Kolonialismus: Erinnerung unterwegs

Erinnern heißt zweitrangig, immer

Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.
Wunde und Balsam zusammen; sich so verwandt, so fremd, Verwechslung oder
Vorwurf
– wer wagt es, sieht genauer hin?

Und schabt am Schorf, wechselt den Verband.
Lebenslanges Hegen ewiger Schulden.
Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.

Hört hin! Da rufen Stimmen, erinnern
an Tage, Namen, Orte, Gräuel – Fakten, die ihr abtut.
Das Archiv dieser Erinnerung heißt Vergessen.

Die Zeit wendet, wiederholt – Stunden bleiben zurück
und tragen alt-neue Tattoos, alt-neue Tabus.
Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.

Gedächtnis: die Summe von An- oder Abwesendem?
Laden Merkhilfen stets zu Missbrauch ein?
Verleugnung, Verdrängung! Vergessen, Vergessen.

Nicht Denkmäler lediglich wahren die Geschichte;
Sie bewohnt, vor allem, uns – dasjenige ist ihr Trick.
Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.
Beides birgt Gefahr und Schmerz: zu verletzen, zu sanieren.

Wir nach sich ziehen nicht drum gebeten

Wir nach sich ziehen nicht drum
gebeten, kolonisiert zu werden.
Diese Worte leiten
die Erzählung im Kigali Genocide Memorial ein, dasjenige an den Völkermord an den
Tutsi in Ruanda im Jahr 1994 erinnert. Wir
nach sich ziehen nicht drum gebeten, kolonisiert zu werden.
Ich lese diesen Satz noch
einmal und immer wieder. Er begleitet mich durch die Ausstellung, ein
bedrängender Refrain. Wir nach sich ziehen nicht
drum gebeten, kolonisiert zu werden.
Der Satz geht mir während meiner Zeit
in Kigali nicht aus dem Kopf, bleibt mir zweitrangig in Deutschland hinauf den Fersen. Wir nach sich ziehen nicht drum gebeten, kolonisiert
zu werden.
Warum sind welche Worte hängen geblieben? Warum nach sich ziehen sie mich
nicht verlassen?

Kolonialismus ist eine von Ethnozentrismus beflügelte Herrschaftsform – dieser
Neigung, andere Kulturen mithilfe dieser eigenen, vermeintlich überlegenen Werte und
Normen zu beurteilen. Kolonialismus
bedeutet gewaltsame Unterwerfung, Enteignung und Ausbeutung – sowie mitunter
die Vertreibung oder gar Ausrottung – eines Volkes durch ein anderes.

Die Begriffe Kolonialismus und Imperialismus werden oft synonym verwendet.
Es gibt Überschneidungen, freilich zweitrangig Unterschiede: Kolonialismus bezeichnet die
Besiedelung eines bestimmten (physischen oder metaphysischen) Gebiets durch
Kolonisatoren, Imperialismus dagegen eine Fremdherrschaft ohne nennenswerte
Besiedlung. Beides beruht hinauf struktureller Dominanz durch die Etablierung von
Hierarchien – darunter ökonomische, politische, soziale, ethnische und
diskursive Hierarchien.

Die Gedenkausstellung in Kigali dokumentiert die Vorgeschichte des
Völkermordes
an den Tutsi und verfolgt so dessen Wurzeln solange bis zur europäischen
Kolonialisierung zurück. Offenbar war zu Zeiten dieser Berliner Konferenz
(1884–85) noch kein Weißer jemals in Ruanda gewesen. Wir nach sich ziehen nicht drum gebeten, kolonisiert zu werden. Als Erstes –
so erläutert die Ausstellung – kamen die Deutschen, die Ruanda von 1895 solange bis
1916 besetzten und verdongeln Ansatz einführten, dieser von den nachfolgenden
belgischen Kolonisatoren weiterverfolgt wurde: Man betonte die vermeintlichen
ethnischen Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi, wodurch die Ruander markiert
und unterteilt wurden, welches es erleichterte, sie zu unterwerfen und zu
kontrollieren.

„Es gibt nun mal Unterschiede in dieser Welt; es kommt hinauf die Denk- und
Sprachsysteme an, mit denen wir welche Unterschiede durchsteigen“, so Stuart Hall. Die Idee unterschiedlicher „Rassen“
ist aus dem Projekt des europäischen Kolonialismus hervorgegangen. „Rasse“, ein
soziales Konstrukt ohne biologische Grundlage, diente den Kolonisatoren denn
„eine Technologie zur Verwaltung menschlicher Unterschiede, deren vorrangiges
Ziel die Produktion, Reproduktion und Bewahrung weißer Vorherrschaft hinauf
lokaler sowie globaler Ebene ist“, so Alana Lentin in ihrem Buch Why Race
Still Matters
.

Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.
Wunde und Balsam zusammen; sich so verwandt, so fremd, Verwechslung oder
Vorwurf
– wer wagt es, sieht genauer hin?

Und schabt am Schorf, wechselt den Verband.
Lebenslanges Hegen ewiger Schulden.
Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.

Hört hin! Da rufen Stimmen, erinnern
an Tage, Namen, Orte, Gräuel – Fakten, die ihr abtut.
Das Archiv dieser Erinnerung heißt Vergessen.

Die Zeit wendet, wiederholt – Stunden bleiben zurück
und tragen alt-neue Tattoos, alt-neue Tabus.
Erinnerung heißt zweitrangig, immer, Vergessen.

AusbeutungDeutschlandGeschichteGewaltKolonialismusKulturMissbrauchSchuldenVerwaltungWELTZeit