Zeichen dafür, wie sich das ganze Land
entwickelt“, sagt Solveig Richter, die als Politikwissenschaftlerin an der
Universität Leipzig zum kolumbianischen Friedensprozess forscht.

Das Ziel der Banden: möglichst große Gebiete zu
beherrschen, um über die Einnahmen aus den dort betriebenen illegalen
Geschäften – Drogenanbau und -handel, illegale Abholzung und Bergbau, Erpressung, die Ausbeutung von
Migranten – zu verfügen. Die illegalen Gewinne seien der Hauptantriebsfaktor
der Gewalt, sagt Richter. Statt zu schrumpfen, wurden die Koka-Anbauflächen in
den vergangenen Jahren immer größer. In manchen Regionen seien unter der
Kontrolle der bewaffneten Banden riesige Fincas (auf Koka-Anbau spezialisierte
Landgüter) entstanden, sagt Richter. „Die Kokainschwemme in Europa hat
auch damit zu tun.“

Ein beispielhafter Friedensvertrag

Als das Friedensabkommen zwischen Regierung und
Farc 2016 gelang, galt es in vielen Punkten als beispielhaft. Zu dem damaligen
Zeitpunkt hatte Kolumbien mehr als 50 Jahre bewaffneten Konflikt hinter sich, in
dem sich die ursprünglich linke Farc-Guerilla, rechte Paramilitärs, kriminelle Banden und das Militär gegenseitig bekämpften. Das Abkommen galt in
vielen Punkten als beispielhaft: Die Farc verpflichtete sich, die Waffen
niederzulegen, und erhielt im Gegenzug die Chance, sich im Parlament politisch
zu engagieren.

Ihre Mitglieder wurden bei der Rückkehr ins
zivile Leben unterstützt, zugleich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die
Menschlichkeit

– Völkermord, Entführungen, Vergewaltigungen, Folter, Morde, das Verschwindenlassen
von Menschen, die Rekrutierung von Minderjährigen – juristisch verfolgt werden.
Eine Kommission sollte die Wahrheit über die Geschehnisse im Bürgerkrieg ans Licht
bringen, die Opfer umfassend entschädigt werden. Die Rechte von Frauen,
indigenen und schwarzen kolumbianischen Gemeinschaften wurden im Abkommen besonders
berücksichtigt. Eine Bodenreform sollte die Wurzeln des Konflikts beseitigen.

Viele Länder
unterstützten den Prozess, unter ihnen auch Deutschland. Doch schon damals
weigerten sich kleinere Splittergruppen der Farc, dem Abkommen beizutreten.
Andere bewaffnete Gruppen – ehemalige Paramilitärs, Drogenbanden, die kleinere
Guerilla ELN – waren von vornherein ausgeschlossen.

Ein Krieg um Territorien und Drogengeld

Nach dem Friedensschluss 2016 sollte die legale Wirtschaft
in den Regionen gezielt entwickelt werden, um die illegalen Geschäfte zu
verdrängen. „Das wäre die Voraussetzung dafür gewesen, dass der bewaffnete
Konflikt nicht mehr zurückkehrt“, sagt der Konfliktforscher und Indepaz-Direktor
Leonardo González Perafán. Doch das Gegenteil geschah. Durch den Rückzug der
Farc entstand in vielen Regionen ein Vakuum, das der Staat nicht schnell genug
füllte – weder durch die Entsendung von Polizei oder Militär noch durch den
Bau von Straßen, Schulen oder Krankenstationen noch durch die Förderung
wirtschaftlicher Alternativen zum Drogenanbau.

Deshalb breiteten sich in den vergangenen Jahren Gruppen wie
die ELN-Guerilla und das Drogenkartell Clan del Golfo immer weiter aus. Beide
verfügen über mehrere Tausend bewaffnete Kämpfer. Hinzu kommen Splittergruppen
der Farc und kleinere lokale Banden, beispielsweise in Städten wie Medellín und
Buenaventura. Anders als früher, als die hierarchisch organisierte Farc in den
von ihr kontrollierten Gebieten für eine gewisse öffentliche Ordnung sorgte,
gebe es heute „praktisch auf jeder lokalen Ebene unabhängige gewalttätige
Gruppen“,
sagt Friedensforscherin Richter. Und anders
als ihre Vorgänger hielten sich die neuen Kommandeure auch nicht immer an
humanitäre Grundsätze. Für
die Zivilbevölkerung ist die Lage deshalb oft unübersichtlicher und
gefährlicher als zuvor.

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